Wer führen will, muss die Richtung kennen. Diese einfache Wahrheit ist nicht erst in den letzten Wochen die Krux der Politiker. Seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 hecheln sie den Entwicklungen hinterher und versuchen, oft verzweifelt, zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Nicht mehr zu retten ist die überkommene Lebensweise der Westeuropäer, die seit den 1970-er Jahren den Staat Jahr für Jahr mehr verschuldet haben. Luxemburg mag hier als die Ausnahme gelten, die die Regel bestätigt. Nicht mehr zu retten ist auch die Überzeugung der europäischen Staats- und Regierungschefs, dass sie, und nur sie allein, die Geschicke der Europäischen Union bestimmen.
Es ist eine alte Erkenntnis, dass Deutschland und Frankreich Europa führen. An Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsidenten Nicolas Sarkozy hängt augenblicklich die Zukunft der Union, wenn man den Pessimisten glauben will, die uns weismachen wollen, an der Lösung der Schuldenkrise hänge nicht nur das Wohlergehen hochverschuldeter Staaten, sondern das Schicksal der gesamten EU.
Jacques Delors, der Vater des Gemeinsamen Marktes und Takt- und Ideengeber des letzten großen Integrationsschubes, der 1986 mit der Unterzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte in Luxemburg begann und mit dem Lissabonner Vertrag endete, sieht die EU am Rande des Abgrunds. In einem Interview, zeitgleich am 18. August im belgischen Le Soir und in der Schweizer Zeitung Le Temps erschienen, beschwört er ein Scheitern der Union, wenn diese nicht die Euro-Krise meistern werde. Damit sie das könne, müsse man entweder zu einem großen Integrationsschritt ansetzen oder die Staaten müssten eng auf wirtschaftspolitischem Gebiet zusammenarbeiten. Die gemeinsame Erklärung von Angela Merkel und Nikola Sarkozy zu einer europäischen Wirtschaftsregierung, die gleich am Tag danach für sinkende Börsenkurse gesorgt hatte, macht er lächerlich. Einen europäischen Finanzminister für die Euro-Zone nennt er ein „gadget farfelu“. Sein Allheilmittel neben mehr Integration oder verschärfter intergouvernementaler Zusammenarbeit ist ein Vergemeinschaftung der nationalen Schulden bis zu einer Höhe von 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Das ist der Grenzwert, der im allerersten Stabilitätspakt für den Euro als ein Stabilitätskriterium für alle Euroländer vorgeschrieben wurde.
Guy Verhofstadt, Vorsitzender der liberalen Fraktion im Europäischen Parlament, stößt einen Tag später, wieder im Le Soir, ins selbe Horn. Eine Wirtschaftsregierung arbeite jeden Tag und treffe sich mindestens zweimal die Woche und nicht nur zweimal im Jahr. Er fordert erstens automatische Sanktionen bei Fehlverhalten von Staaten, eine Kommission, die ein Kernkabinett zu allen Finanz- und Wirtschaftsthemen bildet und von ihrem Recht auf Gesetzesinitiativen Gebrauch macht und zum Beispiel einen Vorschlag für einen einheitlichen europäischen Markt für Schuldverschreibungen ausarbeitet. Er weist mit Recht darauf hin, dass der Rat eine Einigung über das so genannte Sixpack an europäischen Richtlinien und Verordnungen, die die Keimzelle einer europäischen Wirtschaftsregierung beinhalten, seit Monaten blockiert, weil das EP automatische Sanktionen fordert und der Rat Empfehlungen der Kommission nur mit qualifizierter Mehrheit aushebeln können soll.
Merkel und Sarkozy haben offensichtlich nicht viel richtig gemacht auf ihrem Gipfel am 17. August. In ihrem Brief an den Ratspräsidenten Herman Van Rompuy, in dem sie ihm den ständigen Vorsitz der Eurogruppe antragen, legen sie dar, wie ihre europäische Wirtschaftsregierung aussehen soll. Jean-Claude Juncker, der seit 2005 der Euro-Gruppe vorsteht, ist wohl nicht gefragt worden ( siehe S. 5).
