Stillstand auf den Straßen, leere Wohnviertel, die Auflösung des Menschen in seiner Umwelt, eine gesteigerte Wahrnehmung für die Objektwelt: Vieles von dem was wir momentan alltäglich als die unmittelbaren Folgen des social distancing wahrnehmen, ruft einem gerne filmische Bilder ins Bewusstsein. Pandemie-Szenarien gehören da etwa zum Standardrepertoire von Hollywoodfilmen, wo gerne externe Faktoren die Katastrophe heraufbeschwören. Blickt man indes näher auf die Filmgeschichte, so kann man mit einiger Sicherheit behaupten, dass wohl kaum ein anderer Filmemacher den Prozess des social distancing eindringlicher in einer Bildsprache erfasst hat, als der italienische Regisseur Michelangelo Antonioni (1912-2007).
In Antonionis Filmen ist kein Virus ausgebrochen. Die Welt, die er in L‘avventura (1960), La notte (1961), L‘eclisse (1962) zeichnet, leidet vielmehr unter der „Krankheit der Gefühle“ – eine etwas sperrige Bezeichnung, die man mit dem Terminus „Entfremdung“ sehr viel genauer trifft: eine Art emotionale „Störung“, eine Leere, ein Sich-fremd-geworden-sein. Seine Filme beobachten kritisch wie feinfühlig die sich zunehmend beschleunigende Gesellschaft in Norditalien zu Zeiten des Wirtschaftswunders. Aus diesem Grund entstammen seine Filmfiguren auch gerne der Oberschicht, sie sind frei von materiellen Ängsten und kennen trotz allen ökonomischen Wohlstands keine anderen Sorgen als die eigene Erfahrung der emotionalen und sozialen Distanzierung.
Einen Filmtitel von Antonioni aufgreifend, wurde dieser Zustand von der Kritik aber als Anklage gegen die Entfremdung, ja als „Schrei“ (Il Grido 1957) aufgenommen: Seine Filme stellen die Negativität der Modernität aus. Gegenüber seines Regiekollegen Jean-Luc Godard hat Antonioni Stellung bezogen: „Es ist zu simpel, wie viele es getan haben, zu sagen, dass ich diese unmenschliche, industrialisierte Welt anklage, wo das Individuum überfahren und in die Neurose getrieben wird. (…) Ich lege Wert darauf zu unterstreichen, dass es nicht die Umwelt ist, die die Krise entstehen lässt: sie bringt sie lediglich zum Ausdruck. (…) Ich glaube hingegen, dass wir, sind wir einmal den neuen Techniken dieses Lebens angepasst, vielleicht neue Lösungen für unsere Probleme finden werden.“
Dafür hat Antonioni freilich eine neue Bildsprache gefunden: Gerne benutzt er Panoramaeinstellungen, in denen er das Individuum gegen die kalt wirkende modernistische Architektur urbaner Milieus stellt. Ferner sind es desolate Landschaften, die als externe Visualisierungsmittel der inneren Emotionslagen dienen: eine karge Insel in L’avventura, ein entleerter Park am Ende von La notte oder noch das überwiegend leer stehende EUR-Viertel in L‘eclisse. Und in alledem bewegt sich fast apathisch seine Muse Monica Vitti, die so zu einer prominenten Schauspielerin, einem Star, des italienischen Kinos wurde. Mit der Anordnung der Figuren im Raum, den Blicken entlang der Kamera hat er modernistische Bildformeln gefunden, die dieses undefinierbare Kommunikationsproblem rein filmisch ausdrücken. Bedeutungsvoll werden so die Sprachpausen, in denen sich ein Gefühl einen verbalsprachlichen Ausdruck verschaffen möchte, angesichts der Komplexität der Empfindungen aber nicht realisierbar ist.
Wenn Antonionis Filmtrilogie Anfang der Sechzigerjahre aber als Paradigmenwechsel in der Filmgeschichte stehen darf, dann doch wohl auch und in besonderer Weise für den innovativen Modernitätsschub in der Erzählweise: Das klassische, kausallogische Erzählprinzip wird zugunsten der „offenen Form“ aufgehoben. Die logische Verknüpfung von Ursache-und-Wirkung löst sich auf, an die Stelle tritt die Kontingenz – Filmwissenschaftler Seymour Chatman spricht dafür treffend von der „Entdramatisierung“ der Handlung. Das emotionale Vakuum wird folglich auch bedeutsam in den narrativen Leerstellen, bei Antonioni kommt es zu einer „Ausschöpfung der toten Zeit“, wie Film-Philosoph Gilles Deleuze es einmal formulierte.
Eine Differenzierung ist notwendig: Tote Zeit ist bei Antonioni freilich von vitaler Bedeutung, sind es doch ebendiese Momente des Stillstands, indem sich sein zentrales Thema in den Vordergrund schiebt: Erfahrbar weniger über den Intellekt als über eine emotionale Gestimmtheit, drückt sich das Gefühl radikalster Entfremdung erst allmählich über diese narrativ-losgelösten Bilder aus. In all dieser Gefühlsverwirrung und wirtschaftlicher Prosperität beobachten wir in letzter Konsequenz gleichsam den „Verlust“ der Protagonisten, die Auflösung des modernen Subjekts (das ist hier mitunter ganz wörtlich zu nehmen) – in diesem extremen Bruch mit traditionellen Regeln klassischer Dramaturgie überforderte er zwar sein Publikum (bei der Filmpremiere von L’avventura in Cannes verließen Zuschauer unter Protest den Saal) doch findet darin die Entfremdung ihren radikalsten Ausdruck.
Noch bis heute ist die Schlussszene von L’eclisse wohl der beunruhigendste Austritt aus einer diegetischen Welt. Antonionis Kunst wird deshalb gerne verglichen mit Giorgio de Chirico oder Giorgio Morandis, mit Marcel Proust, mit dem französischen Existenzialismus von Jean Paul Sartre und Albert Camus. Egal wie man Antonionis Schaffen auch betrachten mag, seine Modernität und seine Bedeutung für den Film sind unumstritten.