Piraten: Zwei Sitze, aber die echte Bewährungsprobe kommt noch

Angekommen

d'Lëtzebuerger Land du 19.10.2018

„Don’t let incompetents rule your country“, lautete der englischsprachige Eintrag eines Internetforums zur Frage, ob die Piraten eine Partei sei, die sich nur mit Copyright, Datenschutz und Patenten beschäftige oder ob sie Stellung zu allen relevanten Themen beziehen solle. Die Piraten seien Experten in IT-Fragen. In der Politik gebe es kaum IT-Experten. Im PS des anonymen Autors: „hat haut kee Bock Lëtzebuergesch ze schreiwen“.

Fast zehn Jahre später entern zwei Piraten, die nicht Politik studiert, aber Erfahrung als Aktivisten gesammelt haben, der 29-jährige Jungunternehmer Sven Clement  aus Kopstal und der 1985 geborene Kommunikationsberater Marc Georgen aus Petingen, den Krautmarkt. Da war die Frage single-issue- oder multi-issue-Partei längst entschieden: „Witfraë net besteieren“ und „Plastik reduzéieren“ sind einige der Slogans, „Eye Catcher“ wie Oberpirat Clement sagen würde, die auf lila Hintergrund reale und virtuelle Landschaften zierten.

Das ist der Schlüssel zum Erfolg der Partei, die weder Wahlforscher noch Medien auf der Rechnung hatten und die mit einer Steigerung um 3,51 Prozentpunkte – von 2,94 im Jahr 2013 auf jetzt 6,45 Prozent der Wählerstimmen – zur Überraschungssiegerin dieser Wahl wurde: eine clevere Kampagne und ein Themen-Mix. „Wir haben von Anfang an auf multimedial und Themenvielfalt gesetzt. Es war eine Materialschlacht“, sagt Sven Clement, zum Interview in Anzug und Schlips. „Ich komme vom Staatschef“, sagt er stolz und grinst, als er sich einen Espresso bestellt. 30 000 Kugelschreiber, 280 000 Hauswurfsendungen, 3 000 Plakate, 500 Muffins, vorfinanziert durch den Vater (Clement: „mehr als ein fünfstelliger Betrag), der für die Piraten im Zentrum antrat, oder aus Rücklagen wie beim Kandidaten im Osten, dem Remicher Immobilienmakler Daniel Frères. Dazu ein bunter Themenstrauß, der von sozialdemokratischen (staatlicher Wohnungsbau) bis liberalen und patriotischen Forderungen (Flexibilisierung, Méi Lëtzebuergesch) so ziemlich alles aufgegriffen hat.

Als 2017 noch immer kein richtiger Wind in den Segeln blies und das Zwei-Prozent-Ziel in allen Bezirken bei den Gemeindewahlen teils deutlich verfehlt wurde, hatten Clement & Co das Ruder herumgerissen und das 2013 erweiterte Repertoire nochmals geschliffen: Das Programm für den 14. Oktober umfasste Vorschläge zur Altersversorgung, bedingungsloses Grundeinkommen, mehr Steuergerechtigkeit, zur Wohnungsnot, zu Tier- und Umweltschutz und mehr. Es ist dieser Mix, als „Meinungswirrwarr“ (d’Land) oder als „diversifiziert bis an den Rand des Absurden“ (Tageblatt) bezeichnet, der den Piraten den Weg in die Chamber ebnete. Ob Witwe, alleinerziehend, internetaffin oder Tierschützer – für jede/n war etwas dabei. Analysen zum Stimmverhalten 2013 zeigen, dass die Piraten (Wechsel-)Wähler von Grün, LSAP, DP, CSV und auch von der ADR anziehen.

Dank flacher Hierarchien und weil jede Sektion weitgehend über die eigene Inhalte bestimmte, passten die Kandidaten ihre Kampagne lokalen Gegebenheiten an: Im Süden, wo prozentual mehr Kleinverdiener wohnen, mobilisierte Marc Goergen auf den Themen Wohnungsnot und Transport und forderte einen Expresszug zwischen Esch- und Luxemburg-Stadt. Das wurde mit 6,99 Prozent der Wählerstimmen belohnt. Im Osten, wo der Remicher Immobilienmakler Daniel Frères bei den Kommunalwahlen punkten und in den Gemeinderat einziehen konnte, waren es Tierrechte und lokale Misswirtschaft. Also das, was Frères unter Misswirtschaft versteht: lange Genehmigungsprozeduren und hohe Grundstückspreise. Dafür gab es 6,98 Prozent Zustimmung. Im Norden warb die Partei um Ur-Pirat Ben Allard und PiD-Gründer Jean Colombera mit dem Thema Datenschutz, aber auch Mobilität und Legalisierung von Cannabis (7,67%). Auf Einladung Frères hatte sich Colomberas Partei fir integral Demokratie mit den Piraten zusammengetan. In Luxemburg-Stadt mit Spitzenkandidat Clement reichte es für 5,14 Prozent.

