Eines sollte nach dem Stück klar geworden sein: Nüchtern lässt sich die kleine Luxemburger (Theater-) Welt nicht ertragen! Also köpfe ich eine Flasche Cremant, setze mich zu später Stunde an meinen Schreibtisch und proste dem Guy imaginär zu …
Als konservative Lettin mit adligen Wurzeln schweifen meine Gedanken kurz ab und ich träume davon, wie es wohl wäre, mein Leben als mittellose Literatin am Rande des luxemburgischen Wohlstands zu fristen, fabuliere mir farbenfroh meine Randexistenz herbei. Da ich aber alle Religionen hinter mir gelassen habe, die fundamental ausgelegt und ausgelebt werden können, und nur noch den vierarmigen Elefantengott Ganesha verehre, bin ich tiefenentspannt, total Zen.
„All Identitéit ass eng Ligen“, liest man auf dem Flyer zu Guy Helmingers Stück, gewissermaßen dem Beipackzettel, der vor Nebenwirkungen warnt und „Kritiker/innen“ auf die Sprünge hilft. In diesen Flyern wird prophylaktisch und häppchenweise die Interpretation nebst einsetzbaren Superlativen vorgegeben, sodass die Kritik nicht erst ChatGPT fragen muss und nur noch die Bausteine einsetzen …
Auf dem Flyer zeigt ein Pfeil auf das Gesicht Guy Helmingers: „E Guy aus dem Minett, en ale Grommler“. Als Minetter schwätzt der Guy zudem „vun der Long op d’Zong“, sagt also frei heraus, was er sonst so mit Freunden bespricht.
Das Publikum wird vorab gewarnt: Es handele sich um Satire. Und Satire darf bekanntlich alles. Aber Achtung: Was ist wahr? Was (Auto-)Fiktion? Wie viel echter Helminger steckt wohl in dem Stück? Sollte man Autor und Werk nicht trennen ...?
Szenisch weniger aufwändig und ausgeflippt umgesetzt als Filip Markiewicz’ Elektra, ruft auch Helmingers Monolog eine brennende Welt auf den Plan; nur dass alles Üble dieser Welt bei ihm in der Identität zu verorten ist … mit Seitenhieben auf Luc Frieden, der als Ganove aus dem Finanzsektor gebrandmarkt wird: „ethisch und moralisch sei dieser das Allerletzte“. Soweit der Konsens im linken Kulturmilieu und über dessen Ränder hinaus. Aber wenn die Blauen und Liberalen im Allgemeinen die „Bösen“ sind, lande ich dann als konservativ-royale Lettin nicht auch im rechten Lager?
Die Bühne im Kasemattentheater steht mal wieder auf dem Kopf. Unter einem Gerüst, eine verwahrloste Ecke: eine Matratze, Weißweinflaschen mit Schraubverschluss aus dem Cactus, selbstgeschriebene Bücher ... Das Bühnenbild (Soojin Oh) vermittelt Chaos und Bohême: Hier haust eine prekäre Künstlerexistenz!
Philippe Thelen gibt den grummeligen Schriftsteller, der unter der Bühne auf einer fahrbaren Palette herumrollt und ins Publikum meckert: „Ich weiß gar nicht, wieso ihr hier seid – es ist mir auch scheißegal!“
In Guy Helmingers Monolog lamentiert der Ich-Erzähler, er sei jetzt 60 und das Bücherschreiben gehe ihm auf den Keks; während er sein Dasein in einer Kammer unter dem Kasemattenthea-
ter fristet ... Jäh und zornig startet er seine Tiraden auf Identität.
Wiederholte Referenzen auf seinen Kumpel, den „Dramaturgen“ Marc Limpach, „ein feiner Kerl“, irritieren: Hatte der nicht vor Jahren den Ast des künstlerischen Leiters abgesägt und sich kurzerhand an die Spitze geputscht? Der Machtwechsel vollzog sich ohne dass weißer Rauch aus dem Kasemattentheater aufstieg.
Nun ist der Direktor ein bei den Sozis Strippen ziehender Staatsbeamter (siehe sein Porträt in d‘Land 15.12.2023), der in seiner Verwaltung aufgrund seiner Blasiertheit und Blässe Vampir genannt wird. (Was mich vor Neid erstarren lässt, Ich bin schließlich adlig!) Helmingers neuer Best Buddy: ein „feiner Kerl, der immerhin lese“. Dem habe er gesagt, er hätte gern jeden Abend ein anderes Publikum – eine Vorstellung nur für Frauen, nur für Männer, nur für Banker, für diejenigen, die eine bessere Welt wollen ... Denn heutzutage dürfe man ja nichts mehr sagen – ohne dass sich jemand in seiner Identität gekränkt fühle. Allerdings! Als royale Lettin fühle ich mich schon jetzt gekränkt, weil ich nicht erwähnt wurde.
Rückblickend rätsele ich über den Rat seines Vaters, der dem Literaten einst gebetsmühlenartig eingetrichtert wurde: „Do ni e bloe Kostüm un, soss ass et geschass, mäi Jong.“ Der Spruch gibt den Rhythmus des Stücks vor und wurde wohl auch irgendwie Leitmotiv. Erklärt sich so die unbeugsame Vergangenheit des Guy Helminger, der abseits konventioneller Wege viele Trampelpfade von Patagonien bis Nepal einschlug?
Sein Vater habe eine Stahlarbeitervergangenheit und viel gesoffen – wohl das Einzige, was er seinem Sohn vererbt hat, hört man im Kasemattentheater. Eine Videoprojektion spiegelt die prekäre Bleibe, Videoeffekte bleiben jedoch die Ausnahme und erfüllen hier keinen erkennbar tieferen Sinn.
