Dass Wirtschaftsminister Etienne Schneider (LSAP) demnächst die 35-Stundenwoche bei vollem Lohnausgleich einführen wolle, sei selbstverständlich ein Missverständnis, hieß es am Mittwochmorgen während einer gemeinsamen Sitzung der parlamentarischen Ausschüsse für Arbeit, Beschäftigung, Soziale Sicherheit und Wirtschaft, zu der auch Arbeitsminister Nicolas Schmit (LSAP) erschienen war. Die CSV-Abgeordneten Claude Wiseler, Marc Spautz und Laurent Mosar hatten die Aussprache am 19. Januar gleich zu dritt beantragt, denn „[à] l’occasion du pot de nouvel an de son parti, Monsieur le Ministre de l’Économie a annoncé vouloir mener des discussions sur le temps de travail et surtout sur la réduction de la semaine de 40 heures“.
Am 11. Januar, als die LSAP ihre Militanten, Vertreter von Gewerkschaften, befreundeten Vereinen und anderen Parteien zu ihrem Neujahrsempfang in eine Bonneweger Rotunde geladen hatte, veröffentlichte das Luxemburger Wort am gleichen Tag Ergebnisse einer Wählerbefragung, laut der die LSAP zu den großen Verlieren gehörte, wenn derzeit Kammerwahlen wären. Deshalb beruhigte Wirtschaftsminister Etienne Schneider sein Publikum, dass die Regierung gerade ein finanzpolitisches „Wendejahr“ hinter sich habe und es eine Steuerreform und eine Indextranche gegeben habe. Aber weil das wohl nicht genügt, um das soziale Profil der Partei zu schärfen, wie es im Funktionärsjargon heißt, meinte der Minister noch eins drauflegen zu müssen, „sei es, indem man die Gehälter aufwerten muss, sei es, dass man über die Arbeitszeiten nachdenken muss, ob wir weiter bei der 40-Stundenwoche bleiben oder nicht“.
Seinen Vorschlag zur Erhöhung der Einkommen oder Senkung der Arbeitszeit begründete Etienne Schneider damit, dass Luxemburg laut OECD „das produktivste Land der OECD“ sei und durch die Digitalisierung noch produktiver werde. Die Produktivitätsgewinne sollten aber „nicht bloß bei den Unternehmern, bei den Betriebseigentümern ankommen, sondern auch bei den Arbeitnehmern, den Arbeitern“.
Vorsichtiger und mit weniger Echo hatte Parteipräsident Claude Haagen schon einen Monat zuvor in seinem Bericht zum Staatshaushalt für 2017 vorgeschlagen, dass der Produktivitätsgewinn der Digitalisierung „bei den schaffenden Leuten ankommen muss – und weshalb nicht durch eine Verringerung der Arbeitszeit bei gleichem Lohn? Die Digitalisierung, die Produktivitätserhöhungen und eine Verringerung der Arbeitszeit mit dem gleichen Lohn würden in diesem Fall von allen wirtschaftlichen Akteuren akzeptiert, weil sie jedem etwas brächten“.
Wahr ist, dass die gesetzliche Arbeitszeit seit bald einem halben Jahrhundert nicht mehr gesenkt wurde, seit der Loi du 9 décembre 1970 portant réduction et réglementation de la durée du travail des ouvriers occupés dans les secteurs public et privé de l’économie. Damals wurde ab dem 1. Januar 1971 die 44-Stundenwoche auch für Arbeiter und ab dem 1. Januar 1975 die 40-Stundenwoche für Arbeiter und Angestellte eingeführt. Ausnahmen erlaubt das Gesetz in Familienbetrieben, der Landwirtschaft, dem Gaststättengewerbe, der Heimarbeit, dem Straßentransport, der Schifffahrt, dem Gesundheitswesen und anderen Bereichen.
