52 Prozent: Anteil der aktivenBevölkerung, der 1960 in der Industrie arbeitete
21 Prozent: Anteil der aktivenBevölkerung, der 2012 in der Industrie und auf dem Bau arbeitete
Ist dies nur der Anfang? Als vergangene Woche bekannt wurde, dass das Werk Düdelingen vor dem Aus steht, weil der Glasfabrikant Guardian Luxguard keine 100 Millionen Euro in die Erneuerung des Glasofens investieren will und die Konzernleitung von Hyosung Wire, ehemaliges Goodyear-Werk, überlegt, die Anlage zu schließen, sagte Wirtschaftsminister Etienne Schneider dem Luxemburger Wort, man werde künftig immer mehr solcher „Phänomene“ sehen. Mehrere hundert Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel. Schon beeilten sich Kommentatoren aller Couleur, die Deindustrialisierung zu beschwören, diese unaufhaltsame und unumkehrbare Entwicklung, die das Land seit der Stahlkrise im vergangenen Jahrhundert heimsuche.
56 646: Anzahl der Beschäftigten in der Industrie, 1960
34 300: Anzahl der Beschäftigten in der Industrie, 1996
37 300: Anzahl der Beschäftigten in der Industrie, 2010
Dabei ist es fraglich, inwieweit eine massive Deindustrialisierung bisher überhaupt stattgefunden hat. Zwar sinkt die Zahl der Beschäftigten in der Industrie seit 1960. Doch angesichts des technologischen Fortschritte erstaunt es kaum, dass die Produktion nicht in gleichem Maße zurückging wie die Beschäftigung. Im Gegenteil. Auch wenn in den Sechzigern und den Siebzigern, über 80 Prozent der Exporte Luxemburgs aus Gütern bestanden, während mittlerweile der Anteil der Dienstleistungen bei über 80 Prozent liegt. Dennoch sind die Güterausfuhren zwischen 1970 und 2010 im Rhythmus von 3,5 Prozent jährlich angestiegen. Zu den Luxemburger Exportschlagern gehören: Plastik- und Kautschukprodukte (zwei Drittel der Warenausfuhren) sowie landwirtschaftliche Produkte und Lebensmittel (acht Prozent), Maschinen, Textilien und Chemieprodukte. „Abgenommen hat die Industrie vor allem in relativen Zahlen, also im Vergleich zur Finanzbranche, die sich sehr schnell entwickelt hat“, sagt Nicolas Soisson, Direktor der Fedil – heute Business Federation, früher Industriellenverband. Ersetzt wurde die „große“ Stahlindustrie nicht durch ebenso große Projekte, sondern durch eine Mehrzahl kleinerer. Die Veränderung an sich macht Soisson dabei keine Sorgen. „Die Mutationen in der Industrielandschaft sind so alte wie die Industrie selbst“, sagt er. Bevor die Stahlindustrie boomte, gab es die Leder- und Gerberei- und die Textilindustrie. Dass die Beschäftigungszahlen diese Robustheit der Industrie auch in den vergangenen Jahren nicht wirklich widerspiegeln, führt er mitunter auf die durchgeführten Jobauslagerungen zurück. Dass ein Industriebetrieb Wächter oder Putzpersonal nicht mehr selbst beschäftigt, sondern diese Dienste bei externen Dienstleistungsfirmen einkauft, heißt nicht, dass in der Industrie nicht mehr gewacht und geputzt werde, aber dass die Zahl der Industriejobs in der Statistik sinkt.
-20 Prozent: Differenz zwischen derIndustrieproduktion 2012 und 2007
Und doch geht es der Industrie nicht gut. Das Produktionsniveau lag Anfang 2012 immer noch 20 Prozent unter dem von 2007. In den Konjunkturumfragen des statistischen Amts Statec der vergangenen Monate gaben die Firmenchefs einen negativen Ausblick für die Zukunft: Die Produktionsentwicklung zeigt nach unten, die Auftragsbücher sind leer und die Lagerbestände hoch. Dass aber im ersten Quartal 2012 die Produktion um sieben Prozent niedriger war als im ersten Quartal 2011, ist allein zu 40 Prozent auf die Einmottung der Stahlwerke in Schifflingen und Rodingen zurückzuführen.
