„Ech wëll keen Opfer sinn“ – so lautet die Devise des Protagonisten in Roland Meyers neuem Roman. Telmo ist zwölf Jahre alt, ein sehr schlechter Schüler und Regelbrecher erster Güte. Sein Vater hat die Familie verlassen, um nach Portugal zurückzukehren, seine Mutter wirkt meistens überfordert und kümmert sich eher nebenher um ihn. Ihren neuen Partner verabscheut Telmo von Herzen. So richtig kümmert sich niemand um den Jungen. Zusammen mit seinen Freunden Diogo und Rafael macht er den Schulhof unsicher und terrorisiert wahlweise das Lehrpersonal, den Busfahrer und seine Mitschüler. Zwar bemüht sich die Schulpsychologin, Telmos Verhalten in geregelte Bahnen zu lenken, aber ihre Smiley-Methoden entpuppen sich angesichts der Orientierungslosigkeit des Jungen als vollkommen lächerlich.
Telmo ist ein Opfer, wie es im Buche steht – ein Opfer von Umständen, die er nicht kontrollieren kann, ein Opfer fehlender familiärer Zuwendung, ein Opfer auch des luxemburgischen Bildungswesens. Alles, was Telmo unternimmt, um seiner Opferrolle zu entkommen und sich „Ehre“ zu verschaffen, bestätigt diese Rolle nur: seine Unfähigkeit, Schwächen zu zeigen, seine aggressive Art der Konfliktlösung, sein Vertrauen in die Bilderwelten der Hip-Hop-Kultur und der Pornographie. Die Mischung aus Stumpfsinn und unreflektierter Rücksichtslosigkeit, mit der Telmo sich Schwierigkeiten vom Hals schafft, stellt ihn im Spektrum der jugendlichen Roman- und Filmhelden eher auf die Seite einer Dawn Wiener (Welcome to the dollhouse) als eines Maik Klingenberg (Tschick), also eher auf die Seite der Romanhelden, die nichts Heldenhaftes und kaum Sympathisches an sich haben. Über Telmo kann man nicht lachen und man kann ihn nicht bewundern. Oft kann man die Beweggründe der Figur nicht einmal wirklich verstehen: Telmo reflektiert seine Handlungen oft gar nicht – dass er beispielsweise seinen Zimmernachbarn im Krankenhaus tötet, weil ihn dessen Gejammer stört, fällt ihm offenbar nicht einmal auf. Ob Telmos Mangel an Einsicht von einem Mangel an Empathie herrührt oder daher, dass keine äußeren Konsequenzen ihn zum Nachdenken anregen, bleibt offen.
Meyer legt dem Roman einen paradoxen Erzählakt zugrunde: Telmo ist zwar portugiesischer Abstammung, spricht aber kaum Portugiesisch. Er weiß auch auf Luxemburgisch oft nicht, wie er seine Gedanken verbalisieren soll. „Ech kann net gutt schwätzen“, sagt Telmo. „Dann halen ech léiwer de Mond.“ – Meyer spricht hier für eine Figur, die eigentlich keine eigene Stimme hat und verweist damit nicht nur auf die Ungerechtigkeiten, die einen Telmo in der Luxemburger Gesellschaft möglich machen, sondern auch auf den bestürzenden Mangel lusophonischer Stimmen im Luxemburger Literaturbetrieb.
Nach seinen etwas faden satirischen Programmen über die luxemburgische Grundschule nutzt Meyer für dieses Buch seine Erfahrung als Pädagoge, um das – nicht nur für Luxemburg wichtige – Thema von Migration und Integration anzusprechen. Die Stärke des Romans besteht in der Wahrhaftigkeit der beschriebenen Situation. Als Pädagoge kennt Meyer die Umstände, in denen manche Kinder frühzeitig jegliche Aussicht auf sozialen Erfolg verlieren. Bemerkenswert ist auch das Spiel des Autors mit dem Vorurteil des Lesers: Insbesondere die Figur des Stiefvaters ist so angelegt, dass der Leser – beeinflusst von Telmos Ablehnung – dazu verleitet wird, die Fehlstellen in der Beschreibung mit abgeschmackten Klischees zu füllen, die sich am Ende als unzutreffend erweisen.
Das Buch hat zwei größere Schwächen, gesetzt, man stört sich weder an der provozierenden Naivität des Protagonisten, noch am appellativ-pädagogischen Charakter des Textes. Die erste besteht in der Sprache, in der Meyer Telmo seine Geschichte erzählen lässt. Das Problem, dass imitierte Jugendsprache schal und abgeschmackt wirken kann, umging Wolfgang Herrndorf in seinem Erfolgsroman Tschick mit einer fingierten Jugendsprache (die nicht deren Ausdrucksweisen benutzte, sondern nach ähnlichen Prinzipien ein eigenes Idiom entwickelte). Meyer entscheidet sich demgegenüber für eine wenig glaubhafte Mischung von mit portugiesischen Kraftausdrücken durchsetzter Jugendsprache („krass“, „Opfer“, „fodes“) und einer gehobenen Literatursprache, die etliche Ausdrücke enthält, die ein Telmo gar nicht kennen würde („bläeren wéi d’Waldieselen“, „déi domm Louder“, „sech esou séier wéi de Blëtz iwwert d’Huttschnouer maachen“).
Die zweite Schwäche besteht in einer Erzählweise, die den Text an entscheidenden Stellen unfertig wirken lässt. Dazu gehört, dass sich Überlegungen in Telmos Gedanken einschleichen, die seiner Gedankenwelt kaum entspringen können: Ihm fällt etwa auf, dass die Lehrerin vom „Funktionieren“ der Schüler spricht, als wären sie Maschinen; auch versteht er auf Anhieb die Metaphorik eines Traums, bei dem er auf einen Zug wartet, der nicht kommt und so weiter. Vielleicht ist es dem pädagogischen Drall des Textes geschuldet, dass er an genau der Stelle abbricht, an der der Konflikt interessant wird, als sich nämlich Telmo zum ersten Mal den Konsequenzen seines Handelns stellen muss. Dass die Erzählung hier abgewürgt wird, belässt Telmo in genau der Rolle des Opfers, aus der er auszubrechen versucht. Ob ein Telmo überhaupt etwas anderes sein kann, lässt das Buch damit unbeantwortet.