Vielleicht hatten die Regierung und die Taskforce Research Luxembourg vergangene Woche zu dick aufgetragen. Die ganze Bevölkerung werde demnächst auf das Coronavirus getestet, wenn es sein muss, mehrfach, und die Grenzpendler auch. Kein anderes Land der Welt schaffe sowas.
Doch weil in der Krise viele Journalisten zwangsläufig einen Crash-Kurs in Epidemiologie durchmachen, wurde schon auf der Pressekonferenz gefragt, was es denn bringe, die Leute ein paar Mal auf das Virus zu testen – sie könnten sich ja zwischendurch immer wieder anstecken. Und dann enthüllte Reporter zwei Tage später am 30. April, dass es um die Tests an den geplanten 17 Drive-in-Sta-
tionen und die 500 000 Kits zur Virusdetektion einen eigenartigen Deal gegeben haben muss: Die Laboratoires Réunis aus Junglinster werden die Tests vornehmen – nur sie und anscheinend ohne öffentliche Ausschreibung. Bei der Herstellerfirma der Test-Kits, Fast Track Diagnostics aus Esch/Alzette, handelt es sich um eine ehemalige Start-up der Laboratoires Réunis, und die waren der jungen Firma bei der Qualitätssicherung ihrer Kits behilflich. Allerdings hatte Fast Track Diagnostics, die seit 2017 zum Siemens-Konzern gehört und eine ganze Palette von Test-Kits für Infektionskrankheiten verkauft, um den Jahreswechsel fast sein gesamtes Sortiment wegen Zweifeln an der Zuverlässigkeit vom Markt nehmen müssen. Ist die halbe Million Corona-Kits vielleicht auch nicht gut?
So kommt es, dass sich nicht nur die Frage stellt, wie sinnvoll für die öffentliche Gesundheit die Massentests auf das Virus wären. Das Projekt, das das Luxembourg Institute of Health (LIH) sich ausgedacht hat, entwickelt sich auch zum Politikum mitten im Notstand, auf das die Regierung nun den Deckel zu halten versucht: Das Gesundheitsministerium hat die Verantwortung dezent auf das Forschungsministerium geschoben. Da gehört sie irgendwie auch hin, denn DP-Forschungsminister Claude Meisch brüstete sich auf der Pressekonferenz am 28. April damit, dass die 40 Millionen Euro für das Large-scale testing aus dem Budget seines Hauses kommen. LSAP-Gesundheitsministerin Paulette Lenert aber hat sich immerhin für die Qualität der Test-Kits verbürgt: Dass deren Hersteller fast alle seine anderen Produkte zurückziehen musste, „macht auch mir viele Sorgen“, sagte sie vergangenen Samstag im „RTL-Background“. Die Sars-CoV-2-Tests aber seien „in Ordnung“.
Am liebsten jedoch scheint die Regierung nun so wenig wie möglich mit den Massentests zu tun haben zu wollen. Romain Martin, Erster Regierungsrat im Forschungsministerium, hatte schon vergangene Woche zu Reporter gesagt, die Auswahl der Dienstleister für die bis zu 20 000 Tests pro Tag sei Sache des LIH gewesen. Dem Tageblatt vom 2. Mai erklärte auch Paulette Lenert, Träger des Projekts sei das LIH. „Es fällt nicht in meinen Verantworungsbereich.“ Ihres Wissens nach habe das LIH die Ausschreibungskommission damit befasst, „so dass ich davon ausgehe, dass sämtliche Prozeduren eingehalten wurden“. Auf RTL am Samstag gab Lenert sich Mühe, den Eindruck zu zerstreuen, es handle sich um Bevölkerungstests: „Das habe ich nicht gesagt.“ Die ganze Bevölkerung testen zu wollen, sei nur eine Umschreibung für die besondere „Qualität“ der Initiative.
Weil das Risiko besteht, dass die Affäre um das Large-scale testing die Glaubwürdigkeit der Luxemburger Forschung beschädigt, ausgerechnet zu einer Zeit, in der ihre Expertise dringend gebraucht wird, hat die Taskforce Research die Flucht nach vorn angetreten: Sie kommuniziert, wenn man sie fragt, und in der Maison du Savoir in Belval traten gestern Vormittag drei Professoren vor die Presse, an der Spitze Ulf Nehrbass, Sprecher der Taskforce, der auch CEO des LIH ist. Das Timing der Konferenz war bemerkenswert: Kurz danach, um 14 Uhr, sollte Premier Xavier Bettel in der Abgeordnetenkammer eine Erklärung zur Krise und zum „Déconfinement“ abgeben, anschließend debattiert werden. Für ihre Exit-Strategie braucht die Regierung die Wissenschaftler, aber je näher der Exit rückt, umso mehr will die Opposition zurück in ihre Rolle, und wie die Dinge liegen, reibt die CSV sich nicht zuletzt an den offenen Fragen um die Groß-Tests. „Die bringen überhaupt nichts“, ist CSV-Präsident Frank Engel überzeugt. Aus der CSV-Fraktion wurden dazu drei dringende parlamentarische Anfragen gestellt, deren Dringlichkeit aber nicht anerkannt wurde. „Dringend ist nur, was die Regierung zu sagen hat“, regt Engel sich auf. „Will man etwas wissen, bekommt man zur Antwort, dass Notstand herrscht. Wenn meine Mehrheit im Parlament nur einen Sitz beträgt, wäre ich da vorsichtiger“, erklärt Engel dem Land.