Eines hatten alle gemeinsam: dynamisches Auftreten und ein Talent, Aktionen zu planen und sie geschickt auf den sozialen Netzwerken zu pushen. Weil sie von den herkömmlichen Medien nicht ernstgenommen wurden, schafften sich die Piraten ihre eigene Plattform. Im Internet kursieren Videos unter dem Hashtag selwermaachen. Es ist der Do-it-Yourself-Ansatz, der die Partei attraktiv für junge Leute macht, die keine Lust haben, sich dauerhaft zu engagieren und durch Parteigremien zu buckeln. Die Piraten pflegen erfolgreich ein Anti-Establishment-Image, obwohl sie zu den Gewinnern der Rifkin-Vision zählen: internetaffine Eigenbrötler, liberal eingestellt und zugleich bürgerlich genug, um Oma und Opa nicht mit umstürzlerischen Aufrufen zu verschrecken.

Es war schlau, einen Teil der Kampagne dem dritten Alter zu widmen. Besuche in Altersheimen wurden publikumswirksam auf Facebook inszeniert und vermittelten der älteren Generation und anderen Seelen: Wir sind die Piraten und hören zu. Mach᾽ mit, reih᾽ Dich ein! Keine Berührungsängste gab es auch bei der Wahl der Werbeträger: Im Endspurt schaltete die Partei Anzeigen zur Privatsphäre auf Plattformen wie Porn-hub oder Youtube. Dass Geld für dubiose Pornoanbieter im Widerspruch steht mit dem Piraten-Versprechen, Frauenrechte zu stärken, ficht Clement nicht an: „Unkonventionell“ nennt er die Methode. „522 000 Mal wurden die Anzeigen geklickt“, bei YouTube erreiche man für 340 US-Dollar ein vier-Millionen-Publikum, berichtet er begeistert.

Eben diese inhaltliche Beliebigkeit und ethische Elastizität könnte für Marc Georgen und Sven Clement noch zum schmerzhaften Spagat werden. Das und die Egos der beiden Shootingstars: Dass die beiden privat keine Freunde sind, gibt Sven Clement offen zu. Beide stehen gern im Scheinwerferlicht, beiden wird nachgesagt, nicht gerade zimperlich mit internen Kritikern und Kontrahenten umzugehen. Die Piraten müssen immer wieder durch stürmisches Gewässer; meist selbst verursacht. Noch vor wenigen Monaten sah es so aus, als würde die Partei an ihren Querelen zerbrechen. Was bei den Grünen die Flügelkämpfe zwischen Fundis und Realos waren, ist bei den Seeräubern bis heute der Konflikt zwischen Ur-Piraten, die sich Rückbesinnung auf IT-Kernthemen wünschen, und Neu-Piraten wie Frères und Goergen, die eher auf Gefühlsthemen wie Tierrechte oder Verbrechensbekämpfung setzen.

Hinzu kommt ein Stil-Streit: Manch Raubein segelte während des Wahlkampfs hart an der Grenze des guten Geschmacks und des politischen Anstands. Der hemdsärmelige Daniel Frères schreckte nicht davor zurück, das mehrfach wegen unlauterer Methoden gerichtlich verurteilte Blatt Lux Privat für Kampagnen einzuspannen und auch Marc Goergen mag zuweilen laute Töne. Andere wie der Ex-ADRler Andy Maar aus dem Norden bestehen darauf, sich von Rechtspopulisten abzugrenzen, in der Hoffnung für die interessant zu sein, die den Etablierten einen Denkzettel verpassen, aber nicht ADR wählen wollen. Clement selbst distanziert sich heute von der Schmutzkampagne gegen den Grünen Henri Kox, auch wenn die nicht so abgelaufen sei, „wie behauptet wird“. Er sagt aber auch: „Wir hätten dreckiger gekonnt.“ Zur Erinnerung: Dreck und Chaos kostete den deutschen Piraten die Existenz. 2007 als Hoffnungsträger vieler IT-affiner Männer und weniger Frauen gestartet, mischten sie mit ihrem basis-demokratischen Non-Konformismus spektakulär die Parteienlandschaft auf, um sich dann über MeToo-Vorwürfen, Mobbing und Machtquerelen selbst zu zerlegen.

Die Luxemburger Piraten treten vergleichsweise zahm auf. Das Grundsatzprogramm bekennt sich zur Geschlechtergleichheit, doch die Partei wird bis heute maßgeblich von Männern gelenkt und erreichte die 40-Prozent-Frauenquote nur dank einer strategischen Zusammenarbeit mit der PiD. Clement wurde für undurchsichtiges Finanzgebaren mehr als einmal vom Rechnungshof gerügt und auch Gemeinderat Georgen bekam in Petingen vom politischen Gegner vorgeworfen, er habe Gelder veruntreut.

Bisher hat all das den Piraten nicht geschadet. Die Volksparteien mögen schimpfen, aber Frische und Frechsein kommen, zumal in einem so langweiligen Wahlkampf, bei den WählerInnen an. Trotzdem wird der Einzug ins Parlament zur Herausforderung, weil die Partei nun beweisen muss, dass sie inhaltlich arbeiten und nicht nur über andere herziehen kann. Clement ist zuversichtlich, dass das gelingt. „Wir werden das Thema Transparenz auf die Tagesordnung setzen“, sagt er selbstbewusst wie immer. Wo es sich ergibt, peilt er Allianzen mit déi Lénk oder den Grünen an. Zunächst muss Jungunternehmer Clement aber Licht in den eigenen Laden bringen: Viel verdient habe er bisher nicht, 2 500 Euro brutto. Die Leitung der IT-Firma, die er mit Pirat Jerry Weyer gegründet hat, will er nicht aufgeben, aber sicherstellen, dass es keine Interessenskonflikte gibt. Wie, das weiß er noch nicht.

Ines Kurschat
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