Ach, Europa, du hast es schwer. Deine politische Elite macht sich fortwährend Gedanken über dich. Morgens, mittags und vor allen Dingen gerne abends. Noch lieber nachts. In langen Sitzungen des Rates, der Kommission, der Chefunter- und der Chefoberhändler. Immerzu nur Gedanken. Über die immer gleichen Fragen: „Was wird wohl aus Europa? Wie wird es weitergehen mit Europa? Was ist überhaupt Europa? Wo fängt es an, wo hört es auf? Wie geht es Europa?“ Ach, und dieser ganze Weltenschmerz inklusive. Dieses Gejammer. Allenthalben.
Berlin serviert man eine andere Fragen: „Wie klingt wohl Europa?“ Das lässt tief blicken in das Verständnis von Kontinent und Union. Irgendwo im Osten, in einer Millionenstadt, die so überhaupt nichts mit beidem am Hut hat – weder mit Kontinent noch mit Union. Das Bundesfinanzministerium gibt Nachhilfe: „So klingt Europa.“ Und begründete eine Veranstaltungsreihe, die Europa zumindest musikalisch verständlich machen soll. Am vorvergangenen Donnerstag durfte Luxemburg im fünften Teil der Serie zu Gehör bringen, wie denn das Großherzogtum in den europäischen Reigen passt. Eine Einschränkung gibt es immer: Wie es in den Reigen der Euroländer passt. Dieses Europa ist überschaubarer. Diese Ehre wurde dem Großherzogtum zuteil, da es derzeit die Ratspräsidentschaft inne hat.
Doch bevor der erste Takt angezählt wurde, ergaben sich Gastgeber Wolfgang Schäuble und Luxemburgs Finanzminister Pierre Gramegna in altbekannten, bewährten Floskeln, um die Griechenlandkrise für eine knappe halbe Stunde wieder ins Scheinwerferlicht der Aufmerksamkeit zu zerren. Ja, Europa ist futti. Aber es besteht immens Hoffnung. Und die Politik hat Lust es zu flécken. Dann ist wieder alles tiptop. Europa hatte das längst vergessen und das Berliner Publikum ohnehin. Das freute sich wie Bolle darüber, dass der Bundesfinanzminister die Korken knallen ließ – ja, auch so kann Europa klingen –, gilt er doch als knickrig. Zwischen Aperitif und Digestiv würde man schon die Musik von luxemburgischen Blaskapellen, des Chors der luxemburgischen Weinköniginnen und eine Darbietung der Escher Majorettes über sich ergehen lassen. Berliner kennen die Herausforderungen von Europa bevor es einen „Return on Investment“ gibt. Da machen sie sich auch gerne schlau: Vor dem Einlass zum Musikfest stimmte das Publikum noch schnell Kenntnisse zur Geografie („Das liegt bei Trier.“ „Und wo liegt Trier?“) und Wissenswertes über das Großherzogtum an sich ab („Der Juncker macht da alles!“), auch über luxemburgische Musik („Adamo kommt aus Luxemburg.“ „Wer ist Adamo?“). Der Mensch sucht immer nach bekannten Bezugspunkten.
Gegen so viel Expertise, so viel Durchhaltemutmachparolen seitens gestandener Politiker hatte es die Jeff Herr Corporation schwer gegen Erwartungen und akustische Besonderheiten des Veranstaltungssaals im Finanzministeriums anzuspielen. Ja, es ist das ehemalige Reichsluftfahrtministerium, die ehemalige Machtzentrale Hermann Görings, da wurde zwar auch gefeiert, aber zu anderer Musik. An diesem Abend zwei Beiträge in musikalischer Präzision. Jeff Herr am Schlagzeug, Laurent Payfert am Kontrabass und Maxime Bender spielten kurz ihr Können an. Dann war Schluss. Es folgte das Maxime Bender Quartett und die bedeutungsschwangere Frage von Monica Semedo, Conférencière des Abends, was denn wohl luxemburgischen Jazz ausmache? Das ist eine Frage, die man nicht einmal in der Sendung von Günter Jauch gestellt bekommen möchte. Schäuble und Gramegna hätten darauf sicherlich eine Antwort gewusst. Im europäischen Kontext. Maxime Bender hingegen macht lieber Musik als sich mit transzendenten Erläuterungen auf Metaebenen zu beschäftigen. Er hat sich mit Jeff Herr auf Zuhörer und Raum eingestellt, packte dann gemeinsam mit Simon Seidl, Olivier Lutz und Silvio Morger sein Können aus. Gekonnt intoniert, ein Zusammenspiel des Quartetts, das auch jene überzeugte, die gerne bei Jazz in eine Abwehrhaltung gehen. Bender musizierte, dass der Jazz sich nicht in ständiger blechblasender Selbstreferenz ergehen muss, sondern durchaus Nuancen haben kann. Zwei Stücke. Dann Pause. Zeit für den Crémant zwischendurch.
Zwischendurch malte Catherine Lorent ein Bild, in dem sie eingesammelte Klischees von Berlinern über Luxemburg ummalte. Das Werk zeigte vor allen Dingen die Begrenztheit der vermeintlichen Metropolisten, deren Gedanken an Luxemburg sich fast ausschließlich in Geld, Steuern und Betrug erschöpften. Dabei aßen sie Bouneschlupp und tranken Pinot Gris aus Stadtbredimus – umsonst! Okay, Schäuble hat’s bezahlt. Und es gab die Möglichkeit, Werke eines weniger begabten Fotografen aus Luxemburgs zu betrachten, der seine Bilder mit Fingerfarben verschönt. Da hatte sich dann Luxemburg an das Klischee vom Berliner Dilettantismus anpassen wollen. Ging genauso schief.
Nach moderner Musik folgte im zweiten Teil des Abends zeitgenössische Musik. Zunächst klassisch: Das Ensemble Noise Watchers Unlimited hat sich selbst die Mission auferlegt, „Werke zeitgenössischer Musik insgesamt und speziell von Luxemburger Komponisten in In- und Ausland aufzuführen“. Zeitgenössische klassische Musik an einem solchen Abend aufzuführen, ist immer ein Wagnis, eine Herausforderung für die Musiker, die mit dem Raum und dem Publikum zurecht kommen, und für das Publikum, das sich auf ungewohnte Hörweisen einstellen und vor allem auch einlassen muss. Hier erwies sich die Begrenzung auf zwei Stücke als richtig, um die Konzentration des Publikums halten und binden zu können. Beschlossen wurde der Abend von Serge Tonnar und Legotrip. Das war dann Weinköniginnen, Majorettes und Blasmusik in einem. Da tanzten die Puppen zur Kirmesmucke und Berlin verstand nichts. Ob man die Musik mag oder nicht, anzuerkennen bleibt, dass Tonnar Stimmung in die Hütte zauberte und damit alle Fragen des Abends beantwortete: Europa ist, wenn man sich versteht. Wortlos. Und gemeinsam Freude haben kann.