Kaum haben wir unser Touristen- Ghetto verlassen, um ein bisschen Auslauf auf der so genannten Mall zu haben mit anderen Touristen, die ihr Touristenghetto verlassen, um ein bisschen Auslauf zu haben, taucht Gabi aus Linz auf. Gabi aus Linz ist immer dabei. „Ich bin mit Gabi aus Linz befreundet“, sagt der Händler, der unsere Hände enthu-siastisch drückt und uns in seine mit düsteren Pharaonenbüsten voll gestopfte Höhle zerrt. Der Händler nebenan hat exakt die gleichen Pharao-nen und die gleiche Gabi. Mahmut, der wild mit seinen Flyers vor dem Hard Rock Café herum wedelt, war mit Gabi aus Linz zusammen. Nur der Tauchbootbesitzer in der langen braunen Kutte ist total exzentrisch. Seine Freundin war Karin aus Efterdingen, einem kleinen Ort in Ober-österreich, dessen Name auf Gläsern mit eingelegten Gurken steht. Sein Deutsch ist so perfekt, dass er vermutlich Jahre in zum Beispiel der Gurkenglasstadt verbracht hat. Das Deutsch der meisten Händler ist beachtlich. In Linz beginnt’s, verkündet Hatem vor seinen Lederarmbändern.
„Ich bleibe hier,“ sagt sie. „Ich verlasse dieses Land nicht mehr.“ Wir sind gerade gelandet. In der schwülen Nacht turnen dunkle Männer in schneeglöckchenweißen, akkurat gebügelten, perfekt sitzenden Anzügen herum. Die Prinzen der Nacht nehmen Pässe und Koffer in Empfang und schenken Lächeln, Blicke, schnelle Scherze. Die junge Frau kann nicht genug kriegen und ist fassungslos, weil sie entdeckt, was ihr bisher gefehlt hat. Männer. Im Hotel stehen die Boys mit den Koffern im Zimmer und fragen sie immer wieder, ob sie noch was braucht. Nein. Ja. Die erste von tausend und eine Nächten. Draußen blaut der erste von sieben Tagen.
Das Meer ein fetter, blauer Strich. Ein fetter, blauer Pinselstrich. Das einfachste Bild der Welt. Das meerblaue Meer, der himmelblaue Himmel, der sandgelbe Sand. Die schneeweiß lackierten Schiffe. Weißer geht’s nicht. Blauer geht’s nicht. Ein einziges Schiff gleitet in Lila heran. Tussi des Meeres. Die Sonnenschirme am Strand, aus Stroh, ein bisschen verschlissen, vom himmlischen Blau afghanischer Burkas. Strohröckchen in der Bläue, der stille Tanz des Derwischs. Vor dem Roten Meer, dem allerblauesten.
Über den roten Teppich, am uns zunickenden Fez-Träger vorbei in unser Schloss schreiten. Es hat die allermeisten Sterne, Himmelbetten dazu. Plätschernde Brunnen, Skulpturen, Diener, Lakaien, Zimmerknaben, die geschmeidig inmitten strenger Schönheit gleiten. Im Innenhof das türkise Blau des Pools mit Brücken, Inselchen, wogendem Grün. Unter den Arkaden das Buffet, vor dem die Touristen einander umtänzeln und gekonnt jeden Blickkontakt vermeiden. Profis des Überflusses. Alles schon gehabt.
Ich habe mich geweigert, ein Plastik[-]armband zu tragen wie im Schlachthaus, wie im Leichenschauhaus. Ich habe mich geweigert, als gebrandmarkte Touristin durch das Reich des Tourismus zu ziehen, dass Meer und Mumien mich auslachen. Deswegen darf ich mehr zahlen und es ist exklusiv statt inklusiv. Eine Touristin bin ich trotzdem, eine von der lächerlichsten Sorte: die, die keine sein will. Auf dem Weg zum Strand durchqueren wir das Hotel, das weniger Sterne hat, dafür aber mit alles ist. Jugendliche hocken vor Shishas auf der Terrasse, nachts klagt Udo den Palmen, dass er noch niemals in New York war. Die Leute mit den Plastikarmbändchen reden sogar miteinander.
