Abmachung „Dass es absolut evident wäre, dass auch mit uns geredet würde. [...] Es wäre normal, legitim, dass mit der CSV geredet wird. [...] Wir erwarten, dass mit uns geredet wird. [...] Ich finde es anormal, dass hier nicht mit uns geredet wird“, flehte Claude Wiseler in der Fernsehdebatte am späten Sonntagabend. Sieben Stunden zuvor hatte er sich noch als künftiger Regierungschef gefühlt. Nun wollte er bloß noch zur Kenntnis genommen werden.
Das war ein historischer Tiefpunkt der stolzen CSV, die seit 1919 im Verein mit dem Bistum, dem Luxemburger Wort, dem LCGB, sonstigen Sturmtruppen und einem Heer von Vertrauensleuten in allen Schlüsselpositionen des Staats die nationale Politik dominierte. Bis die Staatspartei mit dem Staat und der Staat mit der Staatspartei zum CSV-Staat verwachsen war.
Dabei war alles gewissenhaft vorbereitet gewesen. Die schwungvollen jungen Männer von DP, LSAP und Grünen, die 2013 die Fenster des verstaubten CSV-Staats weit aufzureißen versprochen hatten, hatten sie nach mehreren politischen Niederlagen 2015 rasch wieder geschlossen (d’Land, 12.10.2018). Sie waren bereit gewesen, der CSV am Sonntag den fünf Jahre lang treuhänderisch verwalteten und hie und da um das Nötigste modernisierten CSV-Staat zu übergeben. Um dabei wieder oder erstmals in die subalterne Rolle des Mehrheitsbeschaffers für die CSV schlüpfen zu dürfen, hatten sie sich im Wahlkampf gehütet, ein böses Wort gegen die CSV und ihren Spitzenkandidaten zu sagen.
Auch die CSV hatte sich auf eine störungsfreie Übernahme vorbereitet. Sie hatte versprochen, mit der Verwaltung der Staatsgeschäfte dort fortzufahren, wo DP, LSAP und Grüne aufgehört hatten, keine ihrer Reformen zurückzunehmen, weder die Trennung von Kirche und Staat noch die Lockerung des Abtreibungsverbots. Ihr Spitzenkandidat schwor sogar Stein und Bein auf Rifkin und Asteroidenbergbau.
Schließlich hieß es, das so erfolgreiche Luxemburger Modell von niedrigen Lohnnebenkosten, dem Anzapfen fremder Steuerbemessungsgrundlagen, Schuldenbremse, billigem Benzin und der friedlichen Verdingung ausländischer Arbeitskräfte nicht durch politische Erschütterungen aus dem Schlaf der Gerechten zu reißen und auch nicht die politisch ausgeschlossenen Klassen, die das Statec zwei Tage nach den Wahlen beschönigend „armutsgefährdet“ nannte. Symbol dieser seit Jahrzehnten als „Politik der Kontinuität“ beschworenen Abmachung war die Straßenbahn, die von der LSAP erdacht, von der CSV geplant, von den Grünen eingeweiht worden war, und von der CSV verlängert werden sollte, während die DP dagegen und dafür war.
Claude Wiseler und seiner Leibgarde aus der Parteiführung war am Sonntag anzusehen, dass Konservative die Welt nicht mehr verstehen, wenn nur keine Fehler zu machen sich als der größte Fehler erweist (siehe Seite 6). Sie hatten es fertiggebracht, die Juncker-Nachfolge ohne größere Zerreißprobe zu regeln, und wollten bis zum 14. Oktober nichts falsch machen. Dann würde ihnen die Macht nach fünfjähriger Kunstpause schon in den Schoß fallen, kämen die 2013 zur DP abgewanderten Wechselwähler schon zurück, hätten DP, LSAP und Grüne schon genügend Unzufriedene gegen sich aufgebracht, um ihre knappe Mehrheit zu verlieren. So lautete das Kalkül, und alle seit dem Frühjahr 2014 von Luxemburger Wort und RTL veröffentlichten Wählerbefragungen, die Ergebnisse der Europawahlen und der Gemeindewahlen bekräftigten sie in dieser Ansicht.
Um bloß keine Fehler zu begehen, hatte die CSV ihr Wahlprogramm bis zum letzten Augenblick hinausgezögert, die rechten Rabauken in der Partei Kreide fressen lassen und den scheinbar idealen Kandidaten aufgestellt: Claude Wiseler, den sanften Studienrat und Schwiegermutterliebling aus dem besseren Wohnviertel, der zurückhaltend und manierlich den modernen Konservativen in allen Lebenslagen gab. Er hatte alles zurückgenommen, was er als frisch gewählter Spitzenkandidat zum Bevölkerungswachstum, den Gemeindefusionen und der Rentenversicherung gesagt hatte. Claude Wiseler war mehr als das Versprechen, er war die Verkörperung der diskreten Übernahme des von DP, LSAP und Grünen wie ihren Augapfel gehüteten CSV-Staats, einer für das bloße Auge kaum wahrnehmbaren Amtsübergabe von einem durchsichtigen Premier zu einem farblosen Premier, damit die so erfolgreiche Trickle-down-Ökonomie nicht gestört würde.
