Verfremdungsästhetik als Reflexion der Conditio Humana

d'Lëtzebuerger Land du 04.04.2025

In der Antike galten die Säulen des Herakles, an der Meerenge von Gibraltar, als Ende der bekannten Welt. 2000 Kilometer nach Osten liegt die Küste Dalmatiens. Auch sie umgibt mitunter eine Atmosphäre von Ende und Aufbruch, zumindest in den Fotografien, die das Projekt Hortus Alienum - Scenographies of Nobody’s Voyage der Luxemburger Architektin, Autorin und Verlegerin Anna Valentiny eröffnen. Das bei Point Nemo Publishing erschienene Buch basiert auf ihrem Diplomprojekt, einer postdramatischen, multimedialen Installation in Wien, wie die Künstlerin in ihrer Einleitung schreibt. Wie in der Ausstellung arbeitet Valentiny auch hier mit crossmedialen Verfahren, womit das Buch zugleich einen Mikrokosmos menschlicher Erfahrung darzustellen scheint. Photographien, Landkarten, Text und Ton, abrufbar über QR-Codes, interferieren miteinander und ermöglichen ein Nacherleben der Ausstellung, eröffnen aber auch neue Bedeutungsdimensionen und Erfahrungsmöglichkeiten. Hortus Alienum beschreitet somit einen Balanceakt zwischen Kunstwerk und Theaterstück und liefert dabei in kondensierter Form eine beeindruckende „Parabel über das Menschsein an sich“.

Das Theaterstück erzählt die Reise der Protagonistin Nobody durch den gleichnamigen Park Hortus Alienum. Zu Beginn verliert Nobody die Erinnerung und so bleibt ihr zur Orientierung nur die genaue Beobachtung und Interaktion mit einer fremden Umgebung. Als moderner „Jedermann“ steht ihre Erfahrung repräsentativ für eine zutiefst menschliche Grunderfahrung. Immer wieder klingen Reminiszenzen an die Odyssee an, aber auch Filme wie The Truman Show nennt die Autorin als Referenz.

Die Narration alterniert mit detaillierten Erklärungen über die geologische Beschaffenheit der Küste Dalmatiens, medial aufbereitet in Zeichnungen, Karten und Photographien. Eine crossmediale Kulissenlandschaft, die Valentiny selbst als Verfremdungsapparat bezeichnet. Die wissenschaftliche Präzision der Beschreibung und über Jahrtausende nachverfolgbare Evolution der Küste werden zur reliefartigen Folie von Nobody’s eigener Orientierungslosigkeit. So entsteht ein Dialog zwischen verschiedenen Topgraphien: Die geographische Topographie der dalmatischen Landschaft wird zum selbstreflexiven Spiegelbild der inneren Topgraphie Nobody’s, „a sequence of seemingly abstract scenographies, forming in their ensemble ‘an island in her mind, a designed dreamscape that she wanders’“.

Der Text ist durchsetzt mit intertextuellen Anspielungen, die auf eine Geschichte der Verirrung und des Irrens als Conditio Humana verweisen. Nobody’s Irrwanderung und -fahrt ist eine Station in einer langen Tradition dieser anthropologischen Grunderfahrung. Valentiny verfolgt auf mehreren Ebenen eine Ästhetik der Verfremdung: Gewissheiten lösen sich auf, in ihrer Bedeutung scheinbar festgeschriebene Symbole erfahren eine Inversion. Der Pfad, „an ancient native myth, a perfectly controlled environment“, verdunkelt sich immer wieder vor der Protagonistin und scheint nur Illusion, der Garten, ursprünglich paradiesisch, ist zum Eintrittspark im modernen Marketing-System geworden, der Chor als unpersönliche Kommentarinstanz des klassischen Dramas ist möglicherweise nur eine eingesetzte Erinnerung der Parkleitung. Auf diese Weise entsteht eine Dynamik zwischen Abriss und Kontinuität mit dem invariablen Substrat menschlicher Erfahrung, in der die Ästhetik der Verfremdung zu einer Reflexion über das Menschsein wird. Der Versuch, die Welt angesichts von Orientierungslosigkeit und Verlorenheit über Erzählungen in ein intaktes Sinngefüge zu bringen, kristallisiert sich dabei als universelle Konstante heraus, als Conditio Humana schlechthin.

Sophie Modert
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