Diana Fröhlich ist im Düsseldorfer Handelsblatt zuständig für das Ressort „Report und Namen“. Wohl in der Rubrik „Namen“ wollte sie am Wochenende dem in Deutschland aus Talkshows leidlich bekannten Luxemburger Premier eins auswischen. Vielleicht weil er als Sprecher der Eurogruppe in längeren Abständen die deutsche Politik in der Eurokrise kritisiert.
Jedenfalls entdeckte Frau Fröhlich „eine bizarre Situation“, als sie sich über das Ländchen beugte: „Während Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker als Vorsitzender der Euro-Gruppe seit Jahren den anderen EU-Partnern Ratschläge erteilt, mit welcher Finanz- und Reformpolitik sie die Euro-Krise beenden könnten, nimmt er es im eigenen Land nicht so genau.“ Luxemburg sei nämlich gar kein „Musterland“, sondern möglicherweise ein „Krisenstaat“. Grund sei die gesetzliche Rentenversicherung.
Die Journalistin berief sich dabei auf die Berechnungen einer deutschen Privatstiftung über die „implizite Staatsverschuldung“ europäischer Staaten und kommt zur Schlussfolgerung: „Wenn man also zur tatsächlichen Staatsverschuldung noch die zu erwartenden Schulden der Zukunft addiere, dann ginge es in Europa nur den Griechen und den Iren so schlecht. Italien, Deutschland und Finnland stehen dagegen an der Spitze dieses Nachhaltigkeitsrankings.“
Die erschreckenden Zahlen gehen auf ein im Dezember vergangenen Jahres von der Stiftung Marktwirtschaft veröffentlichtes Papier Ehrbare Staaten? Tatsächliche Staatsverschuldung in Europa im Vergleich zurück. Die in den neoliberalen Achtzigerjahren gegründete Stiftung Marktwirtschaft in Berlin ist eine wirtschaftspolitische Lobby, deren Mitglieder der CDU nahestehen und die nach Angaben des Kölner Vereins Lobbycontrol von Metallarbeitgebern und einigen Industriellenfamilien finanziert wird.
Die Autoren von Ehrbare Staaten? treiben eine auch von der Europäischen Union und der OECD praktizierte Rechenweise auf die Spitze und behaupten in einem Zwischentitel ihres Papiers (S. 16): „Das nächste Griechenland liegt in Luxemburg.“ Weil „neben dem positiven Abschneiden Italiens ist auch das schlechte Abschneiden Luxemburgs überraschend. Denn obwohl der Zustand der luxemburgischen Staatsfinanzen sowohl aktuell als auch in der Vergangenheit als mehr als solide zu bezeichnen ist, liegt Luxemburg mit einer Nachhaltigkeitslücke von 1 116 Prozent des BIP in etwa gleichauf mit den „schwarzen Schafen“ Griechenland (1 017 Prozent des BIP) und Irland (1 497 Prozent des BIP). Dieses schlechte Abschneiden Luxemburgs ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass Luxemburg nach Griechenland die stärkste Zunahme der Renten-, Gesundheits- und Pflegeausgaben zu erwarten hat.“ (S. 17).
Während ein gegenüber dieser Rechenweise kritisches, aber unspektakuläres Papier der Salariatskammer, Du mythe de la dette cachée, im März dieses Jahres gar nicht zur Kenntnis genommen wurde, wurde nun der Beitrag des Handelsblatts über den „völlig überschuldeten“ Luxemburger Sozialstaat in den vergangenen Tagen von einheimischen Medien begierig aufgegriffen – wohl auch, um ihrerseits der Regierung eins auszuwischen. Das Luxemburger Wort lobte schon am Sonntag im Internet: „Handelsblatt legt Finger auf die Wunde“. Laut Le Quotidien vom Montag entdeckte das Handelsblatt „une dette implicite du Grand-Duché qui atteindrait ici quelques années 1 000 % de la dette publique actuelle“. RTL meldete eine „verstoppte Schold vu Lëtzebuerg bei 1 100 Prozent“.
Bei der Diskussion über eine Rentenreform geht es nicht nur um die wirtschaftliche Sicherheit der Lohnabhängigen nach ihrer Erwerbstätigkeit und der Staatsfinanzen in den kommenden Jahrzehnten, sondern auch um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, die sozialstaatliche Umverteilung öffentlicher Einnahmen und die mögliche privatwirtschaftliche Nutzung eines Milliardenfonds. Deshalb werden seit den Neunzigerjahren zwei getrennten Geschichten über die Zukunft der Rentenversicherung erzählt: Auf der gebildeten Ebene breiten Experten aktuarielle Studien aus, die für die breite Öffentlichkeit unverständlich sind, deren absurde Präzision aber den Eindruck erweckt, als ob es tatsächlich möglich sei, gesellschaftliche Entwicklungen auf 40 oder 50 Jahre abzusehen. Auf der volkstümlichen Ebene ersetzten dagegen Politiker die abstrakte Versicherungsmathematik durch griffige Panikwörter. Diese Panikwörter wechseln aber jeweils mit der Wirtschaftskonjunktur – nicht derjenigen der nächsten Jahrzehnte, sondern der jeweils herrschenden.