In den Jahrzehnten seit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes zogen Computer in jede Fabrik, jedes Büro, jedes Lager und jedes Geschäft ein und machten viele zeitraubende und repetitive Arbeiten überflüssig, Roboter ersetzten Fließbandarbeiterinnen, die riesigen Werkshallen der Stahlindustrie in Belval oder Differdingen sind heute fast menschenleer, das Internet hat die Kommunikation in den Firmen und zwischen den Firmen vereinfacht und beschleunigt, Mobiltelefone und GPS rationalisierten die Arbeit der Außendienstbeschäftigten. Doch die so entstanden Produktivitätsgewinne machen sich bis heute nicht in einer Senkung der gesetzlichen Arbeitszeit bemerkbar, weil die Wirtschaftskrisen, die Massenarbeitslosigkeit, die Deregulierung der Märkte und die politische Alternativlosigkeit die Gewerkschaftsbewegung international in die Defensive gedrängt haben, die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Produktionsstandorts oberster Staatsauftrag wurde.
Wenn in den vergangenen Jahren von Arbeitszeit geredet wurde, dann war es fast ausschließlich im Zusammenhang mit ihrer Flexibilisierung. Die Beschäftigten erwarten sich dadurch, Arbeit und Familie besser in Einklang bringen zu können, die Unternehmen versprechen sich davon das Ende der Überstundenaufschläge. So versprach 2013 auch das Wahlprogramm des LSAP-Spitzenkandidaten Etienne Schneider lediglich, „dass die Flexibilisierung der Arbeitszeit im Sinne der Arbeitnehmer durch Einführung von Zeitsparkonten ermöglicht wird: Arbeitnehmer sollten selbstbestimmter mit ihrer Arbeitszeit umgehen können“ (S. 35).
Dagegen argumentiert der Wirtschaftsminister heute weder familienpolitisch wie die Konservativen, noch mikroökonomisch wie die Liberalen, sondern traut sich mit der ihm eigenen Chuzpe auf das Feld der Makroökonomie. Er möchte einen Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit durch eine gerechte Aufteilung der Produktivitätsgewinne: „Dadurch dass wir in einem digitalen Zeitalter sind und dieses immer schneller wird, werden wir in eine Situation kommen, und das sagen die Experten nicht nur hier in Luxemburg, sondern international, dass die industrielle Revolution, in die wir gerade hineinkommen, die erste sein wird, die mehr Arbeitsplätze vernichtet als sie neue schaffen wird“, warnte er am Mittwoch nach der Ausschusssitzung im Parlament. Andererseits steige die Produktivität durch „die Digitalisierung, die Robotisierung, die Automatisierung und die künstliche Intelligenz in den nächsten Jahren immens“. Deshalb gehe es ihm darum, „dass wir sagen: Wenn die Produktivität steigt, dann müssen wir auch schauen, dass nicht nur der Arbeitgeber davon profitiert, sondern auch der Arbeitnehmer. Der Arbeitnehmer, der Lohnabhängige, kann dann über zwei Wege profitieren, entweder dass er über die Löhne aufgewertet wird, oder dadurch dass seine Arbeitszeiten reduziert werden“.
Doch wenn es um eine neue Industrielle Revolution geht, berufen sich Etienne Schneider und die gesamte Regierung auf ihren Guru Jeremy Rifkin und dessen Bericht The 3rd industrial revolution strategy study for the grand duchy of Luxembourg. In dessen Schwadronade über Sharing Economy geht bloß von einer Flexibilisierung der Arbeitszeit die Rede, nicht von einer Senkung der Arbeitszeit und schon gar nicht von einer Senkung der gesetzlichen Regelarbeitszeit bei gleichem Lohn.
Die Arbeitszeit drückt das Quantum an Arbeitskraft aus, die ein Betrieb für einen bestimmten Lohn kauft. Deshalb ist sie das Herzstück des Arbeitsverhältnisses und deshalb gingen die Unternehmerlobbys gleich zum Gegenangriff über, umso mehr als sie noch immer sauer auf Etienne Schneider sind, den sie dafür verantwortlich machen, bei der Reform des Pan-Gesetzes zusätzliche Urlaubstage als Gegenleistung für höhere Arbeitszeitflexibilisierung durchgesetzt zu haben. Der Direktor der Handelskammer, Carlo Thelen, will nichts von der sozialdemokratischen Idee einer Aufteilung von Produktivitätsgewinnen wissen und warnt auf seinem Internet-Blog, dass eine Senkung der Wochenarbeitsueit „pour nos entreprises un choc déstabilisateur“ darstellte, „[a]lors qu’elles sont actuellement assaillies par maintes turbulences“. „Une telle ‚camisole de force’ serait catastrophique à de nombreux égards.“ Diese Woche legte die Handelskammer noch einmal nach und verbreitete ein 32-seitiges Papier über Fin du travail (?), robotariat (?), Ubérisation (?), et (possible) modèle social du futur!, in dem keine Rede von einer gesetzlichen Arbeitszeitverkürzung geht.