Staubgraue Pyramide am Horizont. Fata Morgana? Sie rückt immer näher. Bald haben wir sie am Schoß. Schwimmend den Ruf des Muezzins hören. In regelmäßigen Abständen dringt er bis in die Enklave der Ungläubigen. Am Freitagnachmittag laufen die Männer dem Ruf entgegen. Angestellte im weißen Hemd, Händler in Jeans und Kutten. Das Ziel ist eine improvisierte Moschee, noch ein Rohbau. Die Betenden hingestreckt auf dem Sandboden. Ein paar verschleierte Frauen kommen uns entgegen. Frauen! Ich habe bisher keine gesehen. Touristin in einem frauenlosen Land. Dem Land der Touristen.
Gegenüber vom Gebetshaus befindet sich ein surrealistisches Kulturministerium – noch eine Baustelle, schon im Verfall? – mit verwaisten Gängen, Treppen, die in den Himmel führen. Daneben ein Polizeibüro mit Polizisten, die die Zeit keineswegs killen, sondern vor der Tür im Schatten chillen.
Wie viele Kamele? Meinen sie es wirklich, die Jungs aus Hurghada, die meist aus Kairo stammen, vor ihren mit überdimensionalen Penissen gerüsteten Pharaonen, den angeblich selbstgebrauten Parfüms, dem düsteren Todeskitsch aus China? Die Jungs aus der Touristenhochburg Hurghada, in der tagein nachtaus Riesenladungen an Frischfleisch und auch weniger frischem Fleisch aus Europa eingeflogen werden. Oder ist es ein Running Gag, ein selbstironischer Scherz, den Blondinen aus dem Norden entgegen geworfen? „Kamele, Kamele“, sagt der Flyer-Verteiler aus Kairo. Aber kein Kopftuch. Bei uns ist es modern! Dann erzählt sein Freund einen so genannten Witz, in dem es um ein Mädchen geht, das arm ist, aber statt ehrenvoll zu verhungern auf den Strich geht. Ihr Bruder ermordet sie, was der Erzähler extrem witzig findet. Wir nicht, aus der Heirat wird nichts werden.
Die Animatoren und Barkeeper werfen der ersten und einzigen je gesehenen Frau Blicke zu. Heiratsangebot beim zweiten Drink aufs Haus. Männer! Richtige Männer, die wissen was sie wollen. Die Touristin, wen sonst? Dieses Wesen, das so praktisch wundersam schnell wieder davon fliegt. Die romantische Raserei weicht innerhalb weniger Tage einem abgeklärten Realismus. Beziehungen mit Europäerinnen haben keine Chance, erkennen Flyer-Boys, Barkeeper, Animateure, Kellner, Tauchbootbesitzer. Irgendwann bleibt Gabi aus Linz in Linz.
Der Kameltreiber rennt keiner Frau hinterher. Wie gemeißelt steht er neben dem entspannt und zugleich würdevoll auf dem Asphalt lagernden Kamel. Ab und zu führt er es auf und ab. Auf dem Rücken des Kamels schaukeln seine Kinder. Touristen, wo sind sie? Auf der Straße mit den Shops ist kaum was los. Warum kommen die Touristen nicht? „Die denken, bei uns ist Krieg. Warum denken die das in Europa?“
Glasbodenboot? Mosesberg? Mumien de luxe? Safari mit Quad? Tierarium? Grabkammer? Alabaster, Papyrus, Kolosse, Könige? Bauchtanz? Beduinendorf, echtes? Aha, es gibt Beduinendorf-Fakes? Ja, in der Nähe von Kairo, die schauen schon Fernsehen! Die Beduinen aus unserm Angebot sind waschecht, die leben wie vor 10 000 Jahren.