28,3 Euro: Kostenfaktor Arbeit/Stunde in der Industrie, Luxemburg, 2008
36,7 Euro: Kostenfaktor Arbeit/Stunde in der Industrie, Belgien, 2008
33,4 Euro: Kostenfaktor Arbeit/Stunde in der Industrie, Deutschland, 2008
Zu schaffen, sagte Wirtschaftsminister Etienne Schneider dem Luxemburger Wort, machen den Luxemburger Industriebetrieben hohe Lohnkosten und niedrige Margen, und das bei hohem internationalen Konkurrenzdruck. „Achtung, Index!“, kommt da der erste Gedanke. Kurz dahinter folgt der an die leistungsfähige deutsche Wirtschaft, welche die Unternehmerverbände gerne als positives Beispiel ins Feld führen, um den Verlust der Luxemburger Wettbewerbsfähigkeit zu veranschaulichen. Dabei stellte das Statec vergangenes Jahr auf Grundlage der Daten von 2008 fest: Auch wenn übers Jahr gesehen eine Arbeitskraft mit 55 558 Euro nirgendwo in der EU mehr kostet als in Luxemburg, steht das Land im Stundenvergleich gar nicht schlecht da. Was auch darin liegt, dass in Luxemburg fleißiger gearbeitet wird als in den Nachbarländern. Und die Zahl der geleisteten Stunden zwischen 2000 und 2008 deutlich schneller angestiegen ist als in vielen anderen EU-Ländern, darunter Deutschland. Am Ende des Jahres hatten die Arbeitnehmer 1 790 Stunden auf dem Konto, mehr wurde nur in Malta, Litauen, Rumänien und Großbritannien gearbeitet. Positiv wirken sich auch die niedrigen Lohnnebenkosten (14 Prozent im Vergleich zu den Kosten insgesamt) aus. Zum Vergleich: In Deutschland machen sie 22 Prozent der Lohnkosten insgesamt aus, in Frankreich sogar 33 Prozent. So schnell, wie das die Arbeitgeberverbände immer wieder öffentlichkeitswirksam bedauern, sind die Lohnkosten (pro Arbeitsstunde) laut Statec auch nicht gestiegen: +2,9 Prozent jährlich, gegenüber 1,4 Prozent in Deutschland und 3,5 Prozent in Frankreich und Belgien. Zwar fiel die Produktivität seit Anfang der Finanzkrise, also zwischen 2007 und 2010, in der Luxemburger Industrie mit -27 Prozent deutlich drastischer als in der EU (-4,8 Prozent), das aber führt das Statec vor allem darauf zurück, dass in Luxemburg deutlich weniger produziert wurde – besonders in der Metallindustrie –, während die Beschäftigung nicht nur dank Kurzarbeit und Cellule de reclassement stabil blieb, sondern stieg.
6 Monate: Zeitspanne, die Konzerne zur Implantierung neuer Produktionsanlagen vorsehen, laut Nicolas Soisson
6 Jahre: Zeit, die zwischen der Ankündigung des Aufbaus des Logistikzentrums Eurohub Südenund dem ersten Spatenstich verging
Auch Fedil-Direktor Nicolas Soisson beklagt, die Lohnkosten seien in den vergangenen Jahren schneller gestiegen als die Produktivität in den Unternehmen. „Dann müssen Anpassungen gemacht werden.“ Aber auch bei den Arbeitgeberverbänden setzt sich mehr und mehr die Ansicht durch, dass es andere Stellschrauben gibt, an denen man drehen kann, um den Standort attraktiv zu halten beziehungsweise zu machen. Da ist zum einen die Grundstücksproblematik. „Grundstücke sind rare Artikel“, sagt Soisson. Was die Niederlassung neuer Produktionsanlagen erschwert und mitunter dazu führt, dass das der Wert des Grundstücks die Weiterführung bestehender Anlagen unattraktiv macht. Fallbeispiel Paul Wurth: der neue Aktionär SMS-Group wies bei der Vorstellung vor wenigen Wochen unverblümt darauf hin, dass das Firmengelände, das Grundstück in Hollerich, den Großteil des Firmenwerts ausmache. Deswegen drängt, findet auch Soisson, die Vorlage der Sektorpläne, damit Industrie- und Aktivitätszonen endlich klar ausgewiesen werden. Spätestens seit der Staat mit dem Vorhaben, auf dem ehemaligen WSA-Gelände ein Logistikzentrum einzurichten, fast selbst gescheitert ist, dürften letzte Zweifel an der Schwerfälligkeit der Genehmigungsprozeduren ausgeräumt sein. Auf den Termin, den Staatsminister Jean-Claude Juncker (CSV), der einmal den Bürokratieabbau zur Chefsache erklärt hatte, den Unternehmerverbänden versprochen hat, um das Problem im Rahmen der „Remodernisierung“ anzugehen, wartet man bei der Fedil noch. Problematisch ist für Soisson auch die Ausbildung für die Berufsbilder, die in der Industrie gebraucht werden – weil es an qualifizierten Arbeitnehmern fehlt, muss über die Grenzen hinaus rekrutiert werden. Das, meint er, hat auch mit dem niedrigen sozialen Stellenwert zu tun, der handwerklichen Berufen anhaftet. Weil Handwerker kein hohes Ansehen haben, drängen die klugen Köpfe nicht in solche Ausbildungen.