Merkel und Sarkozy wollen „die wirtschaftspolitische Steuerung des Euro-Währungsgebietes in Übereinstimmung mit den bestehenden Verträgen weiter stärken“. Dazu gehören zuerst die beiden jährlichen Treffen. Man trifft sich schon heute öfter, aber es ist noch nicht fest vorgeschrieben. Es soll ein Vorsitzender für zweieinhalb Jahre gewählt werden. Die Euro-Guppe der Finanzminister soll gestärkt werden, ohne dass die beiden sagen, wie das aussehen könnte, der Europäische Stabilisierungsmechanismus, der 2013 in Kraft tritt, soll eine eigene Analyseeinheit bekommen. Zu den Analysen der Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds, die im Brief ausdrücklich genannt werden, wünschen sich die Regierungschefs unbedingt noch eine Analyse, die die Position der Mitgliedstaaten vertritt. Bis Sommer 2012 sollen alle Euro-Staaten eine Schuldenbremse in ihre Verfassung aufnehmen. Spaniens Ministerpräsident José Zapatero hat diese Woche verkündigt, dass er diesen Punkt umsetzen will und gleich Zustimmung von der Opposition geerntet. Alle Euro-Staaten, die eine höhere Gesamtverschuldung als 60 Prozent des BIP ausweisen, sollen bis Ende 2011, also in vier Monaten, einen Plan vorlegen, wie sie das Defizit langfristig wieder unter 60 Prozent drücken können.
Die Reihe des Sollens wird endlos fortgesetzt. Die Empfehlungen der Kommission im Rahmen des Europäischen Semesters, das die Haushalts- und Wirtschaftspläne der nationalen Regierungen bewertet, sollen auch tatsächlich umgesetzt werden. Dass dieser Punkt so genannt wird, wirkt entlarvend, denn es unterstellt, dass die Empfehlungen, die erstmals auf dem Europäischen Rat im Juni abgesegnet wurden, bisher so ernst nicht genommen werden sollten. Unternehmenssteuern sollten vereinheitlicht werden, Struktur- und Kohäsionsfonds nur noch zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und zur Reduzierung von Ungleichgewichten eingesetzt werden. Das Ganze liest sich wie eine Litanei aus frommen Sprüchen und bildet die ganze Ohnmacht dieser wichtigsten EU-Regierungschefs angesichts der komplizierten finanz- und wirtschaftspolitischen Lage ab. Kein Wunder, dass die Börsen darauf mit Kursabschlägen reagiert haben.
Das Budgetrecht ist das Königsrecht der Parlamente. Eine weitere Vergemeinschaftung würde sehr schnell die Grundlagen für Vereinigte Staaten von Europa legen. Um sie durchzusetzen, brauchte es schon so etwas wie einen europäischen Frühling. Der ist nirgendwo in Sicht. Insofern macht es sich Delors mit seiner Forderung etwas leicht. Angela Merkel und Sarkozy stehen zudem beide mit dem Rücken zur Wand. Nicolas Sarkozy, weil er genau die Reformen nicht durchsetzen kann, die Frankreich so nötig hätte, und Angela Merkel, weil sie schon jetzt um eine Mehrheit für die bereits beschlossenen Maßnahmen kämpfen muss. Würde sie sich für Euro-Bonds einsetzen, die fast alle Ökonomen als das Allheilmittel gegen die Eurokrise sehen und die vor allem die Länder fordern, die dann weniger Zinsen zahlen müssten, wäre sie womöglich ganz schnell ihren Job los. Denn Deutschland müsste für Euro-Bonds geschätzte 20 bis 40 Milliarden Euro jährlich aufbringen.
Am vergangenen Mittwoch hat sich die deutsche Arbeitsministerin Ursula von der Leyen zu Wort gemeldet und Gold oder Industriebeteiligungen als Pfand von den Ländern gefordert, die europäische Hilfe erhalten. Sie tat dies Stunden vor einer CDU-Fraktionssitzung, auf der die Kanzlerin ihren Europakurs verteidigen musste. Im Rückblick wird es vielleicht einmal heißen, dass sie an diesem Tag begonnen hat, Angela Merkel die Kanzlerschaft streitig zu machen.
Wie viel beziehungsweise wie wenig die europäische Wirtschaftsregierung als intergouvernementale Zusammenarbeit wert ist, zeigt das Beispiel Finnlands. Das Land hat sich griechische Gelder als Pfand für seine Hilfe gesichert und damit nicht nur Ursula von der Leyen auf neue Ideen gebracht, sondern vielleicht auch die ganze europäische Hilfskonstruktion für Griechenland torpediert.