Wäre vor einer Woche nicht so dick aufgetragen worden, und hätte man mit den „weltweit einzigartigen“ Tests kein Nation Branding betrieben und mit Erwähnungen wie: „Wer negativ getestet wird, wird vom Lockdown befreit“, für Verwirrung gesorgt, hätte man schon damals sagen können, dass einfach viel getestet werden soll. Um die Lockerung der kollektiven Quarantäne zu begleiten, in möglichst vielen Wirtschaftsbranchen die Aktivitäten wieder hochzufahren und in der Gesellschaft im Allgemeinen auch. Ohne dabei zu riskieren, dass die Infektionen derart zunehmen, dass erneut ein Lockdown verhängt werden müsste, und dass man sich dazu ein Konzept gegeben hat. Letzten Endes, sagt Jean-Claude Schmit, Virologe und Chef des Gesundheitsamts, sei die Zahl der Neuinfizierten, ebenso wie die der Todesfälle und die Beanspruchung von Intensivbetten in den Spitälern „späte Indikatoren“, denn sie bildeten ein vergangenes Geschehen ab. „Wir brauchen einen ganz frühen Indikator für die Zirkulation des Virus in der Bevölkerung, auch für asymptomatisch Infizierte.“ Der Ansatz laute deshalb, „Cluster-Prävalenzen“ zu ermitteln. In jeder Gruppe, für die der Lockdown gelockert wird – die Baubranche, die Primaner, dann die anderen Sekundarschüler, der Handel und so fort –, werde eine repräsentative Stichprobe auf das Virus getestet. Das sei bereits gemacht worden oder im Gange. Später gebe es in diesen Gruppen weitere Stichprobentests, im Baubereich laufe derzeit der zweite, zwei Wochen nach Öffnung dieses Sektors. „Je mehr Sektoren wir öffnen, umso mehr Testkapazitäten brauchen wir, eventuell könnten wir sogar einen ganzen Sektor testen, falls eine Prävalenzstudie beunruhigende Resultate zeigt.“ Sektor für Sektor werde weitergetestet, darunter auch Grenzpendler. „Die Pendler sind eine Spezifizität von Luxemburg; dass wir nicht in einem abgeschlossenen System arbeiten, macht die Sache schwieriger, aber nicht unmöglich.“
Was alles möglich wäre – Lockerungen der Kollektiv-Quarantäne zum einen und ungute Entwicklungen der Epidemie zum anderen –, hat die Forscher-Taskforce für die Regierung simuliert. Diese Arbeit hat eigentlich erst vergangene Woche so richtig begonnen: Erste Ergebnisse waren vor zwei Wochen auf dem Open-Data-Portal data.public.lu erschienen. Die zweite Runde habe die Regierung vergangenen Sonntag erhalten, sagt Paul Wilmes, Professor für Systembiologie am LCSB und Vizesprecher der Taskforce, dem Land. Die Resultate beider Modellierungen unterscheiden sich zum Teil stark: Die erste basierte auf Annahmen, die in Wuhan gewonnen worden waren und in der Wissenschaftsliteratur stehen, die zweite dagegen auf Luxemburger Daten. „Bei uns begann der Ausbruch viel schneller als in Wuhan und es wurden ebenfalls viel schneller als dort strenge Maßnahmen verhängt. Damit haben wir ab Mitte März noch die Kurve gekriegt“, so Wilmes. Was sich unter anderem in dem theoretischen Szenario ausdrückt, hebe man den Lockdown komplett auf, sei bis Ende des Jahres mit bis zu 8 000 Todesfällen zu rechnen. Vor zwei Wochen, mit Wuhan-Daten, hatte die Simulation vier Mal weniger ergeben.
