80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz plädieren israelische Intellektuelle für die Abkoppelung des Gedenkens an die Shoah vom israelischen Staat

„Töten oder getötet werden“

d'Lëtzebuerger Land du 07.02.2025

Auf dem Bildschirm erscheint eine dunkelhaarige Brillenträgerin neben einem Kühlschrank. Ihre Lippen bewegen sich, doch sprechen hört man sie nicht. Eilig betreten die Veranstalter die Bühne, weisen die Frau hinter der Webcam auf die technische Panne hin. Kurz danach ist der Ton wiederhergestellt. Sie beginnt erneut: Amira Hass ist live aus Ramallah zugeschaltet. Seit 1997 lebt die Haaretz-Journalistin im Westjordanland, davor verbrachte sie mehrere Jahre in Gaza. Ihre Chronik Drinking the Sea at Gaza (1993-1996) brachte ihr internationale Anerkennung ein. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet, zeitweilig von den israelischen Behörden festgenommen und von der Hamas mit dem Tod bedroht. Auch während des Gazakriegs hielt sie den Kontakt zu ihren früheren Nachbarn aufrecht. Sie zählt zu den bedeutendsten journalistischen Stimmen der Gegenwart.

Dennoch entschied Neimënster sich im letzten Moment dazu ihr, sowie zwei weiteren kritischen Stimmen aus Israel, der Sprachwissenschaftlerin Nurit Peled-Elhanan und der Politiksoziologin Hilla Dayan, keine Bühne zu geben. Die geplante Veranstaltung sei mit den „Werten“ der öffentlichen Einrichtung Neimënster nicht vereinbar. Auf die Frage, um welche Werte es sich dabei handele, erhielten die Veranstalter keine Antwort. (Eine Land-Presseanfrage beantwortete die Direktion ebenfalls nicht.) War es der Titel „Exploiting memory: The Holocaust and the distortion of antisemitism“, der dem Kulturhaus Unbehagen bereitete? Jedenfalls hatte Martine Kleinberg vom mitorganisierenden Verein Jewish Call for Peace Neimënster angeboten, diesen Titel umzuformulieren – vergebens. Und so mussten sich die Veranstalter hastig nach einer Alternative umsehen.

Man könne „den Holocaust-Opfern kaum besser gedenken“ als mit einer Versammlung wie dieser, bei der Menschen „mit Schmerz über eine Epoche nachdenken“, jedoch genauso entschieden die „Manipulation des Holocausts“ ablehnten, beruhigte Amira Hass gleich zu Anfang ihres Vortrags mit dem Titel „Merchandising the Holocaust or the killing of history“. Den Begriff des „merchandising“ habe sie von ihren Eltern übernommen, erklärte sie dem zahlreich erschienenen Publikum in der Neudorfer Culture Bar. Sie erinnere sich noch genau an die „kochende Wut“ der beiden Holocaustüberlebenden, als Premierminister Menachem Begin im Zuge des Libanonkriegs 1981 Palästinenserführer Arafat mit Hitler gleichsetzte. Israel habe die ermordeten Juden in Besitz genommen, „meine Großeltern, meine Onkel, Tanten, Enkel und Enkelinnen, die ich nie kennenlernen durfte – nur um jegliche Kritik an der israelischen Politik den Palästinensern gegenüber und jeglicher Widerstand dagegen von vornherein zu beschuldigen“.

„Ich bin in einer linken Familie aufgewachsen“, erzählt sie. „Das Axiom ‚Nie wieder‘ gilt für alle, es ist nicht auf ein Volk beschränkt.“ Die Palästinenser als Nazis zu bezeichnen, sei „eine einzige Respektlosigkeit gegenüber unseren Familien in Europa, die den Nazis völlig schutzlos ausgeliefert waren“ stellt die Journalistin klar. „Jedes Mal, wenn ein Jude bei einem Angriff getötet wird, heißt es er sei nur deshalb getötet worden, weil sie oder er Jude ist.“ Dies träfe auch auf militärische Opfer eines bewaffneten Angriffs zu. Man begehe aber an den „schwachen, verletzlichen und schutzlosen Minderheiten, die die Juden in Europa waren, großes Unrecht“, wenn man sie mit den Bürgern eines Staates „gleichsetzte“, der eine „militärische Supermacht“ ist. Damit „verzerre“ man die Geschichte.

„Wir haben vor all dem gewarnt, aber wir haben versagt und ich fürchte, dass wir, nach der Brutalität [der vergangenen 16 Monate, Anm. d. Red] an einem Punkt der Unumkehrbarkeit angelangt sind“, sagt Amira Hass resigniert. Es gebe in Israel zwar wohl Anti-Smotrich- und Anti-Bibi Proteste, aber keine „neuen Mythen“. Selbst ehemalige Linke seien mittlerweile „ernüchtert“ durch die Hamas-Attentate und würden nun harte Lösungen befürworten. Die ganze Situation sei „unfixable in the old ways“, also nach herkömmlichen Methoden nicht zu lösen.

Auch Nurit Peled-Elhanan hat jahrelang gewarnt. Nach dem Tod ihrer 13-jährigen Tochter bei einem Terroranschlag im Jahr 1997 begann sie sich in der Friedensbewegung für ein Ende der Besatzung zu engagieren. Als Dozentin für Sprachunterricht und soziale Semiotik an der Hebräischen Universität in Jerusalem hat sie israelische Schulbücher auf ihren ideologischen Inhalt hin überprüft. Frei nach Frantz Fanon und der Frage, wie „Unterdrücker ihre Kinder erziehen“. In ihrem Vortrag „Holocaust education: the rhetoric of victimhood and power“, zeichnete die mittlerweile pensionierte Wissenschaftlerin ein Panorama der Gedenkkultur an israelischen Schulen.

