Die alkäische und die asklepiadische Odenstrophe – diese ganz spezifischen Anordnungen von betonten und unbetonten Silben in einer rhythmisch festgelegten Abfolge von Versen – gäben „einigen der schönsten Gedichte von Klopstock und Hölderlin einen feierlichen Ton von großer Sprachkraft1“, heißt es etwas salbungsvoll in Hans-Dieter Gelferts Einführung in die Verslehre. Dieser Ton jedoch sei „dem modernen Leser fremd [...], so dass die antiken Odenformen heute wohl nur noch parodistisch verwendet werden können.“ Aus dieser vermutlich achtlos dahingeschriebenen Endgültigkeit seiner Wertung braucht man dem Autor keinen Strick zu drehen. Das Misstrauen gegen jegliches Diktat der Form ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Kennzeichen einer verbreiteten Auffassung von Literatur, mit der nicht nur Gelfert, Jahrgang 1937, aufgewachsen ist, sondern auch ein Dichter (Jahrgang 1949), dessen Werk die antike Odenstrophe zu erneuern sucht und sie – fern von aller Parodie, wenn auch keinesfalls fern von Sarkasmus und Ironie – mit bitterem Ernst zu füllen weiß. Er tut dies unaufdringlich, indem er der Betonung der natürlichen Sprache stets treu bleibt, unter Aufopferung der natürlichen Syntax allerdings, in einer bestechenden Verknappung und Verdichtung von Sprache und Bildlichkeit.
Nach Jean Kriers Tod im Januar 2013 ist im Leipziger Verlag Poetenladen ein Nachlassband erschienen, der formal wie inhaltlich an Herzens Lust Spiele anschließt, also an den herausragenden Band, für den Krier 2011 in Luxemburg den Servais-Preis und in Deutschland den renommierten Chamisso-Preis erhielt. Die Kontinuität wird nicht zuletzt durch den biografischen Kontext gegeben. Eingriff, sternklar setzt sich von seinem Vorgänger durch ein sogar noch gesteigertes Bewusstsein von der eigenen Endlichkeit des Ichs ab, das in diesen Gedichten spricht, durch eine akute „Finalitätsgewissheit“2, wie der Herausgeber Michael Braun in seinen aufschlussreichen Anmerkungen im Anhang des Buches schreibt.
„Und du zitterst u stirbst, während die Straßen verstopft sind/ mit Autos u Fußbällen u die schlimmen Kinder toben“ heißt es in Es ist Nacht. Wie ein ferner Anklang an W. H. Audens lyrischen Versuch auf Brueghel3 läuft fast nur nebenher die Lebenszeit aus, mitten in irgendeinem Alltag mit seinen zahlreichen Profanitäten, die grundsätzlich Bestandteil von Kriers Lyrik sind, und auf Schritt und Tritt einhergehen mit dem ganz Wesentlichen und Gewichtigen, den großen Fragen nach Sinn und Existenz. Ein durchdringendes Nennen der letzten Dinge klingt aus den letzten Gedichten von Jean Krier, wo es keine Hoffnung auf Überleben mehr gibt, wo das Ende unaufhaltsam naht und sich die Trostperspektiven und Sinnangebote erübrigt haben: „Wie gesagt, das ist alles ein Irrtum“, muss sich das Ich eingestehen: „Der da/ im Flur, das ist kein Engel, u das bist nicht du,/ zur Blutbildsäule erstarrt“4.
Auch die gewohnte Fülle an literarischen Referenzen ist in den Gedichten aus Eingriff, sternklar nahezu vollständig auf das Leitmotiv von Sterblichkeit und Todesnähe ausgerichtet. Die Worte „sing von Wut, Blut und Krieg“ (S. 53) lassen sich als Paraphrase auf den Anfang der Ilias lesen, der ja vom Streit zwischen Agamemnon und seinem besten Helden Achill kündet, durch den eine Serie von Ereignissen in Gang gesetzt wird, die unweigerlich zum Tod dieses Helden führen müssen. Im Zitat aus Brentanos Märchen vom Myrtenfräulein („Da wirst Sterne du wie Blumen pflücken“, S. 50) schwingen die vorherigen Verse Brentanos mit: „Selig, wer in Träumen stirbt“. Selbst die mehrfach wiederkehrende Anspielung auf den Kinderreim auf den unglückseligen Reiter „Fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben“, ist nur ein weiteres Zeichen, das vom Ende kündet.
Larmoyant oder wehleidig wirken diese Verse mit ihrer eigentümlichen Mischung aus getragenem Ton und schroffer Bildlichkeit nie. Gelegentlich blitzen die schalkhaften Distanzierungen auf, durch die Krier nicht nur seinen Lesern, sondern auch dem einen oder anderen ehemaligen Schüler in Erinnerung bleiben wird. Da geistert auf einmal der von Krier so geschätzte Marcel Proust wie ein Gespenst über den nächtlichen Flur, wenn das Ich des Gedichts mutmaßt: „Vielleicht ist es Marcel, der versucht, sich vor/ dem Backwerk aus dem Staub zu machen.“ (S. 24). So macht sich am Ende auch dieses Ich, das der Leser trotz aller Warnungen dieses oder eines anderen Deutschlehrers nur zu gern für den Autor nimmt, aus dem Staub:
„Und so verlasse ich ohne Bedauern u unbekümmertmein Haus, das mir nicht gehört, mit den Tüten vollMüll, den ewigen Andeutungen u eingeschweißtenTelefonbüchern. Denn dies ist die Zeit, die ich meinLeben nenne, herrlich u sinnlos. [...]“