Seit einiger Zeit tauchen bis vor kurzem völlig ungewohnte Gefährte im Straßenbild auf, wie die elektrisch getriebenen Twizy-Kleinstwagen oder die computergesteuerten Hightech-Roller von Segway. Sie sehen nicht so aus, als ob sie die Fortbewegung bequemer oder schneller machen würden, aber als eine Art fahrende I-Phones sollen sie zuerst allen Passanten das bedingungslose Bekenntnis ihrer Fahrzeugführer zum technischen Fortschritt demonstrieren.
Am bemerkenswertesten ist aber vielleicht, dass diese lautlosen Gefährten des 21. Jahrhunderts manchmal ein in unseren Breitengraden ebenso ungewohntes lautloses Gefährten kreuzen, das aus finsteren Feudalzeiten zu stammen scheint, eine Rikscha. Nach dem Vorbild einer seit den Neunzigerjahren im Europa und Nordamerika aufkommenden Mode transportieren die von menschlicher Muskelkraft angetriebenen Rikschas gegen Bezahlung Passagiere oder Lasten. Gibt es in ausländischen Großstädten sogar Laufrikschas im traditionellen Kolonialstil, geht der Trend hierzulande eher in Richtung futuristisch verkleidete Fahrradrikscha. Die „taxi-vélo“ oder „vélo-cab“ werden als exotische Spaßgefährten für Touristen oder als nachhaltiger Beitrag zur sanften Mobilität angepriesen. Mit viel Anstrengung und manchmal der Unterstützung eines elektrischen Hilfsmotors drückt darin ein junger Mann sein und das Gewicht von ein oder zwei Passagieren durch die Hauptstadt. Der bescheidene Stundentarif beträgt etwa 20 Euro.
Rikschas sind vor allem aus Asien bekannt. Nach der Gründung der Volksrepublik China 1949 waren sie dort weitgehend aus dem Verkehr gezogen worden, weil der sich selbst Große Steuermann nennende Mao Zedong ein Zeichen setzen und für allemal Menschen von Lasttieren unterscheiden wollte. Doch seit der Wiedereinführung kapitalistischer Verhältnisse gehören Rikschas wieder zum chinesischen Straßenbild.
Vor diesem Hintergrund überraschen Rikschas im hiesigen Straßenbild um so mehr. Denn mit den Rikschas wird auch das Berufsbild des Rikschafahrers, des Kulis, eingeführt, des entfernten Nachfahren der hierzulande einst im Tagelohn stehenden Säckdréier und anderer Lastenschlepper. Auf den ersten Blick passt das gar nicht zu der viel gepriesenen Wissensgesellschaft, in der wir uns befinden wollen, zur dritten oder vierten industriellen Revolution, zum von Schulreform zu Schulreform vorangetriebenen Wettlauf um höhere Qualifikation und ständiger Produktivitätssteigerung mittels in der Cloud gestützter computergesteuerter Produktionsprozesse.
Doch auf den zweiten Blick passt der Rikschakuli durchaus in eine Epoche, da unter einer Verschärfung des wirtschaftlichen Konkurrenzdrucks die gesellschaftliche Fragmentierung zunimmt. Denn in einem der höchstentwickelten Industriestaaten der Erde ist der Kuli mit Turnschuhen und Rappermütze auch ein gleichzeitig karikaturales und ganz realistisches Symbol für die Entwertung der menschlichen Arbeitskraft, wie sie von der Massenarbeitslosigkeit in der Großregion vorangetrieben wird.
Bezeichnenderweise kostet eine Stunde Rikschafahrt um den Knuedler und über die Corniche einen Bruchteil der Miete eines unbeseelten Segway-Rollers. So als sei man ins 19. Jahrhundert zurückgekehrt, als zu Beginn der industriellen Revolution die menschliche Muskelkraft noch billiger zu stehen kam als die Maschine, die sie ersetzen sollte. Während der Kunde heute im Supermarkt eingeladen wird, an der automatischen Kasse die Preise der gekauften Waren selbst einzuscannen, ersetzt vor der Tür ein Rikschakuli die der Rationalisierung zum Opfer gefallene Kassiererin.
Ines Kurschat
Kategorien: Gesellschaftspolitik
Ausgabe: 07.09.2012