Durch Landschaften rasen, gepfändet vom Herbst, linkerhand ein Traktor auf weiter Flur, ermattet von der letzten Ernte, angerostet vom haltlosen Regen. Der Rest ist Strich, Farbe, Geschwindigkeit. Es wäre eine Szenerie, die auch dem Dichter Tom Nisse gefallen würde. Während der Zug Berlin entgegenprescht, liegen dessen Bücher auf einem dieser klapprigen Tischchen vor mir. Und im Gedicht Camarades lese ich: „La chute d’une feuille / de la lumière d’un arbre / ressemble à l’ombre / d’un papillon qui meurt.“
Zwischen Mitte September und Mitte November wohnte und arbeitete der in Brüssel lebende Lyriker in Berlin. Ihm wurde das Aufenthaltsstipendium zugewiesen, das jährlich vom Fonds culturel national und den Lëtzebuerger Bicherfrënn vergeben wird. Nach Nora Wagener und Jeff Schinker ist Nisse der dritte Schriftsteller aus Luxemburg, der im LCB, dem Literarischen Colloquium Berlin, die Autorenresidenz wahrgenommen hat. Es ist eine weithin renommierte Institution, die etwas außerhalb der Metropole, am hoffnungslos verkitschten Großen Wannsee, liegt. Lesungen, Gesprächsabende, Verlagsfeste, Schreibwerkstätten – in der Gründerzeitvilla mit ihrem zum See abfallenden Wiesenhang wird Literatur in vielfältiger Weise betrieben, gefördert und gefeiert.
Tatsächlich ist der Wannsee ein trächtiger Ort, beladen mit Geschichte, überlagert von der ganz eigenen Schwermut einer starken historischen Prägung. Von seinem Zimmer aus sähe man bei gutem Wetter die Villa, in der die Wannseekonferenz stattgefunden habe, sagt Nisse, nachdem er kurz durch das Haus geführt hat. Er deutet mit der ausgestreckten Hand aus dem Fenster, am laubarmen Baum vorbei, in den Nebel hinaus. Irgendwo am jenseitigen Ufer waren im Januar 1942 hochrangige Politiker und Militärs zusammengekommen, um die sogenannte Endlösung der Judenfrage zu koordinieren. Wäre es Sommer, wir könnten hinüberrudern. Geschichte ist immer gefährlich nah. Diese Unumstößlichkeit ist auch dem Werk von Tom Nisse eingeschrieben.
Die deutsche Hauptstadt bereist der 1973 geborene Autor seit etwa zehn Jahren regelmäßig. Durch Übersetzungs- und Performance-Projekte hat er Kontakte zur Lyrikszene geknüpft, unter anderem zu Monika Rinck und Ann Cotten, die zu den profiliertesten Autorinnen ihrer Generation gehören. Er kennt den Punk- und Underground-Dichter Bert Papenfuß-Gorek, kennt die anarchistische Szene des Prenzlauer Bergs und findet dort das deutschsprachige Pendant zu einer subkulturellen Brüsseler Literatur- und Musikszene, der er sich mit seinem Schaffen seit Mitte der 90-er Jahre zugehörig fühlt.
Die Schriftsteller, die sich um die Autorenresidenz bewerben, müssen ihren Dossiers eine Projektskizze beilegen, die sie während ihrer Zeit in Berlin voranbringen möchten. Nisse berichtet, dass er bis auf einige Gedichte („Les poèmes de la villa“) ununterbrochen an einer Erzählung über Zenzl Mühsam, die Frau des anarchistischen Dichters und Publizisten Erich Mühsam, geschrieben habe. In deren Biographie bündeln sich die Gräuel des vergangenen Jahrhunderts: unbeschwerte Bohème-Jahre im Münchner Künstlerviertel Schwabing, Mitgestaltung der Räterepublik in München, die Ermordung ihres Mannes durch die Nazis, die Flucht nach Prag, dann nach Moskau, schließlich das Dahinsiechen im Gulag sowie letzte verarmte Jahre in der DDR. Seit Jahren habe Nisse Recherchen bezüglich dieses Herzensprojekts angestellt. Derlei zu schreiben, sei gerade jetzt wichtig. Ein erneuter Blick aus dem Fenster ist nicht vonnöten. Wir wissen, was in der Luft liegt.
