Viertel vor acht am Jongelycée (LGL) auf dem Limpertsberg. Eine Handvoll Schüler mit blauen Gesichtsmasken und schwarzen Schals wartet hinter dem Eingangstor darauf, sich die Hände mit durchsichtigem Gel zu desinfizieren. An rot-weißen Verkehrshütchen geht es mit anderthalb Metern Sicherheitsabstand über die steinerne Treppe hinauf in die Klassensäle. „Es ist gewöhnungsbedürftig, aber bisher läuft es“, sagt Schuldirektor Frank Eyschen, der im sportlichen Hemd und mit freundlich funkelnden Augen hinter der Maske das Willkommenskomitee bildet.
„Wir hatten den Schülern am Donnerstag eine Mail mit den Regeln und Plänen geschickt“, erklärt Eyschen, während er auf eine Stellwand mit Plänen voller Pfeilen zeigt. Wie in den anderen Lyzeen haben der Schulleiter und sein Team die Treppen nach dem Einbahnstraßensystem markiert, um zu vermeiden, dass sich zu viele Schüler beim Gang ins oder vom Klassenzimmer begegnen. Die Einhaltung der Regeln wird streng kontrolliert: „Ihr müsst durch den anderen Gang gehen“, ermahnt Eyschen zwei Schülerinnen, die die Markierungen am Boden übersehen haben.
Normalerweise herrscht um diese Uhrzeit reges Leben auf den Gängen, Stimmen rufen durcheinander, Schüler laufen die Stufen hinauf und hinab. „Es ist gut, die erste Woche mit den Abschlussklassen zu starten. Die Älteren sind disziplinierter, und wir können testen, falls etwas fehlt oder nicht funktioniert“, so Eyschen. Ab nächster Woche, wenn die anderen Sekundarschüler hinzukommen, wird die Zahl von acht Klassen auf 46 sprunghaft steigen. Aber auch diese Klassen werden in zwei Gruppen, Lern- und Übungsgruppe, aufgeteilt, die sich wöchentlich abwechseln. „Es fehlen noch Plexiglasschutzschilder“, sagt Frank Eyschen. Sie werden in Belgien produziert.
Jede Schule konnte ankreuzen, was sie an zusätzlichem Schutzmaterial benötigt: von Masken und Gel über Warnschilder bis hin zu Plexiglasabtrennungen. Bisher wurden 300 000 Gesichtsschals (pro Schüler und Mitarbeiter zwei) und 28 000 Flaschen Desinfektionsmittel bestellt. Einer vorsichtigen Schätzung zufolge belaufen sich allein die Materialkosten auf rund zwei Millionen Euro. Für die Schulen bedeuten die Rahmenbedingungen einen organisatorischen Kraftakt: Mit weniger Personal und maximal fünf Unterrichtsstunden täglich müssen sie neue Stunden- und Einsatzpläne aufstellen. Das heißt: Die meisten Wahlfächer fallen weg, Sport aus Sicherheitsgründen sowieso; der Akzent liegt auf den Hauptfächern.
Examen im Turnsaal 96 Prozent der SchülerInnen, teilte Erziehungsminister Claude Meisch (DP) vor Journalisten am Dienstag im Kirchberger Europazentrum mit, seien dem Aufruf zurückzukehren gefolgt. Die, die Montag daheim blieben, zählen zu den besonders schutzbedürftigen Risikogruppen, sind also chronisch krank oder haben jemand Kranken in der Familie. Damit scheint klar: Der Aufruf der Lehrergewerkschaft SEW und der Unel, die Schülern wählen zu lassen, ob sie die verbleibenden zwei Wochen vorm Examen noch einmal zum Lernen in die Schule kommen, findet augenscheinlich wenig Resonanz.
