Er ist Leiter der Ruhrfestspiele Recklinghausen und Direktor des Théâtre National du Luxembourg. Frank Hoffmanns Regiearbeiten wurden bereits in zahlreichen Rezensionen in dieser Zeitung berücksichtigt. Kurz vor Saisonauftakt spricht er im Land-Interview über Grundfragen der Regie, des politischen Theaters und die Eigenarten des luxemburgischen Publikums.
d’Land: Herr Hoffmann, welche war die erste Theatervorstellung, die Sie besucht haben?
Frank Hoffmann: (überlegt lange) Es gab bei meinen Großeltern in Ospern das Weihnachtstheater. Da ich dort einen Großteil meiner Ferien verbrachte, durfte ich dieses Ereignis mehrmals miterleben. Unter den Dorfschauspielern gab es einige Talente, nüchtern spielende Darsteller. Einmal saß der Dorflehrer im Gefängnis. Die Kinder grölten. Die Gefühle und Bilder der damaligen Zeit kann ich heute noch nachempfinden. Ich war sechs oder sieben und war begeistert.
Gibt es Produktionen, die Sie in Ihrem Werdegang besonders beeinflusst haben?
Da gab es tatsächlich ein Schlüsselerlebnis, in Frankfurt 1987. Einar Schleef inszenierte Vor Sonnenaufgang mit einer unfassbaren Unverfrorenheit. Ich wurde wütend, geriet emotional aus der Bahn. Gegen Ende waren vielleicht nur noch zehn Prozent des Publikums zugegen. Mir wurde klar, ich könne meine Arbeit nicht mehr so fortführen wie bisher. Selbst wenn der Schauspieler völlig bekifft war, ihm der Text zugeschrien werden musste, die gesamte Regie völlig zügellos war: Schleefs Arbeit enthielt so viel Leben, war derart undogmatisch, dass ich dieses Erlebnis für mich positiv kanalisierte und die Eindrücke in den zweiten Teil meiner damaligen Dantons Tod-Inszenierung in Darmstadt einfließen ließ.
Sind Sie der Ansicht, Provokation gehöre zu einer gelungenen Inszenierung dazu?
Im Gegenteil! Die bewusste Provokation ist mittlerweile zu einem eher reaktionären Mittel geworden. Zum einen lässt sich beobachten, wie der zwanghafte Versuch zu provozieren in so manchem Provinztheater für unfreiwillige Komik sorgt. Zum anderen bin ich der Überzeugung, eine gut erzählte Geschichte, getragen von fähigen Darstellern, mache jede Provokation obsolet.
Sie haben Germanistik, Romanistik und Philosophie studiert. Sie haben über Jean Genet promoviert. Sind Ihnen die in dieser Zeit gewonnenen wissenschaftlichen Kategorien in der praktischen Regiearbeit eine Hilfe?
Ich schätze die Wissenschaften sehr. Allerdings zähle ich nur noch eine sehr begrenzte Anzahl an Fachliteratur zu meiner geistigen Bibliothek. Vielmehr sind es die Praxis und das Bauchgefühl, die Maßstäbe setzen. Ich stelle mir in bestimmten Szenen Fragen nach gesellschaftlichen Umständen, zuweilen auch nach dem philosophischen Hintergrund, vor allem aber immer wieder nach dem, was zwischen zwei Menschen passiert, auf der Bühne, hier und heute. Natürlich spielt auch meine belletristische Lektüre-Erfahrung eine Rolle, seltsamerweise jedoch vor allem die meiner Jugendzeit. Ob das etwas mit altersbedingter Hirnleistung zu tun hat? (lacht) Vor allem einzelne literarische Schlüsselmomente sind hängengeblieben: Effi Briest, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Wenn im Oktober die Sonne golden scheint, steigen Erinnerungen an den Stechlin auf.
Auch sinnliche Erlebnisse aus meiner Vergangenheit als junger Theaterbesucher haben es mir angetan: der Geruch des Vorhangs, das Gefühl im Bauch kurz vor Schluss einer Vorstellung, im dramatischsten Moment.
Könnte das Gewicht der Jugendlektüre mit dem Umstand zu tun haben, dass Sie damals mehr Zeit zum freien Lesen hatten, heute aber vor allem funktionell, also im Dienste Ihrer Künstlertätigkeit, lesen müssen?
Ich lese heute nur noch funktionell, nur in Bezug auf meinen Beruf. Meine Frau versucht mich im Urlaub ab und an zu anderer Lektüre zu bewegen. Dies gelingt manchmal, ist aber zumeist aussichtslos (lacht). Es mag seltsam klingen, aber stets frage ich mich, ob der gewählte Band mit meinem, nun ja, Gesamtwerk in Zusammenhang steht ... Dostojewski etwa las ich erst wirklich, als ich ihn inszenierte.
