„Wie verändert die Krankheit den Blick auf sich selbst? Und den der anderen? Und den auf die anderen?“, fragt Georges Hausemer, fast nebensächlich, in einem kurzen Eintrag seines Blogs Ich und mein Tumor. Dabei steht diese Frage nicht nur im Zentrum von Hausemers ganz persönlichen und intimen Aufzeichnungen – Auszüge und Eindrücke seines Lebens nach der Diagnose Krebs –, sondern charakterisiert vielmehr das Genre des Krankheitserzählungen (illness narratives) im Allgemeinen. Ob Paul Kalanithis Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit im Bestseller When breath becomes air oder Nancys philosophische Abhandlung seiner Herztransplantation, L’Intrus: All jene Werke, die sich mit der eigenen Krankheit oder Sterblichkeit befassen, erzählen vom Suchen (und Finden?) der eigenen Identität, die durch die Krankheit radikal in Frage gestellt wird. Wer bin ich, wenn meine Krankheit das vereinnahmt, was mich ausmacht? Ist die Krankheit ein Teil von mir oder ein Eindringling?
Auch in George Hausemers Tumorblog werden diese Fragen immer wieder, mal direkter, mal indirekter, gestellt. Zwar macht der Schriftsteller wiederholt deutlich, sein Tumor möge zwar ein Teil seines Lebens sein, dieses sei jedoch nicht auf den Tumor reduzierbar, doch lässt sich die Krankheit nicht ausklammern. Arztbesuche, Blutabnahmen und regelmäßige Spritzen werden zur Routine und Hausemer ein alter Bekannter in der radiologischen Abteilung (dem „Bunker“, wie Hausemer ihn nennt), der nach und nach herausfindet, wie der Krankenhaushase läuft.
Vor allem aber das Sammeln und Aufzeichnen von schier endlosen Werten scheint den Schriftsteller nicht loszulassen: Blutdruck, Kreislauf, Temperatur ... immer wieder wird der Text von solchen Zahlen durchbrochen. Zahlen, die auf die Kluft zwischen Person und Patient hindeuten. Im Krankenhaus zählen weder Persönlichkeit, Lebenserfahrung, noch Interessen. Hier ist man nicht Schriftsteller oder Reisender, hier ist man Patient. Man wird untersucht, gemessen und gibt die Kontrolle über seinen Körper ab. An Ärzte und Schwestern, von denen Symptome und Diagnosen in unverständlichem Kauderwelsch diskutiert werden.
Hausemer selbst versucht sich unterdessen fortwährend von seinem Tumor zu distanzieren. Die Kluft zwischen Georges Hausemer, dem Menschen, dem Schriftsteller, und Georges Hausemer, dem Krebspatienten, besteht demnach nicht nur in der Sphäre des Krankenhauses, sondern zerreißt auch den Autor. So schreibt er von sich in der dritten Person, sobald es um den Krebs geht („der Patient“), wiederholt wie in Trance die zungenverdrehenden Namen von Medikamenten und Diagnosen und zählt lieber auf, was um ihn herum passiert, als in ihm. Oft hat der Leser den Eindruck, dass Hausemer sich auf alles konzentriert, mit Ausnahme seiner Krankheit. Und doch, so weit er auch reist, so sehr er ihr auch zu entkommen versucht, sie holt ihn immer wieder ein. Eine Erkältung wird zum Alarmzeichen, Muskelkater zum düsteren Vorboten. „Kein Tag ohne bange Fragen, sogar die unkomplizierten, die leichteren.“
Inmitten dieser Erfahrungen muss die Frage nach dem eigenen Ich neu gestellt werden. Bei Georges Hausemer geschieht dies auf eine sehr subtile Weise. Sein Weg mit der Krankheit umzugehen ist die der stillen Rebellion, die sich ganz um seine Existenz als Reisender und Schriftsteller, oder reisender Schriftsteller, dreht. „Du kannst mir das Leben schwermachen, doch du kannst mir die Freuden, die mich ausmachen, nicht vermiesen“, scheint er seinem Tumor trotzig entgegenzurufen. In der Tat sind Lesestoff und Notizbuch immer griffbereit – auch im Bunker. Für „ein paar flüchtige Notizen“ ist immer Zeit, zwischen Blutabnahme, CT oder Radiotherapie. „Muss weiterscheiben, weitermachen“, notiert Hausemer. Das Schreiben ist wie ein Anker inmitten der fragmentierten Existenz und es scheint nebensächlich, worüber Hausemer schreibt. Sein Blog ist kein Tagebuch, eher eine Aneinanderreihung flüchtiger Eindrücke. Literaturtipps und -kritiken wechseln sich mit Beschreibungen flüchtiger Begegnungen im Klinikaufzug oder Eindrücken von Hausemers letzten Reisen ab. Denn auch das Reisen lässt sich der Autor nicht nehmen. Genauso wenig wie das Verschlingen, Genießen und Zitieren aus literarischen Werken. Schreiben. Reisen. Menschsein. Das Leben ist zwar ein Leben mit Tumor, besteht aber nicht aus dem Tumor, geht klar aus Ich und mein Tumor hervor. „War in der Oper, las in der Sonne, lag am Strand, habe mich von Kamelen anhauchen lassen, neues Handy bekommen.“ Zwar verändert ihn die Krankheit, und Hausemer zeigt sich erstaunt darüber, wie viele Dinge ihn nicht mehr interessieren, doch das Wesentliche verändert sich nicht. Dem Tumor entgegensehen, „ … während ich schreibe – und lese, lebe“, ist Hausemers Credo.
Es drängt sich die Frage auf, für wen, dieser Blog? Wenn es eine Schreibübung zur Verarbeitung der Diagnose ist, wieso dann in Blogform? Wieso öffentlich? Klar ist, diese Art des Schreibens kommt dem Autor zugute, ist die Aufzeichnung von Impressionen und Eindrücken doch eine Stärke des Schriftstellers. Das Schreiben über die eigene Krankheit ist indes ein mutiger Schritt, insbesondere in einer Gesellschaft, in der Krankheit und Sterben marginalisiert und wenig thematisiert werden. Die eigenen Erfahrungen zu teilen, kann nicht nur anderen Mut machen, sondern zeigt auch, dass man damit nicht allein ist. Wichtig ist in diesem Kontext, dass Hausemer kein „triumph narrative“ vorlegt. Es geht nicht darum zu zeigen, wie man die Krankheit besiegt, genauso wenig, wie es darum geht, sich selbst zu bemitleiden. Es geht vielmehr darum, zu vermitteln, dass das Kranksein zum Leben dazugehört. Ich und mein Tumor, ich mit meinem Tumor, Ich trotz meines Tumors, so die Nachricht an die Leser.