In den vergangenen Tagen waren nicht nur die internationalen Finanzmärkte in Aufruhr, sondern auch die euro[-]päischen Großstädte. Während in den hochverschuldeten Ländern Südeuropas Indignados auf öffentlichen Plätzen zelteten, um gegen die als „interne Abwertung“ verschriebene Verarmung zu protestieren, gab es in London, Birmingham und Manchester, wo das Ende des Sozialstaats als Anfang der „big society“ dargestellt wird, Tote, Plünderungen und Brandstiftung. Wie bei solchen Auseinandersetzungen Klassen-, Rassen-, Religionskämpfe und Beutezüge vermischt und verwischt werden, hatte Martin Scorsese vor zehn Jahren so atemberaubend in Gangs of New York beschrieben, dass in seinem Film sicher auch schon ein von Gott auserwählter norwegischer Amokläufer vorkam.
Der das Wall Street Journal auf dem Ipad lesende Jetset des Finanzkapitals und die verfallenden Armenviertel der Großstädte sind zwei, manchmal nur durch einige Straßenzüge getrennte Welten, die höchstens durch Fernsehbilder voneinander wissen und sich gegenseitig für Kriminelle halten. Nur durch ganz seltene Unfälle begegnen sie sich und dann meist auf gewaltsame Weise, etwa wenn ein aus Afrika eingewandertes Zimmermädchen unverhofft vor dem nackten Direktor des Internationalen Währungsfonds steht. Dann bleibt ihnen gemeinhin keine Zeit, darüber zu diskutieren, weshalb mehr als zwei Prozent Inflation schlimmer ist, als gar kein Geld zu haben.
Der Sprecher der Euro-Gruppe, Jean-Claude Juncker, hatte schon vor drei Jahren beim Konkurs der Bank Lehman Bro[-]thers gewarnt, dass nach der wirtschaftlichen die soziale Krise drohe. Womit er vielleicht weniger die sozialen Nöte der in der Krise Verarmenden, als die daraus folgenden sozialen Unruhen auf den Straßen und in den Wahlkabinen meinte. Das klang für manche wie die übliche moralisierende Warnung des letzten Christlich-Sozialen. Aber vor einer Woche haben die Statistiker Jacopo Ponticelli und Hans-Joachim Voth beim Londoner Centre for Economic Policy Research eine Studie über Austerity and anarchy: Budget cuts and social unrest in Europe, 1919-2009 veröffentlicht. Darin kommen sie zu dem erstaunlichen Schluss, dass es in den vergangenen 90 Jahren in 26 europäischen Staaten eine „klare positive Korrela[-]tion“ zwischen sozialen Unruhen und Kürzungen der Staatsausgaben gab. Nicht mit einem Rückgang des Wirtschaftswachstums, sondern „mit jedem BSP-Prozent Ausgabenkürzungen“ habe „das Risiko von Unruhen“ zugenommen, von Demonstratio[-]nen, Aufständen, Generalstreiks, politischen Morden und Revolutionen, ob in der Weimarer Republik oder im Nachkriegs-Frankreich, ob im christ-demokratischen Italien oder in der Volksrepublik Polen.
Seit die erste amerikanische Rating-Agentur vor einer Woche die Kreditwürdigkeit der USA herabgestuft hat, geht nun auch bei bisher für erstklassige Schuldner gehaltenen europäischen Staaten die Angst um, abgewertet zu werden. Keine „AAA-Nation“ mehr zu sein, wird nicht nur als harter Schlag für den Nationalstolz empfunden, sondern verteuert auch die Zinsen auf der ohnehin schon hohen Staatsschuld und stellt die Serio[-]sität des gemeinsamen Rettungsfonds in Frage. In mehreren Hauptstädten sind deshalb bereits Regierungsmitglieder aus dem Urlaub zurückgeeilt, um Standard [&] Poor’s, Fitch und Moody’s mit einer neuen Runde Haushaltskürzungen zu besänftigen. Dadurch steigt aber nicht bloß das Risiko, dass die ohnehin gefährdete Konjunktur abgewürgt wird, sondern – offenbar statistisch nachweisbar – auch, dass die sozialen Unruhen sich ausbreiten werden.