Ein ungewöhnliches Format hat das Fotobuch Hui Wen – Visual Palindromes von Robert Hornung. Zieht man es aus dem hochkantigen rot-weißen Schuber, hält man ein breites Buch im Panoramaformat in den Händen. Die Publikation zeigt Bilder aus 21 verschiedenen Regionen in Europa, China und Taiwan. Mit Verweis auf das Palindrom, also auf ein Wort oder eine Wortfolge, die von zwei Seiten gelesen Sinn ergeben, sind sämtliche Bilder horizontal gespiegelt, schmetterlingsartig aufgeklappte Szenerien.
Die klar komponierten Aufnahmen zeigen Eindrücke aus den jeweiligen Regionen, etwa die bildfüllenden Hochhausfassaden der chinesischen Stadt Dalian, die in ihrer Doppelung erdrückend wirken, oder Straßenszenerien, die auf den ersten Blick wie scharfe, symmetrisch geplante Gabelungen wirken. Ein Containerschiff mit scheinbar endlos langer Breitseite, Detailaufnahmen vorbeigehender Passanten, die sich wie eineiige Zwillinge aufeinander zu bewegen. Neben urbanen Szenerien sind mit Naturmotiven wie Bergpanoramen, Flussläufen und Küstenansichten eine Vielfalt an Motiven der klassischen Reisereportage abgedeckt.
Architektonisch spannend sind die Bilder des Hotel Lalu in Taiwan, dessen Synthese aus zeitgenössischem und traditionellem Design der Innenarchitekt Hornung sehr gelungen einfängt. Es dauert, bis man versteht, wie die Gebäudeteile inselartig zwischen Infinity-Pool und angrenzendem See schweben können. Doch nicht nur Fernost, auch die Küstenorte Istriens, die Täler Österreichs und die Großregion werden im Buch dokumentiert. Dabei erinnert das Panorama des Parkhotel Alvisse an das Grand Budapest Hotel Wes Andersons, wenn auch ein nicht unwesentlicher Unterschied zu Hornungs Bildmanipulation darin besteht, dass Anderson vorhandene Symmetrien sucht oder akribisch in seinen Sets komponiert.
Hornungs Bilder zeichnen sich Dank der neutralen, aber warmen Lichtstimmung und ihrer Schärfe durch eine hohe Detaildichte aus und vermitteln durch Lichter, Farben, Form und Textur die ortstypische Atmosphäre. Dem Thema der Spiegelung entsprechend, lässt das Werk Vergleiche zwischen den Kulturkreisen und Orten der einzelnen Kapitel zu. Die Bilder sind dort am stärksten, wo Hornung die Symmetrie bricht, wenn Text auf Straßenschildern nicht mitgespiegelt wird oder wenn einzelne Bildelemente, wie der Kellner eines Straßencafés, auf den Spiegelhälften zu unterschiedlichen Zeitpunkten in unterschiedlichen Haltungen zu sehen sind.
Sorgt die Spiegelung jeder Fotografie unweigerlich für eine harmonische Komposition, so wirkt sie in der räumlichen Abgeschlossenheit zugleich beklemmend, wenn etwa aus einer Flussschleife ein Inselsee wird. Als optischer Effekt wirkt die Spiegelung mitunter forciert. Wenn sie einen Lieferwagen auf absurde Weise aus zwei Heckhälften zusammensetzt oder gespiegelte Katzen an den Ohren zusammenwachsen, so stellt sich die Frage, inwiefern das Konzept über ein visuelles Experiment hinausgeht. Zwar kann es sich bei einem Palindrom um ein Wort handeln, das sich von zwei Seiten lesen lässt („Anna“), in der Kunstform des titelgebenden chinesischen Palindroms hingegen entstehen durch die Rekombination von Schriftzeichen, also Einzelwörtern, neue Zusammenhänge wie „Einer für alle, alle für einen“. Die konsequente Entsprechung hierzu wäre die Spiegelung einer Bilderfolge statt eines Einzelbildes. In den meisten von Hornungs Bildern hingegen kommt es zu einer einfachen Dopplung der Bildelemente statt zu einem neuen Sinnzusammenhang.
Der Frage nach dem Konzept kommt ein beiliegendes Booklet zuvor mit Anmerkungen von Hornung und befreundeten Personen, darunter France Clarinval, Jacques Schneider oder Jean-Marie Biwer. Biwer vergleicht die Aufnahmen mit den Bildern des Rorschach-Tests, wobei zu bedenken ist, dass Hornungs konkrete Fotografien im Gegensatz zu abstrakten Tintenklecksen wenig Interpretationsspielraum liefern. Da es keine inhaltlichen Oppositionen gibt, findet die im Booklet ebenfalls kommentierte Darstellung von Balance in den Spiegelungen letztlich auf rein visueller Ebene statt, indem Symmetrie erzwungen wird.
Hornung selbst verweigert sich in seinem Kommentar einer Erklärung. Er beschreibt Kunst als Selbstfindungsprozess, der insbesondere Kunstkritikern unergründlich bleiben müsse. Er betrachtet die Situation des Künstlers als aussichtslos, als eine einsame, weil missverstandene Figur. Es darf vor diesem Hintergrund gefragt werden, weshalb das Booklet trotz dieser angeblichen Unmöglichkeit zu kommunizieren beiliegt und Interpretationsansätze bereithält. Wie der Autor selbst vorschlägt, sollte man solche Widrigkeiten außer Acht lassen und ihm schlicht auf die Reise zwischen Europa und Fernost folgen. In diesem Sinne lässt sich Hui Wen als gut gemachte, atmosphärische Reisereportage betrachten.