So erinnerte Nurit Peled-Elhanan daran, wie Staatsgründer David Ben-Gurion ab 1939 polemisch von den Opfern des Naziregimes als von jener „Art Juden“ sprach, zu der er nicht gehören wolle, da sie auf den Ruf der Zionisten nicht hatten hören wollen, sich gegen die Nazis nicht zu „wehren“ wussten und nun aus seiner Sicht das zukünftige Israel „zivilisatorisch belasteten“. Aus der antifaschistischen Parole „Nie wieder“ sei so über die Jahre eine Einladung zum „Töten oder getötet werden“ geworden. „Wir waren schwach“, zitiert die Sprachwissenschaftlerin eine Rede Benjamin Netanjahus, jetzt aber „sind wir stark“. Man sehe sich immer noch als Opfer und die Palästinenser als die neuen Nazis.

Im Zuge des Jom-Kippur-Kriegs, den Israel 1973 fast verloren hätte, sei der Holocaust zentrales Thema israelischer Schulbücher geworden – auch um die Jugend von der Emigration abzubringen. Von 45 ausgewerteten Bildern aus dem Curriculum seien rund 35 „atrocity pictures“. Solche Bilder widerstünden aber der Trauer, meint Nurit Peled-Elhanan. Die „Pornografie des Bösen“ habe „keinen erzieherischen Wert“. Ein gutes Beispiel für einen „funktionalisierten“ Umgang mit Bildern von Holocaust-Opfern, wie ihn die Wissenschaftlerin kritisiert, sei die Exekution zweier weißrussischer Partisanen in Minsk. Das von den deutschen Besatzern geschossene Foto zeigt einen Mann und eine Frau am Strang. Dem Schulbuch zufolge handelt es sich dabei um die Exekution von Juden. Tatsächlich ist nur die Frau, Masha Bruskina, jüdisch. Weil sie nicht von den Deutschen fotografiert werden wollte, hatte sie sich vor ihrer Exekution umgedreht und dem Fotografen den Rücken zugewandt. Dieser Kontext ist überliefert. Dennoch hätten sich die Autoren des Schulbuches über ihren Willen hinweggesetzt und sich bewusst für jenes Bild entschieden, das sie von vorne zeigt. Die Idee dahinter sei es, „die Kinder in die Magengrube zu schlagen, auf dass das ewige Feuer der Rache nicht erlösche“, wie Peled-Elhanan den früheren Schulgeneralinspektor zitiert.

Palästinenser kämen in den Büchern ausschließlich als „Problem“ und auch nur am Rande vor. In einer Immatrikulationsprüfung in Geschichte von 2022 sollten die Schüler unter verschiedenen Palästinensischen Terrorattacken eine auswählen und dann deren Einfluss auf die Holocaust-Gedenkarbeit erklären. Widerstand gegen die israelische Besatzung würde bevorzugt als antisemitisches Verbrechen dargestellt.

Hilla Dayan ist gebürtige Israelin und forscht als Dozentin am Amsterdam University College zu Minderheitenbeziehungen im Kontext von Israel-Palästina und Antisemitismus. In ihrem Vortrag, dem letzten an diesem Nachmittag, kam die Politiksoziologin unter anderem auf die Ausschreitungen am Rande des Maccabi Tel Aviv-Ajax Amsterdam Fußballspiels vergangenen November in der niederländischen Hauptstadt zurück. Was als riesige Demonstration und Solidaritätsbekundung mit Israel begann, endete in unschönen Straßenschlachten mit pro-palästinensischen Akteuren. Auf WhatsApp waren sowohl Bilder von Maccabi-Tel-Aviv-Anhängern zu sehen, die Jagd machten auf „Araber“, wie von am Boden liegenden Israelis, auf die getreten wurde.

​„Unter dem Druck der internationalen Aufmerksamkeit kam es zu überstürzten Reaktionen und der Rede von einer ‚Pogromnacht‘ gegen Juden“, wie sich Hilla Dayan später in einem Gastbeitrag für die Tageszeitung Het Parool erinnerte. „Sogar der König der Niederlande sagte an diesem Abend etwas Unsinniges über den Holocaust.“ Für die Politiksoziologin kann dies aber nicht einmal als „Verharmlosung des Holocaust“ angesehen werden. „Es handelt sich vielmehr um kollektive Dummheit über den Holocaust.“ „Es war kein Pogrom, kein Holocaust, kein Anschlag wie am 7. Oktober“, hält die Wissenschaftlerin fest. „Solche übertriebenen und unangemessenen Vergleiche sind ein großer Teil des Problems (…) und ein Geschenk für Israels ‚besten Freund‘, Geert Wilders“, betont Hilla Dayan. Ihre Schlussfolgerung: „Es liegt an uns allen, dafür zu sorgen, dass das Gift des Hasses, der Gewalt, des Rassismus und des Antisemitismus mit mehr und nicht mit weniger Demokratie bekämpft wird. Mit mehr Rechtsstaatlichkeit und nicht mit mehr Repression.“ Und vor allem „Erziehung“.

Frédéric Braun
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