9.2.2012: Tag an dem Wirtschaftsminister Etienne Schneider ein Hohes Komitee für die Industrie ankündigte
Um die Standortpolitik künftig an oberster Stelle zu zentralisieren, lancierte Fedil-Präsident Robert Dennewald vergangenen Herbst die Idee eines „Haut comité“ für die Industrie nach dem Vorbild des Haut Comité pour la place financière. Eine Idee, die Etienne Schneider bei seinem Amtsantritt Anfang 2012 umzusetzen versprach. Noch aber ist völlig unklar, was das Haut Comité pour l’industrie machen soll, wer darin Mitglied sein soll und wie es funktionieren soll. Fragen, die in den kommenden Monaten im Wirtschaftsministerium abgearbeitet werden sollen. Nach Vorstellung von Nicolas Soisson sollen darin die für die Industrie wichtigen Regierungsmitglieder tagen. Dazu gehört neben dem Wirtschaftsminister für ihn auch das für die Infrastruktur und das Umweltressort zuständige Regierungsmitglied, wie, wegen der Ausbildungsfrage vielleicht auch der oder die Zuständige für das Ressort Bildung. Weil die aber regelmäßig im Regierungsrat zusammensitzen, bleibt unklar, wo der Mehrwert eines solchen Gremiums zu suchen wäre. Zumal im Conseil économique et social (CES) nach dem abgebrochenen Boykott der Arbeitgeber nun in Arbeitsgruppen die Sozialpartner gemeinsam, Branche für Branche, demnach auch für die Industrie, analysieren sollen, wo es Verbesserungsspielraum gibt, was die Möglichkeiten für die Zukunft sind, was gebraucht wird, um sie wahrzunehmen. Wieso ein weiteres Gremium schaffen? „Die Arbeiten des CES sind langfristig ausgelegt“, sagt dazu Soisson, „wir müssen jetzt handeln“. Dass solche Aufgaben in der Vergangenheit die Tripartite wahrnahm, scheint vergessen.
993 Millionen Euro: Staatliche Ausgaben für die Umstrukturierung des Stahlsektors, 1975 bis 1987
Angesichts der Entwicklung bei Hyosung, Luxguard und Arcelor-Mittal forderte OGBL-Präsident Jean-Claude Reding am Dienstag eine voluntaristische Politik von der Regierung, um die gefährdeten Industriestandorte zu erhalten. Bis hin zur Beteiligung am Firmenkapital müssten alle Möglichkeiten in Betracht gezogen werden, so Reding. Vergangenen Samstag bereits hatte das Syndikat Sidérurgie et mines eine Resolution angenommen, in der gleich mehrere Forderungen formuliert sind. Erstens soll bei der nächsten Stahltripartite endlich die OGBL-Analyse zur Weiterführung der Produktion in Rodingen und Schifflingen und das von der Regierung veranlasste Audit besagter Analyse auf die Tagesordnung. Denn, so das Syndikat in seinem Aktivitätsbericht 2010-2012, die Prüfer von Laplace Conseil, geben der Gewerkschaft in vielen Punkten Recht und schlussfolgerten: „Cela vaut la peine d’être tenté.“ Sollte keine wirkliche Diskussion über die Alternativen für Rodingen und Schifflingen stattfinden und Arcelor-Mittal seine Verantwortung als Aktionär nicht wahrnehmen, die Luxemburger Werke aus strategischen Gründen fallen lassen, „le gouvernement luxembourgeois devra impérativement se réapproprier les outils de production“.
Dass es nicht so einfach ist, einem multinationalen Konzern wie Arcelor-Mittal die Stirn zu bieten, lernen gerade die Metallerkollegen in Belgien. Arcelor-Mittal will zwei Hochöfen und und ein Stahlwerk in Lüttich schließen und weigert sich, die Produktionsanlagen an einen Konkurrenten zu verkaufen. Auch der französische Minister für die Wiederankurbelung der Produktion, Arnaud Montebourg, stößt an seine Grenzen. Noch bevor er sich wirklich mit seinen europäischen Ministerkollegen zusammentun konnte, um eine Strategie für den Umgang mit dem Stahlkonzern auszuarbeiten, hat dieser Presseberichten zufolge angekündigt, die Hochöfen und das Stahlwerk in Florange schließen zu lassen. Nun werde über den Verkauf für den symbolischen Euro verhandelt.