Implosion Dann geschah das Unfassbare: Am Sonntag fiel der Stimmenanteil der CSV von 34,05 auf 28,90 Prozent, das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte. Im Zentrum, wo ihr Spitzenkandidat antrat, verlor sie 7,17 Prozentpunkte, im sehr konservativen Osten 7,50 Prozentpunkte, im Süden ohne Jean-Claude Juncker 5,33 Prozentpunkte, im Norden, wo Charles Goerens nicht mehr die rechten Liberalen bediente, 1,46 Prozentpunkte. Statt wenigstens die nach der Regierungskrise 2013 verlorenen drei Abgeordnetenmandate zurückzuerhalten, verlor die CSV zwei weitere. Im Ösling und an der Mosel retteten einige hundert Restsitzstimmen sie vor einem den Stimmenverlusten angemessenen Verlust weiterer Mandate.
Was Jean-Claude Juncker vor fünf Jahren lustlos und selbstzerstörerisch angerichtet hatte, verschlimmerte Claude Wiseler noch, weil er bloß keine Fehler machen wollte. Um eine möglichst diskrete Übernahme des CSV-Staats vorzunehmen, hatte die CSV so weit darauf verzichtet, die Regierungspolitik zu desavouieren, dass die Wähler keinen Unterschied mehr zwischen Regierung und CSV erkannten. Sie sahen nur das müde, graue Personal und ihr ratloses Programm.
Am wenigsten verlor die CSV noch in jenen Gemeinden, wo die DP am meisten verlor, wie in Winkringen, Ettelbrück, Ulflingen, Diekirch, Clerf, Rambruch, Wiltz oder Contern. Aber das war nicht die erwartete Rückkehr der unzufriedenen Wechselwähler von 2013. Denn der Rückgang der CSV war allgemein und landesweit: Von den 45 größten Gemeinden hatte die CSV nur in zwei Gemeinden nicht verloren, in Ulflingen und Winkringen.
Vielleicht ist das alles nicht bloß die Schuld von Claude Wiseler, vielleicht nicht einmal der CSV allein. „Seit dem brillanten Comeback von 1979 werden unsere Resultate immer schlechter“, hatte die damalige Parteivorsitzende Erna Hennicot-Schoepges schon 1999 auf dem Wahlkongress der CSV in Grevenmacher geklagt. Dann gewann die Partei mit Jean-Claude Juncker, der eine „Zäsur“, eine „Streitkultur“ und ein Ende des „Konsensualismus“ versprach, 2004 und 2009 die Wahlen. Vielleicht waren, trotz aller Modernisierungsversuche der alten Klerikalen, diese mit dem Ausnahmepolitiker Jean-Claude Juncker gefeierten Wahlsiege nur eine Klammer in dem von Erna- Hennicot-Schoepges beklagten langsamen Niedergang. Vielleicht geht in einer veränderten Gesellschaft nicht nur die Zahl der gottesfürchtigen Bauern und verängstigten Hausfrauen zurück, sondern auch der Bedarf an einer konservativen Partei mit einem starken Staat, starken Familien und ständischem Ordoliberalismus.
Rettung Da war die Regierungskoalition schlauer, als sie sich nach 2015 bewusst wurde, wie blöd man sein müsste, um auf dem Gipfel eines Konjunkturaufschwungs die Wahlen zu verlieren. Dank der skrupellosen Rückkehr der modernen Sparkoalition zu den bewährten Gepflogenheiten eines sozialdemokratisierten CSV-Staats mit Steuersenkungen, Elternurlaub, Gehälterabkommen und kostenlosen Schulbüchern, sowie einigen sozialen Wahlversprechen der LSAP, brachten DP und LSAP es am Ende fertig, weniger Stimmen zu verlieren als die CSV.
Die DP verlor zwar in zwei Drittel der 45 größten Gemeinden. Doch hätte sie nicht um einige hundert Stimmen im Zentrum einen Restsitz an den grünen Koalitionspartner verloren, wäre die Zahl ihrer Abgeordneten sogar unverändert geblieben. Auch sie hatte im Wahlkampf versucht, bloß keine Fehler zu machen, wenn auch erfolgreicher: Sie hatte auf allen Plakaten mit ihrem Premier geworben und gleichzeitig alle Konfrontationen mit den fachlich überlegenen Gegenkandidaten verhindert (siehe Seite 5).
