Luxemburgs Politiker standen am Montag dieser Woche, europäisch gesehen, in der ersten Reihe. Zuerst erschien ein Interview von Außenminister Jean Asselborn in den Stuttgarter Nachrichten, in dem dieser kräftig austeilte und vor allem an Deutschland und Frankreich, aber auch an Großbritannien schlechte Noten vergab. Deutschland und Frankreich würden in der Bewältigung der europäischen Schuldenkrise nationale Interessen als EU-Interessen ausgeben und beide Länder würden gemeinsam mit Großbritannien „den Rat als einzige, alles überragende Institution betrachten“. Auch zur Euro-Debatte fielen ihm starke Worte ein. Jean Asselborn erwartet, dass Deutschland der Einführung von Euro-Bonds zustimmt und erinnert das Land in diesem Zusammenhang daran, dass sich die europäische Solidarität auch auf den deutschen Willen gründe, „nie mehr Katastrophen zu produzieren“. Als Abschluss und Höhepunkt musste er am Dienstag das ihm vom deutschen Magazin Der Spiegel zugeschriebene Zitat dementieren, dass Deutschland ein „Land ohne Außenminister“ sei, obwohl dies die meisten Deutschen im Augenblick sicherlich für eine korrekte Zustandsbeschreibung halten werden.
Jean-Claude Juncker folgte am Montagnachmittag einer ebenso höflichen wie bestimmten Einladung des Wirtschafts- und Währungsausschusses des Europäischen Parlaments. Der halbe Souverän der Europäischen Union hatte den Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), Jean-Claude Trichet, den polnischen Finanzminister Jacek Rostowski, dessen Land zurzeit die rotierende Ratspräsidentschaft innehat, den für Wirtschafts- und Währungspolitik zuständigen EU-Kommissar Ollie Rehn und eben Jean-Claude Juncker in seiner Eigenschaft als Präsident der Euro-Gruppe in einer eigens dafür einberufenen Sondersitzung zum Rapport gebeten.
Den ersten Teil der Sitzung bestritt Trichet alleine. Damit wurde zu Recht augenfällig, dass die EZB derzeit die einzige wirklich handlungsfähige Institution der EU in der europäischen Schuldenkrise ist. Trichet sprach von „bescheidenem Wachstum in einem Umfeld von relativ gesunden wirtschaftlichen Fundamentaldaten“ in einer Zeit hoher Unsicherheit. Das Geldwachstum sei ebenfalls bescheiden, die Liquidität aber hoch. Damit widersprach er ausdrücklich der neuen IWF-Direktorin Christine Lagarde, die am Vormittag noch eindringlich staatliche Zwangseinlagen bei den europäischen Banken verlangt hatte, um deren erneuten Crash zu verhindern. Trichet betonte, dass sich die EZB an ihren Rechtsrahmen halte und unabhängig handelte, auch wenn sie zur Aufrechterhaltung der Liquidität staatliche Schuldverschreibungen aufkaufe. Nur der direkte Ankauf bei den Staaten selbst sei der EZB nach den Verträgen verboten, der Aufkauf auf dem Sekundärmarkt aber nicht.
Damit verteidigte er sich gegen die eine Woche zuvor erhobenen schweren Vorwürfe des deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff, der vor einer Versammlung von Ökonomie-Nobelpreisträgern der EZB vorgeworfen hatte, sie würde ihre Grenzen weit überschreiten. Die EU-Parlamentarier stimmten Trichet anschließend ausdrücklich zu und lobten seine Politik. Auf institutionelle Reformen ging Trichet nur ganz pauschal ein. Die EZB „erwarte“ von den Mitgliedstaaten eine strikte Haushaltsdisziplin und „eine effektive gegenseitige Überwachung“. Diese Maßnahmen müssten nun streng und zügig und mit „konkreten Maßnahmen“ umgesetzt werden. Dies gelte vor allem für die am 21. Juli vom Europäischen Rat beschlossenen Maßnahmen. Seine frühere Forderung nach einem europäischen Finanzminister wiederholte er nicht.