Ob es überhaupt realistisch ist, dass der Staat vermehrt eingreift, auch durch Kapitalbeteiligungen, wie vom OGBL gefordert? Für die Umstrukturierung der Stahlbranche in den Siebzigern und Achtzigern zahlte der Staat fast eine Milliarde Euro. Und danach immer weitere Millionenbeträge für Sozialmaßnahmen und Investitionsbeihilfen. Reding appelierte am Dienstag auch an die Regierung, ihre Verantwortung in Sachen Cargolux zu übernehmen. Die Rechnung dafür dürfte Finanzminister Luc Frieden in den kommenden Monaten erhalten, denn Groß-
aktionär Luxair wird ihre Reserven für den eigenen Umbau brauchen. Der neue Ofen für Luxguard in Düdelingen soll 100 Millionen Euro kosten. Auch bei Hyosung würden Investitionen gebraucht, um weiterarbeiten zu können, so Insider. Woher das Geld kommen soll? Erst einmal müsse man entscheiden, was man wolle, antwortet darauf Reding. Dann könne man sehen, woher die Mittel kommen. Das Land habe früher unter großen Anstrengungen die Restrukturierung der Stahlbranche gestemmt.
1 Jahr: Zeit, die seit der Übernahme der Wire plant durch Hyosung vergangen ist
Ob der Staat Betriebe durch Finanzhilfen dazu bewegen kann, neu zu investieren, um die Produktion und dadurch die Arbeitsplätze zu sichern, ist durchaus eine Frage des Geldes. Aber nicht nur. Denn so wenig plausibel es angesichts der Milliardenhilfen für die Finanzbranche scheint – nach den aktuellen Regeln des europäischen Binnenmarktes dürfen die Staaten so, wie es sich die Gewerkschaft vorstellt, nicht eingreifen. Ohnehin ist fraglich, wie lange sich der Staat erlauben könnte, Betriebe zu unterstützen, denen die Aufträge fehlen. Weshalb denkt Hyosung darüber nach, ein Werk zu schließen, das erst vor einem Jahr gekauft wurde? Wegen der Verkaufseinbußen, lässt Hyosung auf Nachfrage mitteilen. Die Absatzmärkte seien in einer Art eingebrochen, die vor einem Jahr nicht vorhersehbarer gewesen sei.
88 Prozent: EWG-Anteil an den Luxemburger Exporten, 1960
88 Prozent: EU-Anteil an den Luxemburger Exporten, 2010
Weil nach den Abwrackprämien der vergangenen Jahre die Zahl der verkauften Autos in den letzten Monaten in der EU deutlich fiel, werden auch weniger dafür benötigte Bauteile bestellt. Das heißt, weniger Reifen werden verkauft, weniger Windschutzscheiben, weniger Blech. So lange die Konjunktur auf Luxemburgs Absatzmärkten, also in Europa, schwächelt, und nicht abzusehen ist, wie die europäische Wirtschaft dauerhaft wieder an die Vorkrisenzeiten anknüpfen kann, werden Unternehmen, mit oder ohne Hilfen, wenig in der EU investieren wollen.
22: Rang Luxemburgs im Global Competitiveness Index des Wef
Auch die Wettbewerbsfähigkeitsdebatte stellt sich deswegen ein wenig nuancierter, je nachdem, ob man hauptsächlich für den EU-Binnenmarkt herstellt oder spezialisierte Güter für den Weltmarkt. Das merken derzeit auch die Exportweltmeister in Deutschland, die seit Beginn der Eurokrise die südlichen Eurostaaten auf deutsche Wettbewerbsfähigkeit trimmen möchten. Nun stellt die deutsche Solarindustrie, die Solarzellen für den Binnenmarkt fertigt, fest, dass trotz der deutscher Wettbewerbsfähigkeit die Mitarbeiter der chinesischen Konkurrenten billiger produzieren. Weswegen der EU-Handelskommissar mit China einen Anti-Dumping-Streit vom Zaun bricht. Und das Nachbarland vor der Frage steht, ob nun die deutsche Wettbewerbsfähigkeit das Maß aller Dinge ist, oder doch die der aufstrebenden Wirtschaftsmächte wie China oder Brasilien. „Industriepolitik im Zeitalter der Globalisierung“ ist das Memo der EU-Kommission von Oktober 2010 überschrieben. Wirklich zündende Ideen, wie dieser Konflikt gelöst werden soll, hat die EU-Kommission, Fürsprecherin des freien Handels, seither nicht vorgelegt. Daher liegt der OGBL natürlich völlig richtig, wenn er von der Regierung fordert, sich in Brüssel für einen Politikwechsel einzusetzen. Dass sich die Regierung mit dem neuen Wirtschaftsminister, der bei seinem Amtsantritt vollmundig von Politikgestaltung gesprochen hatte, sich äußerste bedeckt hält, lässt allerdings vermuten, dass auch sie keine zündenden Ideen hat. Schneider, der sich noch bei der Eröffnung der Frühlingsmesse über die vielen Werbe-Reisen seines Amtsvorgängers lustig gemacht hatte, sagte dem Quotdien diese Woche: „Ich muss mehr reisen.“