Die LSAP verlor flächendeckend wie die CSV in 40 der 45 größten Gemeinden Stimmen. Doch mit einem Verlust von 2,44 Prozentpunkten kam sie an dem Desaster vorbei, mit dem sie gerechnet hatte. Der Stimmenverlust war in der Größenordnung von 2013, als sie kein Mandat verloren hatte, doch diesmal verlor sie deren drei, darunter um einige hundert Stimmen einen Restsitz im Norden. Das erscheint auch als eine weitere Episode im schleichenden Niedergang der Luxemburger Sozialdemokratie, der Ende der Sechzigerjahre mit der Canapés-Politik und Spaltung begonnen hatte und nur kurz von der Wiedervereinigung verschleiert worden war (siehe Seite 7). Die LSAP hat den Glauben an sich selbst verloren, aber am Ende der Legislaturperiode könnte sie zwei Jahrzehnte lang ununterbrochen in der Regierung gewesen sein.
Doch obwohl die Regierung kaum soziale Reformen aufzuweisen hat, führte der weitere Rückgang der LSAP nicht zu einer nennenswerten Stärkung von Parteien zu ihrer Linken, von déi Lénk und KPL. Der Stimmenanteil von déi Lénk stieg lediglich um ein halbes Prozent, das sie eher den Kommunisten als der LSAP abgetrotzt zu haben scheint; sie verpasste das erhoffte dritte Parlamentsmandat. In den Gemeinden, wo die LSAP viel verlor, wie Käerjeng, Junglinster, Sandweiler, Niederanven, Schüttringen, Esch-Alzette oder Mamer, waren es die Grünen, die am meisten gewannen.
Alternative Die geplante geräuschlose Übergabe des CSV-Staats ließ jedoch nicht nur rechte Wähler keinen Unterschied mehr zwischen CSV, DP und LSAP erkennen. Den liberalen Wählern ging es offenbar nicht besser, schließlich verloren, was bisher selten vorkam, mit der CSV auch DP und LSAP. Der Block von CSV und ihren sich abwechselnden Mehrheitsbeschaffern LSAP und DP, der seit dem Krieg jede Regierung unter Ausschluss erst der Kommunisten, dann der ADR, stellte, verlor solidarisch 9,16 Prozentpunkte. Dafür gewannen in der liberalen Mitte die Grünen/Piraten 8,39 Prozentpunkte.
In den 45 größten Gemeinden gewannen die Grünen in 44 Gemeinden, mit Ausnahme von Remich. Über ihre ursprüngliche Wählerschaft von Umweltschützern und Vegetariern hinaus haben ihre Regierungsmitglieder gezeigt, welch gewissenhafte Technokraten sie geworden sind, wenn es heißt, Fahrradwege zu planen, Straßenbahnen einzuweihen und Füchse zu schützen. Diese Wahlen waren der Triumph eines liberalen, umweltbewussten Kleinbürgertums, das das Getto der Oekofoire verlassen hat und mit der moralischen Überlegenheit von Radfahrern selbstbewusst einen Teil der Macht beansprucht.
Doch um politisch für voll, das heißt koalitionsfähig genommen zu werden, mussten die Grünen Jup Webers kurze Hosen gegen Anzug und Krawatte eintauschen, auf den Spaßfaktor verzichten, der sie von den anderen Parteien unterschied und für Jugendliche attraktiv machte. Deshalb entdeckte eine neue Generation Wähler die Piratenpartei als neue Jugendpartei und Ersatz für die Grünen samt Tierschutz und Esoterik (siehe Seite 9). Die Piraten gewannen in allen 45 größten Gemeinden Stimmenanteile gegenüber 2013 hinzu, oft dort am meisten, wo die Grünen am wenigsten gewannen, wie in Remich, Mersch, Bissen, Wiltz, Rambruch, Mertert, Kayl oder Schifflingen. Ihr libertäres Image, ihr Eklektizismus und Opportunismus, ihre aufwändige Werbekampagne brachten die Partei mit zwei verfeindeten Abgeordneten zu einem Zeitpunkt ins Parlament, da die Piraten in anderen Ländern schon wieder am Verschwinden sind.
Die ADR hatte schon wieder an den großen Sieg und die Rückkehr zur alten Stärke der Rentenpartei geglaubt. Im Trend der Zeit hatte sie das ganze nationalistische und protektionistische Geschütz ausgefahren, damit in 41 der 45 größten Gemeinden Stimmen gewonnen, aber im Durchschnitt doch nur 1,78 Prozentpunkte (siehe Seite 8). Wenn sie ein viertes Abgeordnetenmandat erhielt, dann nicht im Süden oder Zentrum, wo sie die stramm rechten Lautsprecher der Referendums-Kampagne aufgestellt hatte, sondern im Norden mit einem altgedienten Kommunalpolitiker. Einen Restsitz für den nicht weniger altgedienten Ehrenpräsidenten Robert Mehlen verpasste sie im Osten um einige hundert Stimmen.
So wie die Linke und die KPL nur wenig von den Verlusten der LSAP profitieren konnten, profitierte die ADR in einem international reaktionären Klima nur wenig von der historischen Niederlage der CSV. Das gehört zu den bemerkenswerten Ereignissen dieser Wahlen.