Begehung und Begegnung
Zuletzt ist im Sommer diesen Jahres bei Hydre Éditions die Prosaarbeit Une vérification de l’origine erschienen. Auf knapp sechzig Seiten werden hier Erkundungen unternommen – Schritt für Schritt werden Zeiten und Räume durchwandert. Es ist sowohl eine Begehung der Viertel Limpertsberg und Belair wie auch eine Begegnung mit der dort verbrachten Jugend.
Eigentlich hätte das Buch, erzählt Nisse, ein Geschenk für die Eltern sein sollen, eine private Geste, nicht bestimmt für die lesende, urteilende Öffentlichkeit. Auch hieraus zieht der schmale Text seine Stärke: zutraulich, ja, verletzlich zu sein im Sehen, Sprechen und Schreiben, unumwunden sich selbst zu meinen, ohne Finte und Ironie. Zugleich ist das Buch stilistisch so sauber gearbeitet, so treffend formuliert, dass die Gültigkeit des Geschriebenen wächst – über das Biographisch-Familiäre hinaus: „Ma grand-mère a vécu une guerre atroce qui a détruit beaucoup de ceux qui en sont sortis vivant, l’horreur fonctionnant à retardement. C’est cette guerre qui a permis l’avènement de la dictature de la marchandise et la bassesse d’esprit actuelles. Ma grand-mère n’a jamais été revoltée mais elle a toujours respecté la révolte.“
An anderer Stelle ist in der Vérification von der „révolte sémantique“ die Rede, die er als Autor im Dauervollzug des Schreibens unternähme. Im Essay „Reprises de positions“, in dem Nisse über sein Werk und Kunstverständnis Auskunft gibt, spricht er wiederum von der „insoumission sémantique“, die seiner Literatur innewohne. Und während draußen der Nebel vorüberkriecht, sprechen wir rasch über Literatur und Engagement, darüber, wie man aus der Abgeschiedenheit, in der jeder Schriftsteller hockt, der Welt entgegengeht, wie man durch Verse gesellschaftlich mitmischt und politisch eingreift. Dem erwähnten Essay ist nicht umsonst ein Ausspruch von Serge Pey vorangestellt: „Avec ce que tu fais de ta langue je te dirai ce que tu fais de ta société.“
Auf weniger als 20 Kilometer Fluglinie liegt der Bundestag, in den vor einigen Wochen eine rechtsextreme Partei mit dreizehn Prozent der Wählerstimmen Einzug gehalten hat. Nichts wäre einfacher, nichts billiger, als sich weltabgewandt zurückzuziehen und selbst einzumotten. In der Vérification ist davon die Rede, dass schon der pubertierende Junge „lucidement pessimiste“ gewesen sei. Und im Gedichtband Extraire, der letztes Jahr im belgischen Verlag L’arbre à paroles erschienen ist, heißt es: „et c’est à tout moment le moment / pour le deuil de ceux qui vont naître après / et là-dedans dans cet univers détraqué / gris et oblique là-dedans on aimera / on aura faim et pas d’enfants.“ Ist das die letztgültige Haltung, die wir einnehmen sollen? Gerade heute, gerade jetzt? Der finale Modus unserer Denke, die letzte Entwicklungsstufe des Intellektuellen: sich zurückziehen wie Cioran, um einem heiteren Zynismus zu frönen?
