„Wir haben es fertig gebracht, das Virus unter Kontrolle zu halten“, freute sich Premierminister Xavier Bettel (DP) am 15. April. Die Infektionszahlen scheinen stabil, die Intensivbetten in den Krankenhäusern sind nicht voll ausgelastet, die Zahl, derjenigen, die Covid-19 nicht überleben, hat sich verringert. Man könne also langsam mit Lockerungen beginnen. Das ist in etwa das Szenario, auf dem die Regierung ab dieser Woche den dreiphasigen Exit aus der fünfwöchigen Isolierung einläutet. Man muss „in etwa“ schreiben, denn auf welche Berechnungen konkret sie ihre Exitstrategie aufgebaut haben, präzisierten bisher weder Bettel, noch Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP). Außer einer Studie über die soziökonomischen Folgen von Covid-19 des Liser-Instituts hat die Regierung keine eigenen Gutachten vorgelegt.
Laut Alexander Skupin, Physiker am Luxembourg Centre for Systems Biomedicine der Uni Luxemburg und Mitglied der beim Gesundheitsministerium angesiedelten Taskforce Modellrechnung, befinden sich Rechenmodelle in der Entwicklung. Dabei gehe es um „sektorspezifische Analysen“, sagte Skupin dem Radio 100,7, anhand derer bestimmt werden soll, was einzelne Schutzmaßnahmen bewirken. Tatsächlich wird der einseitige Fokus auf die Zahl der Neuinfektionen und Intensivbetten von Virologen kritisiert. Genauso wichtig sei es, zu erfassen, wie und wodurch sich das Virus verbreite. Die nationale Gesundheitslaboratorium kündigte diese Woche an, vermehrt Bewohner in den Altenheimen zu testen. Das ist löblich, kommt aber spät und es wird dauern, bis alle Ergebnisse der rund 6 000 Bewohner vorliegen.
Senioren sind nicht die einzigen, die besonderen Schutz bedürfen. Auch Kinder und Erwachsene mit Vorerkrankungen gilt es von Covid-19 abzuschirmen, da sie eine Ansteckung mit dem Virus wahrscheinlich nicht überleben würden. Reichen eine Maske und zwei Meter Sicherheitsabstand aus oder sind sie besser durch Isolierung geschützt? Zugleich stellt sich die ethische Frage, wie lange man Menschen zu ihrem Schutz wegsperren darf, mit zunehmender Dauer des Lockdowns immer dringlicher.
Zu diesen Schlüsselfragen hat die Regierung auch eine Woche nach Ankündigung der Lockerungen weiter nicht kommuniziert, was zwei Schlussfolgerungen zulässt, und beide sind beunruhigend: Entweder ihr fehlen wichtige Informationen. Woher nimmt sie aber dann die Zuversicht, dass die bisherigen Schutzmaßnahmen ausreichen und die jetzigen Lockerungen nicht verfrüht sind?
Oder die Regierung weiß mehr, als sie mitteilt. Zu Beginn hatte sie die Bedeutung des Mundschutzes für den Einzelnen heruntergespielt. Dabei war klar, dass Masken fehlten, um alle damit zu versorgen. Jetzt ist die Maske verpflichtend und neben dem Sicherheitsabstand Hauptelement der Schutzstrategie. Auch gegen Tracing-Apps hat sich die Regierung ausgesprochen. Nur wie soll das Rückverfolgen von Infektionen, und Infektionsherden dann gehen? Denkbar wären laut Virolog Claude Muller Konzepte, die ohne Übermittlung von Gesundheitsdaten funktionieren, die beispielsweise beim Unterschreiten des gebotenen Sicherheitsabstands warnend piepsen.
JournalistInnen versuchen, solche Widersprüche zu erhellen; einerseits, damit die Bevölkerung Entscheidungen der Regierung und ihre empirischen Grundlagen besser nachvollziehen kann, andererseits, um zu überprüfen, ob die staatlichen Maßnahmen Hand und Fuß – und Kopf – haben. Die über Wochen stramm zentralistisch geführte Informationspolitik der Regierung, so verständlich sie in einer ersten Phase war, um Verwirrung, Falschmeldungen und Panik keinen Raum zu geben, muss sich dringend ändern. Angesichts des Exit stellt sich mehr denn je die Frage: Hat die DP-LSAP-Grünen-Koalition die Zeit des Lockdown sinnvoll genutzt?