Auch die Begeisterung des OGBL für den Vorstoß des Wirtschaftsministers hält sich in Grenzen. Er verlangte bei den Diskussionen über die Reform des Pan-Gesetzes die Einführung einer zusätzlichen Woche gesetzlichen Urlaubs. Allerdings ist eine Senkung der Wochenarbeitszeit nicht mit einer Erhöhung der Urlaubszeit vergleichbar: Die Einführung der 35-Stundenwoche brächte eine Senkung der Arbeitszeit um 13 Prozent mit sich, eine zusätzliche Urlauswoche bedeutete dagegen eine Senkung der Arbeitszeit um zwei Prozent. Bereits Ende der Achtzigerjahre, als nach dem Vorbild der deutschem IG Metall erfolglos eine Bewegung für die 35-Stundenwoche aufgebaut werden sollte, war der linke Eisenbahnerverband FNCTTFEL als treibende Kraft ziemlich einsam, der OGBL blieb auf Distanz.
Ansonsten möchte der OGBL lieber Arbeitszeitverkürzungen auf Betriebs- oder Branchenebene aushandeln, auch vielleicht, um seine Vormachtstellung gegenüber anderen Gewerkschaften auszuspielen. Tatsächlich gibt es in manchen Branchen nicht nur zusätzliche Urlaubstage, sondern auch durch Kollektivverträge abgemachte kürzere Arbeitswochen. Aber eine gesetzliche Arbeitszeitreglung ist, ähnlich wie der gesetzliche Indexautomatismus, vor allem für jene unverzichtbar, die in Klein- oder Mittelbetrieben und Wirtschaftszweigen ohne Kollektivverträge arbeiten.
Wahrscheinlich hat der OGBL aber nicht ganz unrecht. Denn die Erfahrung der vergangenen 150 Jahre lehrt, dass eine gesetzliche Arbeitszeitsenkung niemals von oben dekretiert wurde, sondern immer nur auf Druck von unten. Der Einführung des Achtstundentags 1918 gingen in den Jahrzehnten zuvor Streiks für Arbeitszeitverkürzungen in den Handschuh- und Tabakfabriken, Gerbereien, Brauereien und den Druckereien voraus, sie wurde schließlich eine Reaktion auf die revolutionäre Stimmung am Ende des Ersten Weltkriegs. Dem Gesetz über die Einführung der 40-Stundenwoche 1970 waren Ende der Fünfziger- und in den Sechzigerjahren Arbeitskämpfe in den Eisenerzgruben und Schmelzen vorausgegangen. Erst nach der so erkämpften Senkung der Arbeitszeit in Schlüsselbranchen wurde die Arbeitszeitsenkung wieder durch Gesetz verallgemeinert.
Nicht ganz überraschend ruderte der Minister am Mittwoch schon ein wenig zurück: „Das Modell für mich ist in Zukunft eines, das sektorieller sein wird, das größere Flexibilität lassen wird, wie wir diesen Produktivitätsgewinn verteilen werden: Geben wir ihn den Leuten zurück in Form von mehr Lohn, geben wir ihn ihnen zurück in Form von weniger Arbeitszeit pro Woche, oder pro Monat oder pro Jahr, oder für die Lebensarbeitszeit et cetera.“ Offenbar beansprucht Etienne Schneider nicht, eine luxemburgische Martine Aubry zu werden, die im Jahr 2000 als Arbeitsministerin die 35-Stundenwoche in Frankreich einführte.
Nun soll im Herbst weiter über die Arbeitszeit diskutiert werden, wenn das Parlaement die geplante Debatte über den Rifkin-Bericht führen will. Und der Minister beruhigte, dass es „illusorisch“ sei, eine Senkung der gesetzlichen Arbeitszeit noch in dieser Legislaturperiode zu erwarten. So als ob der Vorschlag bloß ein kleiner Spaß für den Wahlkampf wäre.