Der polnische Finanzminister Jacek Rostowski kritisierte die immer noch mangelnde Solidarität unter den Mitgliedstaaten. Ohne diese Solidarität sei die Krise nicht zu bewältigen, die Unfähigkeit, effiziente Entscheidungen zu treffen, habe die Krise verschlimmert, weitere institutionelle Reformen seien deshalb notwendig. Leider fehle es dazu immer noch an der notwendigen Einsicht. In einem Interview, das am gleichen Tag in der polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza erschien, wurde er deutlicher. Laut dem deutschen Focus sagte er dort, dass die europäischen Eliten, darunter die deutschen, entscheiden müssten, ob sie wollen, dass der Euro fortbesteht, selbst zu einem höheren Preis. Wenn nicht, müsse man die kontrollierte Auflösung der Euro-Zone vorbereiten. Dem Süden Europas bescheinigte er einen irrationalen wirtschaftlichen Ansatz, der es ablehnt, die Verantwortung für seine eigenen Probleme zu übernehmen und dem Norden Egoismus und das Fehlen von Solidarität mit Ländern, die Probleme haben.
Jean-Claude Juncker begann sein Statement mit einer launigen Einlassung, dass ihn die Krise viel von seinem Urlaub gekostet habe und erinnerte an das bayerische Sprichwort, dass man nicht jeden Tag eine neue Sau durch’s Dorf jagen solle. Damit distanzierte er sich von allen weiteren institutionellen Reformideen und referierte anschließend lediglich die Beschlüsse des Europäischen Rates vom 21. Juli. Das Vertrauen der Märkte könne man wiedergewinnen, wenn diese Beschlüsse bald umgesetzt würden. EU-Kommissar Olli Rehn stieß in das gleiche Horn, forderte die Umsetzung struktureller Maßnahmen und die Verabschiedung des „Sixpacks“, eines Gesetzespakets, das alle Mitgliedstaaten zur größerer Haushaltsdisziplin, zu Maßnahmen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und zum Abbau wirtschaftlicher Ungleichgewichte verpflichtet.
Was eine turbulente Sondersitzung der europäischen Volksvertreter in der Krise hätte werden können, wurde am Ende fast eine Friede, Freude, Eierkuchen-Veranstaltung. Fast alle Parlamentarier waren sich einig, dass die EZB gute Arbeit leiste und dass über kurz oder lang Euro-Bonds eingeführt werden müssten. Eine Diskussion, was das denn in der Praxis bedeute, fehlte allerdings völlig. Die Parlamentarier bemängelten zwar, dass die Regierungen die Schuldenkrise intergouvernemental, also ohne große Beteiligung von Kommission und Parlament lösen wollten, aber lediglich die portugiesische Abgeordnete Elisa Ferreira betonte, man müsse weiter und tiefer denken: „Wir brauchen eine Vision.“
Genau hieran mangelt es. Europa will sich durch seine fundamentale Krise hindurchmogeln, ohne seine Prämissen, seine Methoden und seine Möglichkeiten genauestens zu hinterfragen. Wer die europäischen Bürger für harte strukturelle Wirtschaftsreformen, Euro-Bonds und weitere Abgaben nationaler Rechte an die EU gewinnen will, muss ihnen ein Gesamttableau zeichnen, das mehr darstellt als nur eine Summe von Abwehrmaßnahmen, um anonyme Märkte zu beruhigen. Selbst an der Börse spricht man davon, dass dort Stories verkauft werden, Zukunftsideen, Geschichten. Wo ist die Story, die die Europäische Union schreiben will? Wer entwirft das Bild Europas in zehn, 20 oder 30 Jahren? Die europäischen Eliten lassen ihre Bürger im Regen stehen. Für sie gilt der Spruch Saint-Exupérys: Man sagt nichts Wesentliches über eine Kathedrale, wenn man nur von den Steinen spricht.