Migrant/innen in Luxemburg am Anfang des 20. Jahrhunderts

„Indésirables“ aus Übersee

d'Lëtzebuerger Land du 10.01.2025

Der zehnte Teil der Serie handelt von einem hohen diplomatischen Besuch, von Ras Tafari, dem späteren Kaiser Äthiopiens Haile Selassie. Er kam auf seiner Europatournee 1924 auch nach Luxemburg. Tafari wurde zwar nicht von der Fremdenpolizei überwacht und es wurde kein Fremdendossier über ihn erstellt, doch viele Zeitungsartikel zeugen von seinem Besuch. Die folgende Erzählung versetzt die sechsjährige Algerierin Sylvannie Bito in die Menschenmenge, die Ras Tafari empfing:

Ras Tafari - Ein Prinzregent in Luxemburg
Ras Tafari (1892-1975, Äthiopien);
Sylvannie Bito (*1918, Alger)

24. Mai 1924. Bereits früh am Morgen waren sie mit Süßwaren bepackt zum Bahnhof gegangen. Obwohl es regnete, war der Platz vor dem Bahnhof voller erwartungsfroher Menschen. Überall standen sie herum. Sie unterhielten sich und lachten. Die Straße war mit bunten Fahnen geschmückt, darunter luxemburgische, die Sylvannie bereits kannte, sowie grün-gelbe-rote Fahnen. Es sah trotz des Regens bunt und festlich aus. Ein Prinz aus Afrika sollte kommen, war Sylvannie gesagt worden. Und sie konnte es nicht erwarten, diesen wichtigen Mann endlich zu sehen. Doch Sylvannies Aufregung hielt nicht lange an. Das Warten langweilte sie. Missmutig stapfte sie neben ihrem Onkel und ihrer Tante her, während die beiden versuchten ihre Süßwaren zu verkaufen.

Endlich bewegte sich die Menge, und eine Gruppe Soldaten marschierte an ihnen vorbei. Sie spielten seltsame Musik aus Blechinstrumenten, die Sylvannie vollkommen unbekannt war. Dann geschah eine Zeitlang gar nichts. „Er ist da! Der Ras ist da!“ hörte sie die Menge rufen und die Menschen um sie herum drängten sich zusammen. Ihr Onkel nahm sie auf die Schultern. Süßigkeiten würden jetzt sowieso keine gekauft. Nun konnte sie ein paar Männer aus dem Bahnhof herauskommen sehen. Einige waren ähnlich angezogen, wie sie es bereits von zuhause kannte: einer war ganz in Weiß gekleidet, die anderen trugen schwarze Kaftane oder Anzüge. „Der Weiße, das ist Ras Tafari, der abessinische Prinz“, meinte ihr Onkel.

Als die Männer in ihre Autos gestiegen waren und abfuhren, versuchten der Onkel und die Tante noch weiter Süßwaren zu verkaufen und dann bewegte sich die kleine Familie, gemeinsam mit der Menschenmenge zum Cercle-Gebäude. Während die beiden Erwachsenen weiter im Regen ihre Waren feilboten, musste Sylvannie wieder warten und so sprang sie auf und ab, um etwas zu erkennen, doch es half nichts. Endlich nahm ihr Onkel sie wieder auf seine Schultern und da konnte sie Polizisten auf Pferden sehen. Pferde hatte sie immer sehr gemocht. Und dann erschien der kleine Mann im weißen Kaftan auf dem Balkon. Die Menschen um sie herum jubelten ihm zu, klatschten und winkten. Sylvannie, angesteckt von ihrer Euphorie, winkte ebenfalls und da kam es ihr so vor, als hätte ihr der kleine bärtige Mann, bevor er den Balkon wieder verließ, zurückgewinkt.

Nun versuchte das Dreiergespann sich mit der Menge weiter zu bewegen, um zum letzten Mal den afrikanischen Prinzen zu sehen. Doch Sylvannie war schon müde und sie war zu langsam, denn als sie am Erinnerungsmonument ankamen, war der Prinz schon weg. „Er ist wieder nach Belgien gefahren“, meinte ihr Onkel, als er merkte, wie enttäuscht sie war. Im Regen verkauften er und seine Frau noch ein paar Süßigkeiten und auch Sylvannie bekam ein Bonbon. Den Besuch des Ras Tafari würde sie ihr Leben lang nicht vergessen, und auch für Luxemburg, wurde ihr gesagt, sei dies ein geschichtsträchtiger Tag gewesen.

Äthiopische Beziehungen

Ras Tafari, damaliger Regent unter Kaiserin Zweditu I, unternahm 1924, ein Jahr nachdem Äthiopien dem Völkerbund beigetreten war, eine Europareise, durch die er sich erhoffte, einen Meereszugang auszuhandeln. Diese führte ihn und sein Gefolge nach Frankreich, Belgien, Italien und in viele andere Länder. Fast überall wurde er von Menschenmengen und diversen Staatsvertretern empfangen1. Und die Großherzogin Charlotte hatte ihn auch nach Luxemburg eingeladen. Ein Gast wie Ras Tafari war eine Seltenheit, was seinen Besuch zu einem Großereignis machte2.

