Die LSAP müsse „nicht mordicus“ in eine neue Koalition mit DP und Grünen, sagte ihr Fraktionspräsident Alex Bodry am Montag Morgen dem Radio 100,7. Kurz danach war Parteipräsident Claude Haagen im RTL Radio und meinte, er sehe nicht, wie die LSAP sich in der Opposition erneuern könne. „Das geht besser in der Regierungsverantwortung.“
Mit einem Wahlergebnis, das mit 17,6 Prozent der Stimmen ebenso wie mit zehn Kammermandaten so schlecht ist wie noch nie seit 1948, stellt sich der LSAP die für eine Regierungspartei bei Wahlniederlagen klassische Frage, wann es Zeit ist für den Gang in die Opposition, um sich dort zu profilieren. Am Wahlabend schien das lange so gut wie alternativlos: Bis gegen 21.20 Uhr drohte der LSAP ein Verlust von vier Sitzen. Als er auf drei korrigiert wurde, weil sie im Südbezirk einen Restsitz vor den Grünen gewann, sah es nicht nur für sie besser aus. Plötzlich war für „Gambia“, mit zusammengenommen 31 der 60 Kammersitze, die Möglichkeit zum Weitermachen aufgetaucht.
Dass daraufhin bei der Wahlparty im RTL-Festzelt Gäste aus den Unternehmerverbänden insistierten, „aber es reicht doch für Schwarz-Blau!“, zeigte nicht nur, wem die Vorlieben der Wirtschaftskreise galten. Es erinnerte auch daran, dass die LSAP zur Fortsetzung des aktuellen Regierungsbündnisses die „roten Linien“ ihres Wahlprogramms erst einmal in einem neuen Koalitionsabkommen wird unterbringen müssen: den Erhalt des Rentensystems und des Index sowie eine Mindestlohnerhöhung um 100 Euro netto zum 1. Januar nächsten Jahres. Gar nicht zu reden von Wahlversprechen wie der gesetzlichen Einführung der 38-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich oder des schrittweisen Übergangs auf sechs Wochen Urlaub durch je einen zusätzlichen Urlaubstag pro Jahr in der neuen Legislaturperiode.
Der freiwillige Rückzug in die Opposition wäre aber nicht der bessere Ausgangspunkt zur Erneuerung gewesen, wenn die LSAP dem Schicksal der meisten sozialdemokratischen Parteien in Europa entgehen will. Neu profilieren muss sie sich. Mehr noch als das Resultat vom Sonntag zeigt das der Trend: Der Niedergang der LSAP ist Jahrzehnte alt (siehe Grafik). Aber nachdem sie 1984 im „Indexwahlkampf“ noch für etwas gekämpft und sich das prompt ausgezahlt hatte, begnügte sie sich anschließend immer mehr damit, an der Seite der CSV die Rolle des Partners zu spielen, der das Schlimmste verhindere. Doch da die CSV als Volkspartei mit Gewerkschaftsflügel und Rentnerverband es sich politisch nicht leisten kann, unsozial zu sein, wurde immer unklarer, worin das Verdienst der LSAP bestand. Für den wachsenden Anteil von Mittelschichtlern an der wahlberechtigten Bevölkerung kann sich jede Partei zuständig fühlen, die Wahlen „in der Mitte der Gesellschaft“ zu gewinnen versucht. Die Arbeiter, die seit dem Einheitsstatut nicht mehr so heißen, sind vor allem Einwanderer und Grenzpendler und nicht wahlberechtigt.
Dass immer unklarer wurde, was die LSAP repräsentiert, lässt sich nach Wahlen noch besser als am Gesamtresultat an den Listenstimmen ablesen. Im Verhältnis zum Gesamtergebnis war am Sonntag der Anteil der Stimmen „aus Prinzip“ für ganze Kandidatenlisten bei der LSAP im nationalen Schnitt am niedrigsten: 56,2 Prozent. Die anderen großen Parteien kamen auf 61 bis 63 Prozent, die kleineren, mit Protestwählerpotenzial und eher unbekannten Kandidaten, naturgemäß auf viel mehr. Im Südbezirk wurde mit 58,5 Prozent Listenstimmenanteil immerhin noch stärker prinzipiell LSAP gewählt als im Zentrum (54,3%) und wesentlich mehr als im Osten (49,3%) und im Norden (46,7%). Das war für die LSAP nicht immer so. Bei den Wahlen von 2004 etwa, nach denen sie die DP in der Koalition mit der CSV ablöste, war die DP die Partei mit den mit Abstand kleinsten Listenstimmenanteilen in sämtlichen Bezirken. Dagegen lagen die Anteile der LSAP entweder über oder nur knapp unter denen der CSV. Damals hieß es, die kleinen Listenstimmenanteile der DP drückten aus, wie stark diese vom Panachage profitiere. Je mehr das auf die LSAP zuzutreffen scheint, entgegnet die, ihre Kandidaten seien halt populärer als die Partei. Doch wenn die DP früher „Ideologiefreiheit“ als Markenzeichen beanspruchte, muss sich heute die LSAP um ihre Ideologie sorgen, da sie ja eigentlich eine programmatisch besondere Rolle spielen will. Rücken populäre LSAP-Politiker in Regierungsämter auf, agieren sie dort umso eher als ängstliche Bürokraten, wie Lydia Mutsch oder Romain Schneider, wenn sie nicht genau wissen, wofür sie und ihre Partei stehen.
