d‘Land: Ihr neues Buch Keiner weinte, es gab keine Tränen mehr (Capybara Books, 348 Seiten) stellt die Summe Ihrer Recherchen zum Thema sowjetische Zwangsarbeiter in Luxemburg dar. Wer waren diese Menschen?
Inna Ganschow: Man unterscheidet zwischen zwei Kategorien von Zwangsarbeitern aus der ehemaligen Sowjetunion: den Kriegsgefangenen und den sogenannte Ostarbeitern. In meinem Buch habe ich beide unter der Bezeichnung sowjetische Zwangsarbeiter zusammengefasst. Allerdings wurden die Kriegsgefangenen anders behandelt. Sie waren in der Regel in viel strengeren Lagern untergebracht und mussten auch härter schuften. Im Gegensatz zu den Ostarbeitern, handelte es sich bei den Kriegsgefangenen um erwachsene Männer mit Militärerfahrung. Als Gruppe waren sie also potenziell gefährlicher, da sie beispielsweise Sabotage-Aktionen durchführen oder fliehen konnten. Sie wurden daher anders bewacht und auch systematisch unterernährt. Bei den Ostarbeitern handelt es sich dagegen größtenteils um junge Menschen aus der heutigen Ukraine, Russland oder Belarus, die nach Luxemburg verschleppt wurden.
Aus welcher dieser ehemaligen Teilrepubliken kamen denn die meisten Ostarbeiter?
Von den Ostarbeitern kam über die Hälfte aus der heutigen Ukraine, unter einem Drittel aus Russland und ungefähr ein Sechstel aus dem heutigen Belarus. Einige waren auch polnische Bürger. Diejenigen, die aber 1939 von der Sowjetunion als sowjetische Bürger geführt wurden, habe ich ebenfalls als sowjetische Zwangsarbeiter in die Datenbank aufgenommen. Auch wenn ich nicht glaube, dass polnische Bürger, die 1939 „sowjetisch“ geworden sind, als sowjetische Bürger zu bezeichnen sind. Das mit der Nationalität ist aber so eine Sache: Das französische Wort „nationalité“ meint die Staatsbürgerschaft, während es im Russischen, wo es für Staatsangehörigkeit (Гражданство: grazhdanstvo, Anmerk.d.R.) ein anderes Wort gibt, eher die ethnische und kulturelle Abstammung bezeichnet. In keinem Fall ist deswegen für mich hundertprozentig klar, ob die Angaben in den damaligen Dokumenten von der Person selbst oder dem jeweiligen Sachbearbeiter stammen.
Aus welcher Überlegung heraus haben die Nazis sowjetische Zivilisten bis nach Luxemburg verschleppt?
Es gab einen Personalmangel in der Luxemburger Rüstungsindustrie. In Luxemburg wurden damals Waffen, aber auch Rohmaterialien hergestellt, die anderswo weiterverwendet wurden. Die Zwangsrekrutierung der jungen Luxemburger hatte einen Personalmangel zur Folge, den man dadurch zu beheben gedachte, dass man Zivilisten aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion als Ostarbeiter nach Luxemburg holte.
Sie beschreiben wie nach dem Krieg diese Menschen zum Pfand für die Luxemburger Kriegsgefangenen in Tambow werden…
Als der Krieg vorbei war, wurden die einen aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft entlassen, während die sowjetischen Mädels eingesammelt und zurück in die UdSSR zwangsrepatriiert wurden. Und das unabhängig davon, ob diese Menschen eigentlich lieber in Luxemburg oder überhaupt in Westeuropa geblieben wären. In der diplomatischen Korrespondenz zwischen der Sowjetunion und Luxemburg war dies als Bedingung jedenfalls deutlich artikuliert. Und sobald man den größten Teil der sowjetischen Bürger und Bürgerinnen eingesammelt hatte, bekamen die Luxemburger ihre Jungs Ende 1945 zurück - auch wenn die Zwangsrepatriierung der einzelnen Sowjets aus Luxemburg noch bis Ende 1946 andauerte.