Tafari kam mittags am Bahnhof an, wo ihn Prinz Felix und mehrere Militärs begrüßten. Anschließend fuhr er zu Empfängen, bei denen ihm verschiedene hochrangige Persönlichkeiten Luxemburgs vorgestellt wurden. Im Cercle-Gebäude hielt unter anderem Gaston Diederich (1884-1946), Bürgermeister von Luxemburg, eine Rede. Er verglich Tafari mit den heiligen drei Königen und lobte seine Zivilisationsbemühungen. Er betonte, wie stolz Luxemburg sei, ihn als Gast zu haben und, dass dies eine gute Gelegenheit biete, gemeinsame wirtschaftliche Beziehungen aufzubauen; vor allem die „leistungsstarke Metallindustrie“ könne „neue Möglichkeiten zur Expansion finden“3. Danach führte der Bürgermeister Tafari auf den Balkon, wo er von der draußen wartenden Menschenmenge lebhaft begrüßt wurde. Vor seiner Abreise besichtigte der Ras gemeinsam mit Prinz Felix noch die Gelle Frau, wo die beiden Prinzen erneut von einer Menschenmenge erwartet wurden. Die Großherzogin war bei der gesamten Zeremonie nicht anwesend, da sie drei Tage zuvor ein Kind bekommen hatte.

Das große Interesse der Bevölkerung stand auch in Wechselwirkung mit einer regen journalistischen Berichterstattung, die den Ras auf seiner Europareise begleitete. Batty Weber verglich ihn in seinem Abreißkalender ebenso mit den heiligen drei Königen und bestaunte Äthiopiens Unabhängigkeit in einer von Kolonien geprägten Umgebung. Das Land sei „[…] ein ethnographisches Fundstück, ein kostbarer Zeuge vergangener Jahrhunderte“4, schrieb er und offenbarte dabei nicht nur seine Bewunderung sondern auch ein teleologisch-rassistisches Geschichtsbild5.

Als Ras Tafari im September wieder in Addis Abeba ankam, war es ihm zwar nicht gelungen einen Meereszugang auszuhandeln, jedoch war seine Reise medial erfolgreich, da er nun in Europa als einziger Repräsentant seines Landes angesehen wurde6. Auch nach seinem Besuch berichteten die luxemburgischen Zeitungen weiterhin über ihn, so zum Beispiel über seine Krönung als Kaiser Haile Selassie 1930 oder während des Abessinienkriegs (1935-1936). Dieser spielte vor allem unter den Italiener/innen in Luxemburg eine wichtige Rolle, denn auch entlang dieser Trennlinie verhärteten sich die Fronten zwischen italienischen Faschist/innen und Antifaschist/innen. Während Kirchenvertreter Messen hielten und Spenden für den Krieg sammelten und einige in Luxemburg lebende Italiener sich freiwillig zum Kriegsdienst meldeten, stellten sich die Antifaschist/innen gegen diesen Kolonialkrieg7.

Auch Sylvannie Bito, ihr Onkel David Barokhel (*1894-1929, Oran) und ihre Tante Marie Amouzegh (*1896, Oran) befanden sich 1924 in Luxemburg. Barokhel und seine Frau waren 1923 eingewandert, um sich als Süßwarenhändler/innen zu etablieren. Dabei war Barokhel zuvor schon in Frankreich gewesen und hatte immer wieder Probleme mit der Polizei, nicht nur wegen teilweise unerlaubtem Verkauf, sondern auch weil er während des Ersten Weltkrieges aus einem französischen Kolonialregiment dissertiert war. Der luxemburgischen Fremdenpolizei wurde er vor allem deshalb suspekt, weil es ihm nicht gelang mit seinen Geschäften genug zu verdienen. Seine Nichte Sylvannie Bito wurde 1924 von ihrem Vater, der in Paris wohnte, zu ihnen nach Luxemburg geschickt. David Barokhel und seine Frau gingen später wieder zurück nach Algerien, wo er 1929 mit 35 Jahren starb. Ob Sylvannie ebenfalls nach Algerien zurückging oder zu ihrem Vater nach Paris bleibt leider unbekannt.

Nicht nur unbekannte außereuropäische Migrant/innen, wie Sylvannie Bito, sondern selbst die Präsenz von Größen, wie des Ras Tafari geraten in der luxemburgischen Historiographie oft in Vergessenheit8. Da aber verflechtungsgeschichtlich „[…] die Beteiligung des ,Fremden‘ an der ,eigenen‘ Geschichte […]“9 maßgeblich ist, ist es wichtig, sich dieser Migrant/innen und Ereignisse zu erinnern.

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1 My life and Ethiopia’s progress , 1892-1937: The autobiography. London, New York: Oxford University Press

2 May, Guy (2001): Visite éclair du Ras Taffari . In: Ons Stad 68, 22–24

3 Der Besuch des Prinzregenten von Aethiopien Ras Taffari in Luxemburg. In:

Escher Tageblatt , 25.05.1924, 3

4 Abreißkalender von Batty Weber 24.05.1924, ANLux BW-AK-012-2666

5 Zu Formen des Rassismus, die andere Gesellschaften als historische Vorstufen der europäischen Geschichte betrachten : Hund, Wulf D. (2006): Negative Vergesellschaftung. Dimensionen der Rassismusanalyse. Münster: Westfälisches Dampfboot, 56

6 Monin, Boris (2013): The Visit of Rās Tafari in Europe (1924) Between Hopes of Independence and Colonial Realities . In: ethio 28 (1), 383–389

7 Gallo, Benito (1985): La communauté italienne entre fascisme et antifascisme . In: Michel Pauly (Hg.): Lëtzebuerg de Lëtzebuerger. Le Luxembourg face à l’immigration. Luxembourg: Guy Binsfeld, 65–77

8 Otele, Olivette (2022): African Europeans. An untold history . First edition. New York: Basic Books, 158

9 Randeria, Shalini; Römhild, Regina (2013): Einleitung. Das postkoloniale Europa: Verflochtene Genealogien der Gegenwart In: Sebastian Conrad, Shalini Randeria und Regina Römhild (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M., New York: Campus, 9–31

1 Selassié, Hailé (1984):

Julia Harnoncourt
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