Und doch gibt es Kritik an der Vorgehensweise des Erziehungsministers. „Ich hätte gerne die Wahl gehabt, ob ich daheim lerne oder in der Schule“, sagt eine junge Frau im schwarzen Mantel, die mit Freundinnen ins Lyzeum Fieldgen eilt. „Das wäre dann aber als Schwänzen vermerkt worden.“ Auch andere Schüler, die das Land befragt hat, sind für Wahlfreiheit: „Ich habe mich gefreut, meine Klassenkameradinnen wiederzusehen. Aber ich kenne Freundinnen, die haben echt Angst“, sagt Melanie, Primanerin am Lycée Michel Lucius. Sie machen sich Sorgen, sich anstecken zu können und das Virus unabsichtlich an Familienangehörige weiterzugeben.
Andere, wie Steve, ebenfalls Primaner am Lycée Michel Lucius, bevorzugen aus anderen Gründen den Fernunterricht: „Erst musste ich mich umgewöhnen, aber dann konnte ich zuhause besser lernen. Weil ich meine Zeit frei einteilen kann.“ Seinen Lehrern habe er „vier- bis fünfmal am Tag geschrieben“, wenn etwas unklar gewesen war, so Steve, der zugibt, dass Klassenkameraden das anders sehen: „Manche Kollegen haben zuhause keine guten Lernbedingungen. Sie wollen zurück in den Unterricht, weil sie sich da besser konzentrieren können.“ Den Lerneffekt der Woche bis zu den Prüfungen bewertet Steve skeptisch: „Wir sind in zwei Gruppen aufgeteilt, eine mit Lehrer, eine mit Aufsicht und Livestream.“ Am ersten Tag sei die Internetverbindung zu wackelig gewesen und „am zweiten klappte der Ton nicht“. Trotzdem loben er und Schulkamerad Hugo die Lehrer, die meistens „rund um die Uhr erreichbar“ seien.
„Es ist kein Boykottaufruf“, betont Vicky Reichling von der Studentenorganisation Unel. „Wir wollen, dass Schüler selbst entscheiden können.“ Die Jugendlichen, obwohl die Hauptbetroffenen, seien zu keinem Zeitpunkt in die Planungen des Ministers einbezogen gewesen. „Es gibt Schüler, die sich Sorgen um ihre Gesundheit oder um die Gesundheit anderer machen. Das muss man ernst nehmen.“ Wenn drei Lehrergewerkschaften gemeinsam mit den Schülern Stellung beziehen, dann sage das „doch etwas aus“.
Informiert, nicht konsultiert Nolauschteren, zuhören, ist eine der beliebtesten und am häufigsten genutzten Vokabeln von Minister Meisch. Er habe mit vielen Akteuren gesprochen und „intensiv konsultiert“. Mit den Gewerkschaften, Psychologinnen und Wissenschaftlern, den ElternvertreterInnen, aber auch mit dem Syvicol und anderen, die die Sicherheitsmaßnahmen umsetzen.
Dass es – drei – Videokonferenzen mit dem Minister gegeben hat, bestreitet Patrick Remakel vom Grundschullehrersyndikat SNE nicht: „Wir werden informiert, aber wir können uns mit unserer Expertise nicht wirklich einbringen.“ Die Lehrergewerkschaft ist nicht als einzige verärgert: Wichtige Details zur Schulorganisation in der Corona-Zeit wurden als erstes von RTL gemeldet, noch bevor Schuldirektionen sie kannten. Das sorgt für Unmut, auch wenn grundsätzlich Verständnis für die Komplexität des Unterfangens herrscht, den Unterricht unter strikten Schutzmaßnahmen wieder aufzunehmen.
Aber was sind diese außer Maskentragen und Abstandhalten? Etwas stößt Schülern und Lehrern auf: „Es gibt weiterhin hundert Fragen zum Virus und wie es sich durch die Schulen verbreitet“, sagt Melanie vom LML. Die Primanerin hat sich entschieden, ihre Maske in der Klasse aufzubehalten, um auf Nummer sicher zu gehen. Manch Mitschüler sähe das lockerer: „Wir umarmen uns nicht, aber halten den Abstand ein.“
Eine eindeutige Antwort auf die Gretchenfrage – welche Rolle spielen Schulen und Kinder für das Infektionsgeschehen – blieb Meisch allerdings auch am Dienstag, zwei Wochen nach Ankündigung der ersten Lockerungs-Phase des Lockdown, schuldig. Zur Erinnerung: Die Schulen waren am 18. März geschlossen worden, mit der Begründung, Kinder könnten besonders zur Verbreitung des Virus beitragen. Jetzt soll es plötzlich weniger gefährlich sein, die Schulen wieder zu öffnen?