Als sie dann in die Sowjetunion zurückgeschickt wurden, mussten sie über ihre Erlebnisse jahrzehntelang schweigen. Sie plädieren daher auch für die Anerkennung dieser Menschen.
Ja, und zwar als eine weitere Gruppe von Opfern des Nationalsozialismus, die allerdings übersehen und vergessen wurde. Nicht absichtlich, aber weil niemand darum bemüht war, die Erinnerung an sie zu pflegen. Dabei lebten diese Menschen in einem fremden Land, wo sie in bewachten Baracken wohnten und Sklavenarbeit verrichten mussten. Wieso diese Gruppe keine Erinnerung verdient, ist mir schleierhaft.
Dabei haben sie bei ihren Recherchen herausgefunden, dass ihr Arbeitsplatz in Belval, die Uni Luxemburg, auf einem ehemaligen Zwangsarbeiterlager errichtet wurde…
Manchmal frage ich mich, inwieweit ich als Wissenschaftlerin, auch als Aktivistin agieren soll. Ist es meine Aufgabe, mich dafür einzusetzen, dass ein Monument aufgerichtet oder eine Andachtstafel angebracht wird? Oder ist es meine Aufgabe, so lange zu informieren, bis die Zivilgesellschaft selbst aktiv wird? Durch den Ukrainekrieg ist es jedenfalls nochmal schwieriger geworden, sich für dieses Thema einzusetzen. Auch weil im Verständnis vieler Menschen „sowjetisch“ immer noch gleichbedeutend mit „russisch“ ist.
Vor dem Krieg gab es zumindest Unterstützung von Premierminister Xavier Bettel.
Es gab in der Tat Vorbereitungen und ich war ein Teil davon. Aber da sich die russische Botschaft sehr bemüht hatte, war es logisch bei Kriegsausbruch die Zusammenarbeit einzustellen. Aber nochmal, „sowjetisch“ bedeutet nicht gleich „russisch“. Zumal im Falle Luxemburgs, wo weit über die Hälfte der Ostarbeiter Ukrainer und vor allem Ukrainerinnen waren. Gewissermaßen hat man also bis dato kein Denkmal den Ukrainern errichtet.
Inwiefern hat der Krieg ihre Recherche erschwert? Ursprünglich war ja auch ein Dokumentarfilm geplant, sowie Reisen in die Ukraine, nach Belarus und Russland.
Das Projekt begann im Frühjahr 2021. Im gleichen Jahr, im Herbst, hatte ich noch im russischen Staatsarchiv recherchieren können. Doch mit Beginn des Krieges haben wir davon abgesehen weiter mit russischen Archiven zusammenzuarbeiten. (Die belarussischen Archivisten hingegen waren uns gegenüber stillschweigend kooperativ.) Mit den ukrainischen Archiven konnte ich weiterarbeiten. Dank der Zusammenarbeit mit dem historischen Verein After Silence aus Lviv, dessen Mitglieder ich noch vor dem Krieg kennengelernt hatte, konnten wir Ortschaften nach überlebenden Zeitzeugen absuchen. Sie waren meine Augen, Hände und Ohren. Sie haben Interviews vor Ort aufgezeichnet mit Menschen, die sich an einige Ostarbeiter erinnern konnten. Anders als erhofft, war von ihnen selbst leider niemand mehr am Leben. Auf Gebiete im Donbass und in anderen Teilen der Ostukraine, die jetzt russisch besetzt ist, mussten wir verzichten.
Wie ist es eigentlich für Sie als Historikerin, wenn man auf einmal selbst in die Geschichte hineingerät?