Auf dem Bühnengerüst spielen sich Jil Devresse und Brigitte Urhausen metaphorisch die Bälle zu, geben jüngere Versionen Guy Helmingers und lassen seine wilde Jugend wiederaufleben. Sie rocken als Punks in Karohemden – zum Sound von „No Future“ und erinnern an (s)eine Jugendliebe: eine schöne Frau, die ihn sitzengelassen habe. Fragt sich, was ihre Identität war. „Du wusstest schon immer, dass Identität Willkür ist!“
Die Aufteilung des Bühnenbildes in zwei Ebenen (Soojin Oh), das Oben (wo über Helminger geredet wird) und das Unten, seiner Gedanken-Unter-Welt, macht Sinn. Unter dem Bühnengerüst teilt Philippe Thelen Weißwein süffelnd gegen die Welt aus. Von Anfang an durchbricht er die vierte Wand, bezieht das Publikum ein, beschimpft es.
Die vielen durchdachten Szenen (Liss Scholtes, fantasievoll) münden immer wieder im Fazit: Identität sei „dummes Geschwätz“. Darüber müsse man doch Witze machen!
Allein auf einem Kinderbegräbnis verbiete es sich, Witze zu reißen ... Schmerzhafte Erinnerungen: „Dem Kleinen haben sie das Herz aufgemacht.“ In dem Moment, in dem er gestorben sei, habe er noch einmal seine Augen aufgerissen. Die autobiografische Erfahrung hat Helminger bereits in seinem Roman Morgen war schon (2007) verarbeitet. Sowas markiert eine Zäsur. Die Leere nach dem Unglück: Seine damalige Partnerin, Martine sei gefallen und gefallen und gefallen. Ein starker Moment!
Dann wieder Wuttiraden über Identität: „Wat e Kabes!“ Und es fällt der Satz: „Identitätsdenken ist Totalitarismus – alles Faschisten!“ Identität und identitär, eigentlich kein Unterschied. Ich rätsele, wie er zu diesem (Trug-)Schluss kommt.
Die Frage in den Raum zu werfen, wieso man den in Luxemburg lebenden Ausländern, die zum Wohlstand des Landes beitragen, das Wahlrecht absprechen sollte, ist hingegen mutig. Bravo! Auch ich als royal-konservative Lettin würde gern royal wählen. Darauf ein Schluck Cremant! Nur, ein Referen-Dumm lässt sich nicht so schnell annullieren ... Außerdem sollten sie beim nächsten Mal auch die Frage stellen, ob Fahne mit oder ohne roten Löwen. Ich wäre für einen roten Elefanten!
Nach vielen Scherben würde ihn Martine verlassen, und er ging in eine andere Stadt. Im Kasemattentheater schüttet seine Verflossene Thelen Wein über den Kopf und hinterlässt ihn wie einen begossenen Pudel. „Weiber!“, heißt es in Helmingers Text, ach, ihr Macker, seufz!
Wenn zu den Klängen von Reinhard Mey eine Lanze für Pazifismus gebrochen wird und die beiden Schauspielerinnen morbide Kriegsszenen wachrufen: „Nun werdet ihr sie nicht mit Hass verderben – nein, meine Söhne geb ich nicht!“ und im Chor wiederholen: „Wir haben nur dieses eine Leben“, ist das eine recht pathetische Szene, die berührt. Ich liebe ja Reinhard Mey seit Kindertagen, vor allem sein „Narrenschiff“: „Der Steuermann lügt, der Kapitän ist betrunken (...) Die Mannschaft lauter meineidige Halunken, der Funker zu feig, um SOS zu funken.“
Dann fällt noch ein Gedanke: Alles sei heute Religion. Als royal-konservative Lettin zerbreche ich mir beim dritten Glas den Kopf darüber, was so gefährlich ist an der Religion. Sympathisch hingegen Helmingers Mantra, mehr zu saufen. Schließlich handele es sich um eine Nation von Alkoholikern. Und beim gemeinsamen Trinken löse sich fast jeder Zwist.
Darauf proste ich Guy Helminger nochmal zu. Auf den Frieden – darauf können wir uns, denke ich, einigen. Auch wenn wir wahrscheinlich beide einen anderen meinen. Obwohl den Premier ja niemand gut finden kann: „Pace – sans Luc, alors!“
Ein weiterer neuralgischer Punkt, der an dem Abend hochkocht, ist die ewige Verwechslung der Gebrüder Helminger. So werden denn auch wahre Fälle verlesen. – Beweis einer mangelnden Wertschätzung des Literatursektors? Jedenfalls ein alter Hut.
Moment, der mit dem Hut war doch der andere Helminger! Wie jetzt? Verehrter Herr Kulturminister, lesen Sie das bitte nicht, sonst werden Sie womöglich als Hundertster auch noch ins Fettnäpfchen treten und die Helminger-Brothers verwechseln.
Wenn sich der Schriftsteller am Ende feierlich auf sein Totenbett legt und von seinem Begräbnis halluziniert, ist das urkomisch. Thelen mimt mit einer Weinflasche und gebettet auf Guy Helmingers Büchern den verstorbenen Literaten. Sein letzter Wille: Auf keinen Fall solle ein Pfaffe an seinem Begräbnis sprechen! Selbst der Escher Kulturschöffe Pim Knaff und Georges Mischo lassen sich blicken und geben irgendeinen Blödsinn von sich: ein gelungener Versuch, im Rampenlicht zu sterben, missverstanden bis in den Tod.