„Werd’ ich zum Augenblick sagen: Verweile doch, du bist so schön.“ Goethes Faust wusste um die Kurzlebigkeit des Moments und bannte ihn für die Ewigkeit in Versform. Flüchtige Impressionen, Abbildungen, die an alten Zeiten hängen, die Winzigkeit des Nu, konserviert in der Herrlichkeit der Erinnerung. Die griechische, in Luxemburg aufgewachsene Kritikerin und Kuratorin Sofia Eliza Bouratsis versucht die Flüchtigkeit des Erlebens und Lebens in einer komprimierten Ausstellung festzuhalten. Unter dem Titel Personal notes for a public poem zeigt sie über einen begrenzten Zeitraum, etwa ein verlängertes Wochenende, Werke von drei Kunstschaffenden, die sich auf verschiedene Art und Weise mit der poetischen Bedeutung des Moments auseinandersetzten. Dabei auch Su-Mei Tse aus Luxemburg. Ihre Werke standen in Ergänzung zu Fotografien und einem Gemälde von Dorothée Recker und Fotografien von Harris Tsirinidis. Ergänzt werden diese durch Beiträge der Ausstellungsbesucher, die ihre persönliche Betrachtung zur öffentlichen Poesie machen lassen. Sie sind wesentlicher Bestandteil des Gesamtwerks. Zu sehen war die Pop-up-Ausstellung Ende Oktober im YBDD, Studio for Design and Architecture, Berlin.
Tsirinidis ist den Lesern des d’Lëtzebuerger Land kein Unbekannter. In der Wochenzeitung berichtet er, neben dem Carnet grec der Sofia Eliza Bouratsis, fotografisch über das Leben in Griechenland während und mit der Schuldenkrise. In der Ausstellung offenbarte er mit seinen Fotografien die Poesie eben jener Krise, die er in Augenblicksbetrachtungen einfängt. Ein kaputtes Auto auf einer Unkraut überwucherten Wiese, Kleiderbügel im Schrank, Menschen bei der Arbeit. Diese Momentaufnahmen gewinnen durch die Texte der Besucher an Macht, Bedeutung und Aussage, an Erklärungen und persönliche Erinnerungen in Assoziation mit den jeweiligen Bildern. So schreibt „Person E“ über das Foto eines Arbeiters, der auf der Erde gräbt oder sucht: „Es ist nicht klar, ob der Mann arbeitet oder andere Probleme hat. Er trägt keine Arbeitskleidung. Wenn er arbeitet, dann ist er vermutlich sehr arm und hat kein Geld für ein Werkzeug, um auf dem Feld zu arbeiten.“ Die reine Beobachtung wird ergänzt um die Interpretation: „Ich denke, entweder arbeitet er auf einem Acker irgendwo in einer armen Region (vielleicht Ost-Europa) und versucht etwas aufzupflanzen oder er ist besoffen und hingefallen.“ Mit dieser Erklärung erst wird die widersprüchliche Wahrnehmung von Augenblicken deutlich. Aus der sicheren Distanz heraus und unberührt von der Krise wird die Poesie des Moments akzentuiert, bekommt Synkopen, in denen sie sich von der Erinnerung des Fotografens und des fotografierten Mannes unterscheidet – und doch meinen alle drei den gleichen Augenblick.
Diesen packt Su-Mei Tse in eine Endlosschleife. Ihr bekanntes Werk Floating Memories aus dem Jahr 2009 zeigt eine Schallplatte, die sich auf einem Plattenspieler dreht. Auf der Tonspur des Videos gibt es keine Musik, sondern das Knacken und Knistern, die Geräusche, die über viele Jahre zur Musik dazugehörten und ihr das Imperfekte gaben. „Near to the end“, schreibt „Person A“, „where everything starts. Or already the opposite? The begining? The short moment before the music starts, before you dance. Clic! Come! Let’s go!“ Es ist ein Werk ohne Anfang und Ende, das sich immerzu um sich selbst dreht, mit seinen Geräuschen den Betrachter in die Faszination des eigenen Erlebens oder der eigenen Kenntnis entführt oder durch das Krachen und Knistern auf Distanz hält. Es ist auf den ersten Anschein kaum poetisch, eben kratzig und kratzend, doch über die Weile bekommen die Töne und Bilder ihren eigenen Rhythmus, ihre eigene Geschwindigkeit, ihr eigenes Momentum, das den Betrachter davon trägt. Ganz im Gegensatz zu ihrem zweiten Werk in der Schau: Wings 6,69291’’ aus dem Jahr 2015. Flügel aus massiven Eisen liegen auf einem Seidenkissen, beleuchtet von einer Glühbirne am elektrischen Kabel. Reduzierte Poesie, die kurz am Kitsch vorbeischrammt, denn die Eisenherzen erinnern an einen Gartendekogegenstand, wie sie in Baumärkten vorrätig sind. Ihre Leichtigkeit wird durch das Eisen und die Patina konterkariert. Das Seidenkissen betont den Wert, das Wertvolle von Flügeln, vom Aufschwingen, vom Fortfliegen, vom Davoneilen, was im gleichen Augenblick durch die Glühbirne gebrochen wird. Die Widersprüchlichkeit, die Gegensätzlichkeit hinterlässt Person E ratlos: „Wieder so etwas, was ich nicht verstehe. Das Kissen sieht aus wie Stein, obwohl man sich ein Kissen weich vorstellt, dann ist das Kissen eine Wolke oder der Himmel. Man könnte sich fragen, ob es im Himmel hart oder weich ist.“
Dorothée Recker trägt ein Ölbild bei, vor allem aber eine Installation, in der sie Fotos aus ihren sozialen Netzwerken zusammenträgt, der modernen Form der Erinnerungsbewältigung und Augenblicksverwahrung. Diese Fotos hat sie einem Memory-Spiel ähnlich angeordnet, als gelte es Paare zu finden und Entsprechungen zu suchen – von eigenen, wie von fremden Erinnerungen, an eigener oder fremder Poesie. Jedoch im gleichen Augenblick. Person A: „Crazy! Die. Stress. Wunden. Tote Tiere. Das Leben halt einfach so.“
Die kleine Ausstellung zeigte, die Kraft zeitgenössischer Kunst, wenn sie in den entsprechenden Kontext gebracht und gerückt wird, wenn der Betrachter nicht der Kunst überlassen wird, sondern in sie entlassen wird. Wenn es Denkanstöße von anderen Betrachtern gibt, die nicht davor zurückschrecken, ihr eigenes Unverständnis, ihre eigenen Befindlichkeiten zu schildern und darzulegen. Die Ausstellung gewinnt so an einer weiteren Dimension, die bisher oft vergessen wurde: die Betrachter. Sofia Eliza Bouratsis ist eine spannende Schau gelungen, die auf kleinem Raum zeigte, wie vielschichtig private Notizen zu einem öffentlichen Gedicht sein können.