2012 war die Revolte Thema im TNL. Auch das Programm der Ruhrfestspiele ist sehr politisch. Ist das Theater im multimedialen Zeitalter zur wirksamen Aufklärung fähig? Oder geben Sie jenen Recht, die diese Ansprüche als Naivität abtun?
Das Theater muss es immer wieder versuchen. Ein Künstler, der nicht auch die menschliche Situation mitgestalten und verändern möchte, sollte doch besser seinen Beruf wechseln. Man mag diese Haltung als künstlerische Naivität abtun, aber genau dieser bedarf es auch im öffentlichen Diskurs. Ich weiß sehr wohl, dass aufgeworfene Fragen im politisierten Theater nur eine überschaubare Anzahl an Zuschauern aufrütteln und zum Nachdenken bewegen. Aber immerhin erreichen wir ein paar!
Gerade unsere globalisierte Finanzwelt erlebt der Laie nur noch virtuell. Neulich beim Filmdreh behauptete ein betagter Wirtschaftsakteur und Besitzer einer Villa am Drehort, 85 Prozent der Wirtschaftstransaktionen seien krimineller Natur. Das sei früher weit weniger gewesen. Es mögen voreilige Gemeinplätze sein. Aber wenn ein Mann der Wirtschaft derartiges vom Stapel lässt, dann müssen wir künstlerischen Akteure zweierlei feststellen: Das Theater muss sich diesen Fragen stellen, und zwar ästhetisch und philosophisch. Zweitens hinken wir trotz allen kritischen Bewusstseins der gravierenderen Wirklichkeit und dem Zynismus der Beteiligten immer etwas hinterher.
Sind die Künstler durch die Distanz, die zwischen Wirtschaftswelt und Kunst herrscht, nicht geradezu gezwungen, Probleme philosophisch aufzuarbeiten?
Wir sind nicht nur dazu gezwungen. Es ist auch schlichtweg immer unsere Aufgabe gewesen. Wir können die Wirklichkeit nicht durch eine getreue Wiedergabe toppen. Unsere Aufgabe ist es, sie in Kontexte zu setzen. Dann kann auch der Laie sie reflektieren.
2012 haben Sie Albert Ostermaiers Aufstand inszeniert. War für Sie der Zusammenhang zwischen dem Politischen der Vorlage und dem damaligen Arabischen Frühling von Belang?
Ja. Ich wollte einen Text zum jungen Schiller des Sturm und Drang. Ostermaier schrieb daran parallel zu den Umwälzungen. Durch die direkte Erwähnung etwa der Vorgänge in Tunesien drohte der Vorlage jedoch eine politische Verengung. Das wollte ich nicht. Die Aktualität wurde am Ende umso größer.
Steht die Wirkung des politischen Theaters Ihrer Meinung nach in direktem Verhältnis zur gesellschaftlichen und finanziellen Stabilität eines Staates? Direkter gefragt: Sind Teile der Luxemburger Gesellschaft zu übersättigt, um die Kunst als kritische Lupe ernst zu nehmen?
(überlegt) Ich fürchte, ja. Viele Luxemburger sind materiell bestens versorgt mit Wagen, Wohnung, Urlaub. Aber geistig sind so manche aufgrund ihres Wohlstandes arm, selten zu Veränderungen und zur kritischen Selbstreflexion bereit. Der Luxemburger hat Angst. Angst vor Kritik, Angst vor Sicherheitsverlust. Ich habe das Gefühl, in Staaten mit weniger Wohlstand sei die Bereitschaft zur Selbstreflexion eher gegeben. Zugegeben, als Privatmensch lebe auch ich im Wohlstand. Als Teil der künstlerischen Institution TNL muss man sich dieser Verbürgerlichung natürlich widersetzen.
Ich möchte allerdings auch eine Lanze für das Luxemburger Publikum brechen. Mir wird oft von ausländischen Künstlern bestätigt, die Aufmerksamkeit, die hiesige Zuschauer im Theater auf Sprache richten, sei einzigartig.
Wir befinden uns aufgrund der Fremdsprache in ständiger Herausforderung, die zu mehr Konzentration führt?
Genau. Luxemburg bietet nicht nur deshalb hohes Potenzial. Würde der Luxemburger den Streit um einen Parkplatz vor den Cactus-Supermärkten nicht als existenzielle Kriegshandlung begreifen und damit seine angesichts der Weltprobleme bizarr anmutende Ängstlichkeit ablegen, wären wir einen bedeutenden Schritt weiter.
Als Regisseur reicht es nicht, die zweidimensionale Vorlage dreidimensional auf die Bühne zu bringen. Die Regie sieht auch eine aussagekräftige Zeichensprache vor, die eine Szene in ihrem Zusammenhang deutet. An welchen Regie-Einfall erinnern Sie sich besonders gern?