Die einzige Kinderärztin, die sich seit der Isolierung ausführlicher zum Übertragungsrisiko von Kindern geäußert hat, ist die Infektiologin Isabel de la Fuente Garcia vom hauptstädtischen CHL. Ihrer Erfahrung nach zeigte die „große Mehrheit“ der im CHL positiv auf Covid-19 getesteten Kinder, wenn überhaupt, dann nur milde Symptome, und war von ihren Eltern angesteckt worden, nicht umgekehrt. Auch hätten die Kinder nicht andere Kinder angesteckt.
Virologen raten zur Vorsicht Anders die rückwirkenden Beobachtungen an einem Gymnasium im nordfranzösischen Oise: Dort sollen sich binnen fünf Wochen mehr als 38 Prozent der Schüler, mehr als 43 Prozent der Lehrer und 60 Prozent des sonstigen Personals infiziert haben. Bei den Ansteckungen auf Geschwister und Eltern lag die Quote bei zehn bis elf Prozent. Ein beunruhigendes Ergebnis, das der deutsche Virologe Christian Drosten im Berliner Tagesspiegel so kommentierte: „Das sind Zahlen, da muss man schon sagen: Wenn das in Schulen passiert, dann darf man Schulen nicht öffnen. Da infizieren sich wirklich im Mittel über 40 Prozent.“ Drosten hat mit seinem Team vom Berliner Charité-Krankenhaus untersucht, welche Ansteckungsgefahr von Kindern ausgeht: Sie wiesen gegenüber Erwachsenen ähnlich unterschiedliche Viruskonzentration in den Atemwegen auf. Will heißen: Es ist nicht ausgeschlossen, dass Kinder hinsichtlich Covid-19 genauso ansteckend sind wie Erwachsene.
Vom Land damit konfrontiert, sagte Meisch am Dienstag, er kenne die Studie. Er habe sie aber nicht selbst gelesen und es stehe ihm nicht zu, sich als Politiker zu epidemiologischen Studien zu äußern und sie zu bewerten – um im nächsten Atemzug das zu tun: „Es wird nicht mehr gesagt, Kinder seien ansteckender als Erwachsene, sondern nur noch genauso ansteckend wie sie“, so seine positive Lesart. Allerdings würde die Analyse wiederum von anderen Forschern und Studien angezweifelt.
Gilles Baum, Fraktionspräsident der DP, zitierte am Mittwoch im Parlament seinerseits eine Untersuchung aus China, derzufolge Kinder nicht so ansteckend seien wie Erwachsene; genau die gegenteilige Aussage. Baums Hauptargument für die geplante Wiedereröffnung von Schulen und Kindergärten, das er und auch der Minister mehrfach wiederholte: Es sei wichtig, die Schule „propper ofzeschléissen“, Schüler zu benoten, um im nächsten Schuljahr dann „neu durchstarten“ zu können. Was der Abgeordnete nicht sagte: Bisherige Covid-19-Studien haben gemein, dass sie meist kleine Fallzahlen analysiert haben und in der Kürze der Zeit nicht von unabhängigen Experten überprüft wurden. Also sind sämtliche Ergebnisse mit Vorsicht zu genießen.
Eigene bereichsspezifische Testreihen sollen, laut Meisch, ein genaueres Bild von der Lage in Luxemburgs Schulen erlauben: Aber sie laufen gerade erst an und zu den ersten Tests von Abschlussschülern vor einer Woche waren nur knapp 40 Prozent erschienen. Wenig verwunderlich, denn Schüler der Hotelschule in Diekirch und der Ackerbauschule in Ettelbrück sollten beispielsweise um sieben Uhr morgens in Marnach zum Abstrich antreten.