Optimistischer fallen dagegen die neuen Simulationen für verschiedene Szenarien aus, in denen das Confinement gelockert würde: „In den ersten Simulationen hatten wir unterstellt, dass die Sozialkontakte dieselben wären wie vor dem Ausbruch, was natürlich nicht mehr stimmt.“ Und so kommt die Taskforce beispielsweise zu dem Schluss, dass die 63 000 Bauarbeiter wieder an ihre Arbeitsplätze zu schicken und die Primaner und ihre Lehrer wieder in die Lyzeen, kaum ins Gewicht fiele für das Infektionsgeschehen – selbst ohne breites Testen und ohne ein Contact Tracing, das alle Personen aufzuspüren vermag, mit denen positiv Getestete in den letzten fünf bis sechs Tagen Kontakt hatten. Anders wäre es, wenn auch der gesamte Einzelhandel sowie Friseur- und Kosmetiksalons wieder geöffnet würden: Dann könnte es so viele Infektionen geben, dass im September/Oktober an die 60 Intensivbetten für schwer Covid-Kranke benötigt würden – eine Zahl, die die Gesundheitsministerin am Montag als Maximum nannte, das sich über längere Zeit aushalten lasse. Würden die Öffnungen dagegen von den breiten Tests und Kontakt-Nachverfolgung begleitet, sei die Beanspruchung der Intensivbetten um rund ein Drittel kleiner und bis zum Jahresende mit um etwa 40 Prozent weniger Sterbefällen zu rechnen als den rund 600 ohne Tests und Contact Tracing.
Was mehr private soziale Kontakte mit sich brächten, hat die Taskforce ebenfalls simuliert – und wurde anschließend überrascht vom Beschluss der Regierung, ab kommenden Montag im Freien Versammlungen von bis zu 20 Personen zu erlauben. „Sechs Besucher pro Haushalt wären bei der gegenwärtigen Infektionslage wahrscheinlich kein Problem“, so Wilmes, „aber würde jeder die Versammlungen im Freien so verstehen, Grillfeste mit 20 Gästen zu veranstalten, würde das einen neuen Ausbruch auslösen.“ Einem Dokument zufolge, das in der Abgeordnetenkammer verteilt wurde, empfehlen die Wissenschaftler unter anderem auch, Restaurants, selbst wenn dort zwei Meter Abstand zwischen den Tischen eingehalten würden, nur schrittweise wieder zu öffnen, um die Auswirkungen beobachten zu können.
Aus Wissenschaftlersicht folgt das auch aus den vorläufigen Ergebnissen der Con-Vince-Studie: Sie testet über Monate hinweg eine repräsentative Stichprobe von 1 818 Personen sowohl auf das Virus als auch auf Antikörper, die wahrscheinlich Immunität versprechen – was aber noch nicht sicher ist. Sicherer ist dagegen, dass die Corona-Epidemie in Luxemburg noch am Anfang steht. Wer gedacht hatte, dass die Bevölkerung schon intensiven Kontakt mit dem Virus hatte, irrt: Ganze fünf Studienteilnehmer (0,3%) waren Virus-positiv, 85 Personen (1,9%) weisen Antikörper auf. Umgelegt auf die Gesamtbevölkerung, wären das nicht mal 1 500 Personen.
Für das Konzept, mit aufwändigen Tests den Ausbruch zu verfolgen, folge daraus, schnell die nötigen Kapazitäten aufzubauen, sagt Ulf Nehrbass. Und: „Die Tests sind freiwillig, aber das Konzept funktioniert nur, wenn möglichst viele mitmachen.“ Nehrbass liegt auch daran zu versichern, dass nicht etwa die Wissenschaftler bestimmten, wie der Umgang mit der Krise auszusehen hat: „Wer getestet wird, entscheidet die Politik.“ Um die „Kontingente“ gab es Aufregung. Einerseits, weil man das verstehen konnte, als werde, jeweils zu 50 000 Personen, nach und nach die ganze Bevölkerung getestet und demnächst bekäme jeder einen Brief. Andererseits schien das unsinnig, weil sich Nichtinfizierte aus einem Kontingent ungehindert mit womöglich Infizierten aus dem Rest der Bevölkerung treffen könnten. Wofür die Chancen ab kommenden Montag ja wachsen. Vom „Monitoring pro Sektor“ spricht man erst jetzt.
Und es stehen politische Fragen im Raum. Die CSV will Ministerin Lenert nächste Woche im parlamentarischen Gesundheitsausschuss zu Teststrategie und Auftragsvergabe befragen. LIH-CEO Nehrbass sagt dem Land, was derzeit geplant ist, sei nur für drei Monate gedacht, nur dafür habe das LIH auf die Laboratoires Réunis zurückgegriffen, ohne den Auftrag auszuschreiben. „Wir wollten die Kapazität schnell aufbauen, bis zum Herbst warten wollten wir nicht.“ Den Test-Kit von Fast Track Diagnostic habe das LNS überprüft: „Er zeigte hohe Sensitivität und war verfügbar zu einer Zeit, als es extreme Engpässe gab und sogar Beschlagnahmungen von Material.“