(überlegt) 1991 inszenierte ich an der Freien Volksbühne in Berlin Ibsens Rosmersholm. Tatjana Pasztor spielte Rebekka. Spontan ließ ich sie mit ihrem Koffer immer wieder um einen Tisch laufen. Bei der letzten Vorstellung erst verstand ich den Sinn dieser Regieangabe. Die Figur fühlt sich vom Inneren des Hauses erdrückt, möchte von Anfang an fliehen. Eine unbewusste, fast zufällige Angabe erweiterte sich zu einem sehr schlüssigen Konzept.
Aber Inszenieren ist für mich wie eine mathematische Aufgabe: Lösungen finden für Szenen auf dem Weg vom Papier zur Bühne. Die zahlreichen Ideen entstehen nicht bei erster Lektüre, sondern nach der ersten Probe. Wozu sind meine Schauspieler in der Lage? Wie können sie ihre Figur, eine Szene beleben?
Sie würden also behaupten, die erste Probe dürfe die Lesart des Regisseurs beeinträchtigen?
Nicht nur das. Sie kann sie sogar vollständig kippen. Ein Autor übt nur scheinbar absolute Macht auf seine Figuren aus. In der theatralischen Umsetzung gerät alles in Bewegung. Ich bin der Seismograf, der Kräfte bündeln muss, damit ein Abend zum Erfolg wird.
Sie kommen gerade vom Dreh eines Films frei nach Schillers Die Räuber. Filmregisseur, Theaterregisseur: Welche sind die grundlegenden Unterschiede?
(lacht) Am Filmset ist man ein größeres Team, da kann die Szene noch so intim sein. Aber die Frage des Umgangs mit der Endgültigkeit ist für mich die zentrale Herausforderung. Beim Theater muss man nicht chronologisch arbeiten, aber man darf es tun, beim Film ist es aus logistischen Gründen gar nicht möglich. Beim Theater kann man selbst nach der Premiere Änderungen vornehmen, auch wenn es manchmal schmerzlich ist, sich wieder hinzusetzen. Das geht im Film kaum. Maßgebliche Veränderungen sind beim Film nur noch beim Schnitt möglich. Doch die können gewaltig sein.
Aus welchen Reaktionen im Theaterpublikum lesen Sie nach der Premiere den Bedarf nach Veränderung ab?
Schwer zu sagen. Nach den Proben an die Öffentlichkeit zu gehen, ist einerseits ein schwieriger Vorgang. Zuschauer und Kritiker bewerten das, was wir Theaterleute bis dahin im Verborgenen gearbeitet haben. Andererseits ist die „Freigabe“ der Inszenierung anlässlich der Premiere das befreiende Ende eines langen Prozesses. Nach jeder Vorstellung wird durch die Spielerfahrung, aber zuweilen auch durch Reaktionen aus dem Publikum das eine oder andere abgeändert, ein Schwerpunkt verlegt.
Generell muss ich aber hinter meinen Projekten stehen. Eine negative Kritik aus dem Publikum oder in der Zeitung darf meine Regiearbeit nicht auf den Kopf stellen. Auch in der Zeitung kann es der Fall sein, dass Kritiker mich nicht oder nur anders verstanden haben. Wenn ich jedoch eines nicht leiden kann, dann ein Schulterklopfen mit dem vermeintlich gutgemeinten Satz: „Wir müssen morgen noch einmal darüber sprechen“, (lacht abwehrend). Kritik soll sofort geäußert werden.
Nickel Bösenberg merkte einmal an, die Luxemburger seien beim Applaus zurückhaltend. Das sei nicht abwertend gemeint, aber deutsche Gastschauspieler seien darüber schon ab und zu verwundert gewesen. Stimmen Sie dem zu?
Ja. Der Luxemburger spendet wenig Applaus. Der Deutsche sehr viel mehr. Noch weniger klatschen allerdings die Franzosen und noch viel, viel weniger die Spanier! Das hat aber nichts mit Missfallen zu tun. National ist die Bereitschaft zur emotionalen Entblößung einfach von Grund auf unterschiedlich.
Allerdings war die völlige Zurückhaltung des Publikums bei meiner Inszenierung der Eingeschlossenen von Altona für mich schon verstörend, bis ich merkte, dass sie echter Sprachlosigkeit geschuldet war. Sartre lässt den Zuschauer durch dieses Stück mit derart gravierenden Grundsatzfragen zurück, dass dieser das Theater verwirrt verlässt.
Ist eine Entwicklung seit Ihren ersten Theaterarbeiten zu verzeichnen?
Ich bin vor allem Regisseur. Und gerade hier kann ich von Entwicklungen sprechen. Eine fällt mir besonders ein: Ich habe mich damit verwöhnen können, über die Jahre auf ein gewisses Ensemble mir vertrauter Schauspieler zurückzugreifen. Da ist es wichtig, immer wieder den Mut zum Neuanfang mit neuen Schauspielern zu wagen, wie ich es zuletzt im Revisor getan habe. Im Theater sollte sich nichts verfestigen, auch nicht die guten Gewohnheiten.