Szenarien nicht transparent So gesehen, bleiben hinsichtlich des virologischen Szenarios der Schulöffnungen Schlüsselfragen ungeklärt, obwohl sowohl Xavier Bettel, Paulette Lenert als auch Claude Meisch ein ums andere Mal betonen, das Virus gebe den Takt der Lockerungen vor.
Wohl händigte die Regierung den Abgeordneten am Mittwoch nach mehrmaliger Aufforderung ein 17-seitiges Papier der Covid-19-Foschungsgruppe aus. Aber zum einen gelten die Sitzungsinhalte als vertraulich, zum anderen berüsichtigt das darin berechnete Szenario lediglich die Rückkehr von 6 000 Primanern und Lehrern am 4. Mai, nicht aber die Rückkehr von weiteren mehreren Tausend Sekundar- und Grundschülern. Das heißt, dass offenbar niemand sagen kann, was die Exitstrategie in Sachen Corona und Schulen ist. Und sie deshalb auch niemand unabhängig überprüfen kann. Zwar werden Klassen halbiert und in zwei Gruppen abwechselnd unterrichtet. Dabei ist stets ein Sicherheitsabstand von zwei Metern einzuhalten. Aber wie geht das bei Erstklässlern? Dort sollen festen Kleingruppen, die „nach außen isoliert“ sind, nach innen mehr Öffnung erlauben, so Meisch. Man sei mit dem Gesundheitsministerium dabei, nach Lösungen zu suchen. Auf welche Erfahrungswerte und Hypothesen stützen sich die Experten bei dieser Zielgruppe?
Und was geschieht für den Fall, dass wiederholte Tests ergeben, dass das Virus sich wieder mit erhöhter Geschwindigkeit verbreitet? Werden die betreffenden Schüler alle in Quarantäne gesetzt auf Gefahr hin, dass sie daheim Angehörige anstecken, die vielleicht zur Risikogruppe zählen? Wird effektiv geprüft, mit wem sie Kontakt hatten? Und wenn sich eine Klasse und das Personal dazu infizieren? Müssen diese Schulen dann schließen und die Lehrer wieder von zuhause aus unterrichten?
Neuseeland macht vor, wie eine transparente wissenschaftlich untermauerte Covid-19-Exitstrategie geht: Wie Luxemburg hat sich die sozialdemokratische Regierung von Jacinda Ardern für einen mehrphasigen Exit entschieden, der auf vier Alarmstufen basiert. Mit 21 Toten und einer Neuinfektion in 24 Stunden (bei insgesamt 1 139 positiv Getesteten) befindet sich das Land kurz vor Einläuten von Alarmstufe zwei. Nachdem auf Stufe drei Schulen nur für diejenigen Eltern und Schüler bis zehn Jahre geöffnet waren, die dringend Betreuung brauchen, sollen sie voraussichtlich ab nächster Woche allmählich zum Normalbetrieb zurückkehren. Anders als in Luxemburg können Interessierte dort nachlesen, mit welcher Alarmstufe welche Schutz- und Lockerungsmaßnahmen verbunden sind und welche Gesundheitsdaten und Prognosen dem unterliegen. Auch anonymisierte Testresultate und Informationen zu Covid-19-Positiven sowie die konsultierte Fachliteratur hat die Regierung veröffentlicht.
Er wolle „die Ängste und die Sorgen, die präsent sind, ernstnehmen“, zuhören und verstehen, hatte Claude Meisch auf der Pressekonferenz betont. Es würde helfen, wenn sein Ministerium zusammen mit dem Gesundheitsministerium endlich alle wissenschaftlichen Grundlagen und Expertenmeinungen veröffentlichen würde, auf denen ihre politischen Entscheidungen beruhen, damit die Bevölkerung sie besser versteht.