Rentenmauer Auf einem Gipfel des Wirtschaftswachstums vor 15 Jahren hatte Jean-Claude Juncker parallel zur Abschaffung der 5/6-Pension im öffentlichen Dienst durch eine CSV/LSAP-Koalition in seiner Erklärung zur Lage der Nation (S. 29) am 7. Mai 1997 das Panikwort von der Rentenmauer in Umlauf gesetzt: „Weil das alles so kommen wird, weil das alles mit Sicherheit so kommen wird, werden wir mit Karacho gegen eine Mauer rennen. Diese Mauer wartet auf uns am 1. Januar 2015. Diese Mauer wartet auf uns in 20 Jahren.“
Doch niemand hatte auf ihn gehört. Nicht einmal er selbst. Denn als Regierungschef einer CSV/DP-Koalition berief er nur vier Jahre später den Rententisch ein, der zusätzliche Rentenerhöhungen beschloss – so dass der für 2015 befürchtete Aufprall schon zwei oder drei Jahre frührer hätte stattfinden müssen. Der Rententisch zeigte, dass sich in Zeiten der Hochkonjunktur, der hohen Erwerbstätigkeit und Staatseinnahmen niemand von der Notwendigkeit einer Rentenreform überzeugen ließ. Das Panikwort von der Rentenmauer hatte den Dienst versagt, weil es in Zeiten hohen Wirtschaftswachstums von niedrigem Wirtschaftswachstum erzählte.
700 000-Einwohnerstaat Deshalb setzte der Premier noch während des Rententischs ein neues Panikwort in Umlauf, das in Zeiten der Hochkonjunktur nicht vor zu wenig, sondern treffend vor zu viel Wirtschaftswachstum warnen sollte: den 700 000-Einwohnerstaat. Er meinte, dass die Einwohnerzahl des Landes auf 700 000 steigen müsste, damit ausreichend erwerbstätige Beitragszahler die Leistungen der Rentenversicherung finanzieren könnten. In seiner Erklärung zur Lage der Nation im Frühjahr 2002 nannte Juncker es „nicht mein Traum, nicht meine Wunschvorstellungen“, dass „wir im Jahr 2020 zu mehr als 500 000, und wenn [die Bevölkerung] weiter so wächst, im Jahr 2050 zu mehr als 700 000“ wären. Für die Zuverlässigkeit solcher Prognosen spricht nicht unbedingt, dass die Zahl der 500 000 Einwohner nicht 2020, sondern im Laufe des Jahres 2009 überschritten wurde, ohne dass dies irgendjemand beunruhigt hätte.
Doch das Schüren von ökologisch gerechtfertigten Überfremdungsängsten durch konservative Politiker war über alle Erwartungen erfolgreich. Im Oktober 2002 wurde sogar der Verein Wat fir eng Zukunft fir Lëtzebuerg? unter dem Haebicht-Bürgermeister Henri Hosch gegründet. Er sollte den 700 000-Einwohnerstaat im Jahr 2050 verhindern und, so die Satzung, die „vernichtenden Auswirkungen eines maßlosen wirtschaftlichen Wachstums auf die Umwelt und die Lebensqualität der Bürger Luxemburgs“.
In einer ersten Euphorie wollten die Malthusianer sogar als zweite Rentenpartei, als spiegelverkerte ADR, an den Wahlen 2004 teilnehmen. Doch dann kam das böse Erwachen: Während die Regierung und der Rentenverein noch vor dem „maßlosen wirtschaftlichen Wachstum“ warnten, hatten sie nicht bemerkt, dass als Folge der geplatzten Internetblase schon im Vorjahr das BIP-Wachstum von neun auf ein Prozent abgestürzt war. Als aber die Wirtschaft fast zu wachsen aufgehört hatte und die Arbeitslosigkeit zu steigen begann, fürchteten nicht einmal die ängstlichsten Wähler mehr einen 700 000-Einwohnerstaat. Die Regierung redete nicht mehr von Übervölkerung, der nach der Zukunft Luxemburgs fragende Verein ging sang- und klanglos unter.
Ein Ersatz für das unbrauchbar gewordene Panikwort war aber nicht so schnell bei Hand. Denn nach dem großzügigen Rententisch war es in der anschließenden CSV/LSAP-Koalition schwer, wieder von einer Rentenreform zu reden. Die Generalinspektion der sozialen Sicherheit IGSS legte 2006 sogar eine aktuarielle Berechnung vor, laut der die Rentenversicherung gesünder sei, als zuvor behauptet.
Implizite Staatsschuld Erst als die 2008 offen ausgebrochene Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa zu einer Krise der Staatsfinanzen wurde, konnte ein neues, für die Schuldenkrise passendes Panikwort populär werden: die implizite Staatsverschuldung. Von ihr war bereits in der Vergangenheit in aktuariellen Studien wiederholt die Rede gewesen, aber eher beiläufig und keineswegs in den nunmehr seit einem Jahr gebrauchten schrillen Tönen. Nun warnte die Handelskammer im November 2009 in ihrem Haushaltsgutachten vor einer „évolution bien plus dangereuse encore, à savoir l'accroissement exponentiel de la dette implicite lié au financement à long terme du système public d'assurance pension.“
Die Nachricht von der „impliziten Staatsverschuldung“ hat seither für viel Aufregung gesorgt und wird es wohl weiter tun, bis in vier Monaten die geplante Rentenreform in Kraft treten soll – wenn es ihr nicht geht wie der geplanten Sekundarschulreform. Denn das angesichts von Maastricht-Kriterien und Schuldenbremse besonders bedrohlich klingende Panikwort von der „impliziten“ oder gar „versteckten“ Staatschuld steht nicht nur für ein neues Kapitel in der Erzählung von der gesetzlichen Rentenversicherung. Es bedient zudem den beliebten Verdacht, dass „die da oben“ dem unschuldigen und treuen Volk wieder etwas verheimlichen.