Deshalb wollte die LSAP es diesmal anders machen. Angefangen mit ihrem Wahlprogramm, in dem die Sozialisten nicht nur behaupteten, sie stünden für sozialen Fortschritt, sondern sich auch zuzutrauen schienen, mehr zu tun, als den Sozialstaat lediglich zu bewahren. Versprechen wie das auf die 38-Stunden-Woche oder sechs Wochen Urlaub sollten das Prinzip widerspiegeln, Produktivitätsgewinne umzuverteilen, zumal in einer Wirtschaft, die in Richtung Digitalisierung und Robotisierung tendiert. Dass die LSAP zur „langfristigen Finanzierung“ der Renten auch auf eine „Finanztransaktions- oder Robotersteuer“ zurückgreifen wollte, passt dazu.
Doch der programmatische Ruck kam zu spät. In der Regierung hatte die LSAP sich nicht übermäßig geschadet: Dank der guten Konjunktur konnte sie ab der Mitte der Legislaturperiode gemeinsam mit den Koalitionspartnern den Zukunftspak vergessen machen, für Steuererleichterungen sorgen, und die Pflegeversicherung ist nach der dieses Jahr noch hastig reformierten Reform von 2017 ähnlich großzügig wie früher. Wenngleich es vielleicht am Hin und Her um die Pflege lag, dass der populäre Sozialminister Romain Schneider im Nordbezirk 28 persönliche Stimmen weniger einfuhr als 2013.
Erst im Wahlkampf begann die LSAP konsequenter das Narrativ vom sozialen Fortschritt zu spinnen. Etienne Schneider war dazu nur zum Teil der beste Spitzenkandidat: Einerseits stand keine andere smarte Kämpfernatur zur Verfügung. Dass Xavier Bettel und Claude Wiseler sich dem Dreier-Duell mit ihm entzogen, weil sie sich schon auf Schwarz-Blau geeinigt hatten, ist ein Gerücht, das Schneider selber streute. Sicher ist, dass er beide in einer solchen Debatte rhetorisch und inhaltlich dominiert hätte. Andererseits aber wurde er bis zum Schluss vor allem als Wirtschaftsminister wahrgenommen, als ein kreativer zwar, aber auch als ein Opportunist oder gar als verkappter Neoliberaler. Am Rande einer Wahlversammlung sagte Schneider selber, viele Leute verbänden ihn eher mit der DP als mit der LSAP. Dass er, immerhin ein Spitzenkandidat und der Vizepremier, mit 16 872 persönlichen Stimmen im Zentrumsbezirk nur an 13. Stelle ankam, spricht Bände.
Dagegen steht der große Erfolg Jean Asselborns mit 40 283 persönlichen Stimmen im Südbezirk. Seit Jahren dominiert er die Popularitätsumfragen. Schon möglich, dass er die LSAP-Programmatik glaubwürdiger hätte vermitteln können als Schneider. Jedenfalls gegenüber Wählern, für die monatlich 100 Euro netto mehr einen Unterschied machen und denen Visionen von Asteroidenbergbau Lichtjahre von ihrem Leben entfernt vorkommen. Doch Asselborn als Spitzenkandidat aufzubieten, war so gut wie unmöglich: Schneider stand in der Kontinuität von 2013, als er für die LSAP den Verbleib in der Regierung rettete. Diesmal wollte er mit noch mehr Entschlossenheit Premier werden; die Partei wollte mit ihm gehen. Dagegen hatte sich Asselborn, ungeachtet aller Popularität, als um die Welt jettender Außenminister zu weit von der Realität der Partei entfernt.
Hinter der enormen Beliebtheit mancher LSAP-Politiker ist auch ein Problem verborgen: Es ist eine Männerriege, die da unter sich ist, und es sind überwiegend Ältere. Die LSAP ist eine Partei, in der junge Mitglieder es schwer haben, sich zu entfalten, und Frauen oft nur als semi-autonome Wesen anerkannt werden. Die „Erneuerung“ und „Verjüngung“, die die Parteiführung seit Sonntag beschwört, wird alles andere als leicht: Viel Nachwuchs gibt es gar nicht, und damit er nicht die Lust an der LSAP verliert, ist eine mittlere Kulturrevolution vonnöten.
Aber vorher steht die Frage, ob die aktuelle Koalition eine Zukunft hat. Falls nicht, und die CSV mit der DP eine Regierung bildet, kann nicht ausgeschlossen werden, dass es zu einer Rentenreform kommt und vielleicht auch zu einer Gesundheitsreform, die ausweitet, was es an Zwei-Klassen-Medizin schon gibt. Hätte die LSAP sich gleich in die Opposition verabschiedet, müsste sie sich nicht nur vorwerfen lassen, diese Reformen durch Kapitulation ermöglicht zu haben. Sie wären auch schwer zu revidieren, falls die LSAP wieder einmal an einer Regierung teilnähme. Zieht sie sich erst nach gescheiterten Gesprächen zu „Gambia 2.0“ zurück, wahrt sie ihr Gesicht. Letztlich meinten Alex Bodry und Claude Haagen am Montag dasselbe. Die beste Option für die Sozialisten ist die Politikgestaltung in der Regierung. Hinzuzufügen wäre, dass „Gambia“ sich dazu besser eignet als eine ebenfalls mögliche Koalition mit der CSV: Dort könnte die LSAP in ihre selbstzerstörerische Rolle zurückfallen. Dagegen könnte sie versuchen, mit den Grünen Ideen zur Gestaltung des Landes vor dem Hintergrund eines zunehmenden Klimarisikos zu entwickeln, die auch sozial fortschrittlich wären. Das wäre schwer, aber immerhin neu und spannend, und könnte es auch für die DP sein. Vielleicht könnte es sogar jungen Menschen Lust auf Politik machen.