„Herr Reiseleiter, wir haben alle Angebote verschlafen, versonnt, verschwommen, vergessen. Können wir mit dem Taxi in die Wüste?“ „Nein! Ich verbiete Ihnen, mit dem Taxi in die Wüste zu fahren. Ausgeraubt, vergewaltigt … das Mindeste!“
Raus! Ins richtige Leben! Auf den Markt? „Dort gibt es nichts als eine Menge dreckiger Ägypter und eine Menge Ratten und Flöhe!“, meint die Empfangs-Blondine. Taxi? Bitte sehr, aber Verhaltensregeln streng beachten! Wie viel man allerallerhöchstens zahlen darf, und dass man darauf pochen muss, dorthin gebracht zu werden, wo man hin will. Im Prinzip, orakeln gesprächige Einheimische, wisse man nie, wo man lande. Meistens vor dem Geschäft eines Kumpanen des Chauffeurs, der den Kunden schon freudig empfange.
Die Taxlermeute hupt und winkt euphorisch, der Auserkorene rast mit uns über die Straße, die das Meer von der Wüste trennt. Rechts und links Rohbauten, eine endlose, gespenstische Touristenstadt wird aus dem Sand gestampft. Der Auserkorene benimmt sich streng nach Drehbuch, hält vor dem Geschäft eines Kumpanen, behauptet, das sei das Wunschziel, verlangt das Fünffache des angeblich normalen Preises, bescheidet sich nach Tränen, Händeringen und Verwünschungen mit dem Dreifachen und lässt uns bei den Todesgöttern und Mitbring-Mumien des Kumpanen zurück.
Die Freiheit beginnt mit der Suche nach einer Toilette, woran sich der Sohn des Shop-Inhabers begeistert beteiligt. Wir laufen ihm durch belebte Seitengassen hinterher, begleitet von dem beliebten Wie-viele-Kamele?-Refrain. Unser Traumziel ist erreicht, eine Toilette, ohne Türgriffe, aber immerhin. Als wir bei den zwei dunkelhäutigen Frauen, die auf einem verschlissenen Sofa in einem leeren Lokal thronen, zahlen wollen, strahlen sie uns an und schütteln den Kopf.
In der angeblichen Altstadt mit den niedrigen, oft nur halb fertigen Betonbauten lebt die Nacht. Männer auf Terrassen, in Cafés, vor Tee, Shi-sha, Spielbrett. Trüppchen verschleierter Frauen mit Kindern, vor denen Autos quietschend bremsen. Endlich Frauen! Aber wo dürfen die was trinken? Und gibt es einen Sonnenhut im Reich der Kopftücher? Irgendwann landen wir erschöpft wieder bei den Toiletten und ihren Hüterinnen. Ein Typ bringt Mineralwasser mit dem beliebten Schuss Ironie: „Direkt aus dem Nil.“ Eine der dunkelhäutigen Frauen setzt sich zu mir. Sie sitzt aufrecht wie die geschnitzten Wahrsagerinnen in alten Jahrmarktkästen, sie schaut mich an, ihre Augen brennen, ihr scharf gemeißeltes Antlitz leuchtet, sie erkennt mich, sie strahlt, wir lachen. Was war das? Wer war das? Überdosis Hatschepsut?
Den Touristen werde er empfehlen, nicht mehr in Taxis zu steigen und keine Hände zu schütteln, vertraut mir der Reiseleiter deprimierende Zukunftspläne an. Ich denke an die vielen, vielen Hände, die wir geschüttelt haben, die uns ins Innere von mit kuhorigen, falken- und schakalköpfigen Wesen vollgestopften Höhlen gezerrt haben, die vor uns gestikuliert haben, um uns einzustimmen auf stimmungsvolle Paradiesinseltrips, die uns geizigen, wirren, verlorenen, vertrottelten Touristinnen blaue Steine schenkten, eine versteinerte Rose, uns hausgemachte Getränke anboten, die nach Chlor und Mottenpulver schmeckten, uns aber nicht akut umbrachten.
Ich kaufe Ansichtskarten aus dem Reich der wüsten Söhne. Immer die gleiche. Der Shop-Inhaber gegenüber vom Hotel, der beinahe nur Wasser verkauft, aber dafür doppelt so teuer wie üblich, schaut mich skeptisch an. Warum immer die? Das Motiv ist ein mit Struwwelpeter-Drastik dargestelltes Beschneidungsritual. „Sehr interessant“, sage ich. „Pyramide viel interessanter“, sagt er.