Das Toben dort draußen
Immerhin: Jetzt kommt Bewegung ins enttäuschend aufgeräumte Zimmer. (Von einer Dichterresidenz erwartet man sich irgendwie mehr als glattgestaubsaugte Teppiche und ein faltenlos bezogenes Bett.) Nisse zieht den Essay Die Revolution der Frau von Abdullah Öcalan hervor, dem inhaftierten Leiter der in vielen Ländern verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Und liest aus dieser kapitalismuskritischen emanzipativen Schrift vor: „Die emotionale und analytische Intelligenz ist vollständig dysfunktionalisiert. Die mentale Eroberung der Gesellschaft ist somit vollendet.“ Blättern, Räuspern – und weiter: „Deshalb erfordert der Kampf gegen die kulturelle Hegemonie den wohl schwierigsten Kampf von allen, den geistigen Kampf.“
Über die mithin verschrobene kulturkritische Begrifflichkeit mag man bei Öcalans Essay stolpern. Womit man hingegen d’accord gehen kann: dass heute mehr denn je präzises Denken, widerständige Sprache und eigensinnige Artikulation vonnöten sind. Hierin liegt letztlich auch die Spannung in den Texten von Tom Nisse, die zu den artistisch durchdringendsten der luxemburgischen Gegenwartsliteratur zu zählen sind. Einerseits lauert und lugt hinter nahezu jedem Vers das Trübsinnige und Versonnene, die unverhohlene Neigung zur pessimistischen Zierde und schönen Sprache, die sich vermeintlich wenig schert um das Toben dort draußen: „Neige de printemps : / les pétales coupent / l’étirement de l’ombre.“ Andererseits birst aus vielen Gedichten eine sprachmächtige Entgegnung heraus, eine konfrontative Verweigerung, mitzumachen bei der spätkapitalistischen, isolationistischen Lebenspraxis: „et les dévastés de la terre sont sans horizon / car vieille Europe s’est maquillée un peu / mais dans clandestin il y a clan il y a destin.“
Für Nisse ist das Gedicht Behauptung und Dialogangebot; es ist ein nischiger, längst randständiger Lebensmodus, der andere Sprechweisen erlaubt – und darüber eine Freiheit abseits konsumistischer Üblichkeit in den Blick nimmt, verfangen im trüben sowie stolzen Wissen, diese andere Freiheit niemals umsetzen zu können: „La poésie est action vitale et désespérée“, heißt es in „Reprises de positions“. Die artistische Sprache sei „une parole très nettement en opposition aux exclamations stridentes médiatiques, politiquement hystériques, pseudo-scientifiques et vulgairement publicitaires“.
Der Dichter als Kobold
Wie man es auch nennen mag: Präsenz, Gegenwärtigkeit, Aura oder Dringlichkeit – es war jedenfalls zu spüren, als Tom Nisse anlässlich des fünfjährigen Jubiläums von Hydre Éditions Ende Juni dieses Jahres auftrat. Im Rahmen der Feier wurde im Kasemattentheater seine Vérification vorgestellt, und nebst anderen Verlagsautoren trat auch Nisse auf die Bühne, um vorzulesen. Und bei diesem Auftritt fanden Stimme und Gestik, Körper und Ausdruck auf integrale Weise zusammen. Es war und ist mir ein gutes Rätsel, wie man dieser hageren (Autor-)Figur leichthin zugesteht, durch und durch in der Literatur zu stehen, vollumfänglich aus ihr heraus zu sprechen. (Den Vorwurf, hier würde bloß das sozio-pathologische bürgerliche Verlangen nach einer abseitig schillernden, ganzheitlichen Dichterpersönlichkeit befriedigt, muss und will ich mir wohl gefallen lassen.)
Dass hier ein Dichter zu sich gefunden hat, das zeigt sich auch in der Namensgebung. Mit bürgerlichem Namen heißt er Rischette, und auch wenn Nisse sich am Ende des Gesprächs dagegen verwehrt, in der artistischen Zweittaufe eine anti-bourgeoise oder gar anti-familiäre Geste zu sehen, so lässt sich das Manöver durchaus als Initiationsmoment einer eigenständigen Kunst auslegen. Amüsiert erläutert Nisse, dass sein Künstlername in skandinavischen Sagen einen Kobold bezeichne, einen Schelm, der sich nicht ziert, ab und an Tumulte loszubrechen.
Neben dem Weihnachts- und Hausnisse gibt es auch den Buchnisse, welcher Druckfehler in Bücher und Zeitungen hineinschmuggelt. Das Bild ließe sich erweitern, denke ich, während ich nach dem Treffen auf einem zu kleinen Bildschirm verständnislos durch schwedische Wikipedia-Einträge zu Volkssagen scrolle. Um derart einen weiteren Nisse in den Stammbaum aufzunehmen: den Dichterschelm, der so spröde wie starke Verse vom Text aus in die Welt hinausschmuggelt, um unsere allzu reibungslosen, abgebrühten Lebensabläufe zu stören.