Die Pandemie erwischte Spanien später als Italien, jedoch noch heftiger. Mitte Mai reagierte die Regierung mit der strengsten Ausgangssperre Europas. Nach sechs Wochen dürfen die Kinder diesen Sonntag erstmals wieder vor die Tür. Und nicht jedem gefällt das.
Zum internationalen Frauentag am 8. März protestierten in Madrid 120 000 DemonstrantInnen, unter ihnen die wenig später positiv getestete Gattin des Ministerpräsidenten Begoña Gómez und die beiden Ministerinnen Carolina Dariasan und Irene Montero. Damals gab es 673 offizielle Fälle unter den knapp 47 Millionen Einwohnern, doch die Opposition nutzt diese Veranstaltung für massive Angriffe gegen die Linksregierung. Obwohl sie selber im Madrider Epizentrum die Regionalregierung stellen, fährt die konservative PP von Pablo Casado einen Konfrontationskurs wie ansonsten nur noch Marine Le Pen in Frankreich und Matteo Salvini in Italien.
Während sich Covid-19 bereits seit Mitte Februar unerkannt in Spanien ausbreitete, lebten die Menschen zumeist unbekümmert in den Tag hinein. Am gleichen Wochenende fanden 3 200 Fußballspiele, Tausende weitere sportliche, sowie kulturelle Veranstaltungen und ein 9 000 Kopf zählender Parteitag der rechtsradikalen Partei Vox mit später ebenfalls positiv getesteten Parteipräsidenten Santiago Abascal statt. Als der Premierminister Pedro Sánchez am Freitag, dem 13. März den baldigen Alarmzustand mit weitgehender Ausgangssperre und der Nationalisierung der bisher regional organisierten Gesundheitspolitik ausrief, kippte die Stimmung innerhalb von Tagen von unbesorgt in Richtung überaus ängstlich.
Verantwortlich hierfür waren einerseits rasant steigende Covid-19-Zahlen auf mittlerweile rund 220 000 offizielle Fälle und 22 000 Tote. Mehr noch waren es aber die Bilder von völlig überlaufenen Krankenhäusern mit zeitweise auf den Fluren umherliegenden Patienten, einem eilends aufgebauten Notkrankenhaus in den Ausstellungshallen der COP-25 vom vergangenen Dezember oder tagelang in ihren Betten liegende Leichname, die erst die Armee beim Desinfizieren von den besonders betroffenen Seniorenheimen entdeckte, die die Bevölkerung in Schockstarre versetzte. Diese sind nach Kürzungen und Privatisierungen seit Jahren unterversorgt und mussten ihre erkrankten Einwohner in der Krise selber medizinisch versorgen. Alleine in den letzten fünf Märztagen verstarben mehr Madrider Altersheimbewohner als sonst im ganzen Monat, wobei nur wenige der 1 164 Todesfälle auf Covid-19 getestet waren und somit eingerechnet wurden.
Angesichts einer endlosen Flut an Schreckensmeldungen flüchten viele Spanier ins Private, in die vermeintlich sicheren eigenen vier Wände, in die sie mit Home Office, der Schließung aller Schulen und sehr vieler Betriebe eh verbannt sind. Nach einem Monat sorgte eine private Forderung für die Rechte der Kinder der Bürgermeisterin Barcelonas Ada Colau auf Facebook für Aufsehen. Über ihre neun und drei Jahre alten Kinder schrieb sie: „Woche um Woche streiten sie sich jeden Tag mehr, haben Anfälle von Traurigkeit, Wut... Der Kleine braucht wieder Windeln. Ich weigere mich, zu glauben, das alles sei unsere Schuld“ und erntete viel Beifall, aber ebenso harsche Kritik.
Als einziges europäisches Land erlaubt Spanien nur einzelnen Erwachsenen fürs Einkaufen, eine kurze Gassirunde oder die Arbeit das Verlassen der vier Wände. Obwohl sehr viele der noch immer unter der Wirtschaftskrise von 2008 leidenden Spanier die wirtschaftlichen Folgen fürchten, überlagert die Angst vor dem Virus derzeit alles. Vielen Facebook-Kommentatoren erschien bereits die Wiederaufnahme der Arbeit in nicht-essentiellen Betrieben am 13. April verfrüht. Dass die 6,8 Millionen Kinder unter 14 Jahren ab Sonntag unter strengen Sicherheitsmaßnahmen stundenweise wieder vor die Tür dürfen, ist für viele eine Horrorvorstellung. „Die fassen alles an, werden viele infizieren und töten und gefährden die baldige Aufhebung des Alarmzustandes“, sind die häufigsten Meinungen.
Nun ist ein Stimmungsbild über Facebook immer mit Vorsicht zu genießen, doch in Elterngruppen der Schulklassen mancher Kinder auf Whatsapp bestätigt sich der Eindruck. Das Teilen einer Petition von über 300 Kinderärzten und Psychologen, aus Gesundheitsgründen den Ausgang der Kinder zu ermöglichen, wurde bestenfalls ignoriert. Oder sogar mit der Anfeindung beantwortet, es sei „ein Wahnsinn, jetzt schon die Kinder vor die Tür zu lassen“, „unethisch, dadurch andere zu gefährden.“
Dass die meisten Experten und die WHO auch während der Pandemie Bewegung an der frischen Luft empfiehlt oder eine erste Studie bei spanischen Kindern deutlich mehr Verhaltensprobleme, Angstzustände, Schlafstörungen und körperliche Beschwerden im Vergleich mit ihren italienischen Altersgenossen feststellt, wollen viele lieber nicht wissen. Von vorher 15 Prozent der spanischen Kinder hat sich der mehr als anderthalbstündige digitale Medienkonsum auf 73 Prozent verfünffacht, während sich von den zu wenigen 66 Prozent mittlerweile nur noch 14 Prozent gesundheitsfördernd ein Stunde täglich körperlich betätigen.
Für Erwachsene lehnt der Gesundheitsminister Salvador Illa eine hierfür angedachte Ausnahme sogar bis mindestens den 10. Mai ab, da sich nicht garantieren lasse, dass die Bevölkerung ihren Sport tatsächlich alleine ausüben würde. Mit dem Verweis auf die spanische picaresca, also die Tradition, schelmenhaft Normen zu umgehen, befürworten fast alle Spanier autoritäre Einschränkungen ihrer Grundrechte.
Viele der knapp 700 000 deftigen Bußgeldbescheide betreffen aber wohl weniger Schelme, als vielmehr ohnehin Benachteiligte, besonders gehäuft in den beiden ärmsten Madrider Vierteln. 23 500 Haushalte leben in Spanien auf weniger als zehn Quadratmeter Wohnfläche pro Bewohner, oft genug ohne Balkon oder Terrasse. Zwei Drittel aller vierköpfigen Familien haben (oft deutlich) weniger als 105 Quadratmeter zur Verfügung und manche Minderjährige konnten während sechs Wochen legal nicht einmal das Sonnenlicht sehen.