Na ja, schön ist es jedenfalls nicht. Ich kann mich hier bewähren mit meiner Stimme, die ich in der Öffentlichkeit habe, mit meinem Vorbild als Person, als Freiwillige, als Pflegemutter eines ukrainischen Jungen usw. Es muss nicht alles so kommen, wie es im Zweiten Weltkrieg schon der Fall war. Natürlich ist es hart, die Distanz zu wahren. Man fühlt sich persönlich angegriffen durch den Krieg und die Geschehnisse. Aber das ist nun mal so wie ich meine Rolle definiert habe: Alles dafür zu tun, damit es nicht ein weiteres Mal auf die gleiche Art endet, wie wir das schon einmal erlebt haben.
Sie recherchieren seit mehr als zehn Jahren zu sowjetischer Migrationsgeschichte in Luxemburg, haben einen Großteil dieses historischen Schatzes überhaupt erst gehoben und 2017 die Archive der Luxemburger Zwangsrekrutierten aus Moskau mitgebracht. Hat das alles nicht auch auf Sie gewartet? Allein schon aufgrund der Sprachkenntnisse, die für die Auswertung erforderlich sind.
Der Historiker Paul Dostert hatte in den 1990er Jahren vor Ort mit einer Dolmetscherin recherchiert, soweit ich weiß. Es gab also bereits vor mir Bemühungen in diese Richtung. Aber sie schmeicheln mir natürlich ungemein, wenn Sie sagen, dass Themen wie Tambow und die Luxemburger im sowjetischen Lagersystem irgendwie auf mich gewartet hätten. Ich hatte die Hoffnung, dass diese Recherche in weitere Projekte an unserem Institut C²DH in Belval einfließen könnte. Leider war das noch nicht der Fall. Ich hatte aber zwischen 2017 und 2019 die Möglichkeit, dank eines Stipendiums der Fondation Lydie Schmit eine Geschichte der russischen Migration in Luxemburg zu schreiben. Für das aktuelle Buch durfte ich dank finanzieller Unterstützung seitens des Ministère d’État während drei Jahren über Zwangsarbeit recherchieren. Derzeit sammele ich im Rahmen eines ukrainischen Projektes Zeitzeugenberichte von Geflüchteten für ein digitales Archiv der Kriegserinnerungen. Aber das Thema Tambow folgt mir überall hin und erinnert mich immer wieder: „Ich muss noch geschrieben werden“.
Ihr Institut bot kurze Zeit ukrainischen Wissenschaftlern Zuflucht. Inwiefern hat das ihren Alltag verändert?
Wir haben früh erkannt, dass ihr kurzes Stipendium von drei Monaten schneller zu Ende ginge als der Krieg. Für meinen Kollegen Marten Düring und mich war daher klar, dass wir diesen Wissenschaftlern weiterhin ein bestimmtes akademisches Umfeld anbieten wollten, und zwar unabhängig davon, ob sie jetzt Beschäftigte waren oder nicht. Und so haben wir das Luxembourg Ukrainian Research Network (LURN) begründet mit dem Ziel sie auch in unsere akademische Umgebung zu integrieren. Ich hatte bereits davor begonnen Ukrainisch zu lernen, weil ich als Freiwillige Flüchtlinge von der ukrainisch-polnischen Grenze abgeholt habe. Mittlerweile kann ich sogar Vorträge auf Ukrainisch halten. Aber natürlich weiß man, dass ich die Tochter von russischen Eltern bin. Auch wenn ich in Kasachstan aufgewachsen bin und nie russische Bürgerin war. Es ist schwierig sich in der Sprache des Feindes als Freund zu positionieren. Und man hat ja doch kaum Möglichkeiten, etwas für die Ukraine von hier aus zu tun. Man popularisiert die ukrainische Kultur und Sprache, kümmert sich um Flüchtlinge, schlägt wissenschaftliche Brücken. Ukrainisch zu lernen und mich von russischen Behörden zu distanzieren ist da für mich eine weitere Möglichkeit, etwas zu tun. Krieg ist ein Barbarisierungsmechanismus. Man soll so bleiben, wie man auch zu Friedenszeiten war: anständig und menschlich. Was haben wir auch anderes dem Krieg entgegenzustellen.