Hätten die kubanischen Archive Ernesto “Che” Guevaras Tagebuch über seinen hoffnungslosen Auftrag in Zentralafrika, das Jahr, in dem er “nirgends war”, zu Lebzeiten Heiner Müllers veröffentlicht, hätte dieser das Material wahrscheinlich zu einem Drama verarbeitet. So benutzte er zehn Jahre vor dem endgültigen Scheitern des Projekts Oktoberrevolution Anna Seghers Erzählung Das Licht auf dem Galgen, um Der Auftrag zu schreiben, den Andreas Nattermann mit großem Respekt vor Müllers wortgewaltigem Text und mit sparsamsten Bühnenmitteln für das Théâtre national du Luxembourg inszenierte.
Wie Kommissare der Komintern landen der ehemaliger Sklave Sasportas, der bretonische Bauer Galloudec und der Sklavenhaltersohn Debuisson als Abgesandte der Französischen Revolution, die Liberté, Égalité, Fraternité der ganzen Welt verspricht, in der britischen Kolonie Jamaika, um einen Sklavenaufstand nach dem Vorbild der französischen Kolonie Haiti zu leiten. Doch noch ehe sie ihre subversive Arbeit begonnen haben, erreicht sie die Nachricht, dass im fernen Paris/Moskau General Napoleon/Stalin mit einem Putsch die Revolution und damit auch ihren Auftrag beendet hat.
Ist die Revolution, sind alle Revolutionen gescheitert, weil Revolution und Konterrevolution sich immer schneller folgen – wie das letzte Wochenende in Quito zeigte? Ist der Glaube an gerechtere Verhältnisse in Wirklichkeit ein Fieberwahn, ein Anflug von “Drapetomanie”, wie der Arzt Samuel Cartwright 1851 im New Orleans Medical and Surgical Journal den ihm unverständlichen Drang der Südstaatensklaven zur Flucht als neu entdeckte Geisteskrankheit diagnostizierte?
“Die Heimat der Sklaven ist der Aufstand. Ich gehe in den Kampf, bewaffnet mit den Demütigungen meines Lebens,” antwortet Steve Karier, der einen großartigen und ergreifenden schwarzen Revolutionär Sasportas spielt. Nach dem Untergang des Sowjetreiches, “Lenins gescheitertem Versuch, Marx zu widerlegen” erkannte Müller 1991 im Tagesspiegel: “Jetzt steht die Frage nach der Verteilung des Reichtums ganz nackt vor uns. Das ist der neue Krieg, der Krieg des dritten Jahrtausends und jetzt ohne ideologisches Kostüm. Man könnte sagen, der Kommunismus tritt nun nackt auf.“
Regisseur Nattermann fügt dem Auftrag fast übergangslos Samuel Becketts Warten auf Godot an, ein zweites Drama über die Hoffnung auf eine fremdbestimmte Erlösung, über Stillstand und Bewegung. Sasportas spielt wie selbstverständlich den Sklaven Lucky und Debuisson (Jürgen Kloth) den Herrn Pozzo. Weil nach dem Scheitern der Revolution “die Welt wird was sie war, eine Heimat für Herren und Sklaven”, wie der Auftrag prophezeite. Deshalb muss auch den ganzen Godot über der gefangene Sklave von Jamaika (Soko Belinga) im Käfig am Ende der Bühne bleiben, wo Ulrich Beseler, kurz zuvor der revolutionäre Bauer, zum Landstreicher geworden ist, der auf einen neuen Auftrag oder zumindest einen neuen Sinn wartet (Codewort: Godot).
Becketts Einöde, “Route à la campagne, avec arbre”, verweist auf Müllers Traumprotokoll von “einer Dorfstraße in Peru” aus dem Auftrag (Christian A. Hoelzke), Erinnerung an einen “Angst-Gang durch die Dritte Welt”, wie Müller in seinen Memoiren schrieb. Als der gestürzte Sklavenhalter Pozzo um Hilfe ruft, stellen sich die beiden Landstreicher Estragon und Vladimir (Marco Lorenzini), der bereits als Matrose den Auftrag eröffnete, dieselben Fragen wie die Abgesandten der Revolution auf Jamaika, dem “Sklavenschiff in der Karibischen See”: Sollen sie helfen, sollen sie gehen?
So lädt Der Auftrag den offenen Text von Godot mit einem spezifischen Sinn auf. Nur über die Sehnsucht nach Luc Bondys meisterhafter Inszenierung des Originaltextes und ihren überragenden Schauspielern, die das Théâtre national letztes Jahr in die Kulturfabrik geholt hatte (d’Lëtzebuerger Land 27/99), kann er nicht hinwegtrösten.
Auftrag/Godot beginnt, einen historischen Bogen zu spannen von der Französischen Revolution, in der sich bei Seghers und Müller die Oktoberrevolution spiegelt, beide Revolutionen mit einem universellen Anspruch wie Becketts Stück, bis zu Warten auf Godot. Um den Bogen zu schließen, fehlt nur noch Godot ist gekommen, das Drama, das uns lehrte, dass Godot ein Bäcker war, der den Menschen Brot brachte und, wie Sasportas, zum Tod verurteilt wurde. Heute wissen wir, dass es kein Zufall war, dass der Autor von Godot ist gekommen, Miodrag Bulatovic, Jugoslawe war.
Joël Seiller
Kategorien: Theater und Tanz
Ausgabe: 27.01.2000