Ausschlaggebend ist fast immer die Natur in Ulrike Bails Gedichtband Die Empfindlichkeit der Libelle, der in der ersten Jahreshälfte bei Éditions Phi erschienen ist. Kalter Wind am Meer, Nadelwälder, eisiger Wintereinbruch. Der Band enthält in der Regel sehr knappe Texte (die meisten um sechs kurze Verse), die die Autorin in fünf thematisch jeweils zusammenhängende Abteilungen oder Zyklen gruppiert. In allen findet sich der Abdruck einer in Sprache übersetzten Sensorik, ein Drang zu Konkretion und Unmittelbarkeit bei der Wiedergabe von Sinneseindrücken. Bail scheint dabei einer Art phänomenologischem Credo zu folgen, als stünde mit jedem Text das poetische Verfahren erneut auf dem Spiel: Wie begegnet die Welt in dem Augenblick, den der Text sprachlich verdichtet, und was ist die Welt in dem Augenblick dem, der sie ansieht?
Oft ist der Betrachter in diesen Gedichten als Dichter (bzw. Dichterin) zu erkennen, etwa in „meerfluchten“, wo es heißt: „mit salzrissigen lippen/ sich niederlassen jenseits/ der küstenlinie spiegelt ein/ papierener himmel blau“. Sich also hinsetzen („niederlassen“) vor dem Panorama wie vor einem blau beschriebenen Blatt: In der Naturbeobachtung wird aus dem Gegenstand der Beobachtung, dem Himmel über dem Meer, eine Spiegelung der Schreibunterlage des Schriftstellers. Bails Wortschöpfungen – wie dieses „salzrissig“ – benennen treffsicher und genau; sie nehmen sich oft wie natürliche Ergänzungen des Wörterbuchs aus. Wo der Betrachter subtil durch eine Pars pro toto angedeutet wird (wie hier durch die vom Meerwind rau gewordenen Lippen), werden die Texte leicht zu Projektions- oder Identifikationsflächen für die Vorstellung des Lesers. Das ist auch der Fall in den wenigen Liebesgedichten, die sich ohne weiteres als universale „ich und du“-Konstellationen lesen lassen. Vor allem aber trifft es auf die Gedichte zu, in denen der Blickpunkt gar nicht näher umrissen wird, sondern ganz in der Beschreibung der Phänomene aufgeht. So erfasst der Text „ausgebeint“ in wenigen Worten die desolate Stimmung, in die einen die Betrachtung einer entkernten Wohnung versetzen kann – ohne den Betrachter oder seine Gefühlslage explizit benennen zu müssen: „abgezogen von den wänden/ hinausgeschafft drei mulden/ sortiert nach holz papier zement/ an der klingelschnur hängt - - / wenn es still wird/ der staub in die ritzen/ zurückkehrt“.
Etwas weniger leicht fällt der Zugang zu den Gedichten, in die Bail mit „sie“ und „er“ Perspektivfiguren einführt. Das lässt sich beispielsweise im dritten Teil des Bandes beobachten, der die Rückkehr in eine altvertraute Umgebung beschreibt, in ein „mutterland“ (S. 26), das kein Zuhause mehr ist. Im Zusammenhang zeigen sich narrative Ansätze, ein irgendwie widerwilliges Nachhausekommen, ein Erinnern an Dinge, die erst freigelegt werden müssen. Dass die Eindrücke einer Perspektivfigur („sie“) zugeschrieben werden, hält den Leser auf Distanz; die entsprechenden Texte haben es schwerer, ihn wirklich für sich einzunehmen.
Bemerkenswert, insbesondere angesichts der Kürze der Texte, ist das offensichtliche Bestreben der Autorin, die Aufmerksamkeit des Lesers durch die Machart der Texte festzuhalten. Rein sprachlich schafft schon die Abwesenheit von Großbuchstaben und Interpunktion Ambiguitäten, die erst eine konzentrierte Lektüre auflösen kann. Ähnlich verhält es sich mit einer Unterteilung in Verse, die nicht mit der syntaktischen Ordnung übereinstimmt. Es liegt am Leser, sinnvolle Zuordnungen zu schaffen und zu erkennen, wo neue Gedanken ansetzen. Die Lektüre gestaltet sich so anspruchsvoller, als ein erster Blick ins Buch vielleicht vermuten lässt.
Thematisch aus der Reihe fällt der fünfte Teil des Buches, auch wenn Bail hier dasselbe poetische Verfahren der phänomenologischen Genauigkeit und Konkretion anwendet. Unter dem Titel „zählt fünf brunnen fünf“ (eine Anspielung auf Cinqfontaines) vereint Bail neun Gedichte, die sich mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust befassen. Wo die restlichen Texte sich auf Erfahrungen und Eindrücke beziehen, die in ihrer Einfachheit zeitlos scheinen, wirken diese historisch verankerten Gedichte wie Fremdkörper in einem ansonsten sehr konsistenten Band. Sie wären in einem späteren Buch mit anderer thematischer Gewichtung vielleicht besser aufgehoben gewesen.
Schön ist dennoch eine Poesie, die – statt mit wilden Metaphern aufzutrumpfen – selbst dort noch um das genaue Wort ringt, wohin man ihr kaum mehr folgen kann.