Ihre Augen fallen auf. Ihr Blick unter dem roten Kopftuch ist ernüchtert und dennoch ungebrochen. Die 18-jährige Zahira gibt sich nach einem erbitterten Kampf mit ihrer Familie geschlagen und lässt sich per Internet mit einem Pakistani verheiraten. Immerhin drei Kandidaten standen ihr zur Auswahl. Per Skype hatten sie Zahira vorab versichert, dass sie schön sei und ihre Liebe groß. – Ein Kulturschock, den selbst Zahira, die in einer traditionsbewussten pakistanischen Familie in Belgien aufgewachsen ist, verdauen muss. Und das ist alles andere als einfach. Denn Zahira will in die Disko gehen, mit Jungs flirten und so ungezwungen leben wie ihre Klassenkameradinnen auch. Wenn sie sich vorstellt, wie sie neben dem unbekannten Angetrauten liegt, erwacht sie nachts schweißgebadet. Ihrem Kampf um ein selbstbestimmtes Leben wird man knapp 100 Minuten lang folgen.
Stephan Strekers Film Noces, eine luxemburgische Koproduktion (Tarantula), ist bisweilen langsam und minutiös, bisweilen in einem rauschenden Tempo gedreht. Minutiös etwa, wenn die Kamera anfangs auf die auf einem OP-Tisch liegende Zahira zoomt. „Wie viel kostet es, das Baby wegmachen zu lassen?“, fragt die Jugendliche. „3,50 Euro, wenn sie die Schwangerschaft krankenversichert und regulär in den ersten 12 Wochen unterbrechen. 800 Euro, wenn sie es hinter der Grenze in den Niederlanden machen lassen“, lautet die nüchterne Auskunft. Rauschend, wenn die Kamera ihr folgt, wie sie von zu Hause ausbricht, sie sich nachts mit Freunden im Club trifft und danach mit ihrem Schwarm auf dessen Motorrad davonsaust.
Die Freiheit ist in Strekers Film von Anfang an der Ausbruch in die Natur. Für den belgischen Regisseur, der über den Journalismus zum Film fand, ist Zahira eine zeitlose Heldin, eine Antigone, weil sie aus den ihr auferlegten Zwängen ausbricht. Und doch ist Zahiras Geschichte nicht als westlich-überhebliche Verurteilung des Islam erzählt. Im Gegenteil, gerade in den Nuancen liegt die Stärke des Films. An keiner Stelle verfällt Streker in pauschale Wertungen. So zeigt er in dem an einer wahren Geschichte inspirierten Film Zahira als selbstbewusste Frau mal ohne Kopftuch, mal mit Kopftuch, wie sie ehrfürchtig betet. Nicht die Religion als solche ist hier das Problem, sondern die archaischen Strukturen und starren Traditionen, gekoppelt an ein Frauenbild, das wenig eigene Lebensgestaltung vorsieht.
„Es ist ungerecht!“, wird es irgendwann aus Zahira herausbrechen. „Natürlich ist es ungerecht. Wir sind ja auch Frauen!“, entgegnet ihre Schwester, die ebenfalls jung mit einem ihr unbekannten Pakistani verheiratet wurde, in ruhigem Ton.
Für Streker ist sein Film vergleichbar mit einer griechischen Tragödie: „Nicht die Situation ist monsterhaft, sondern die Persönlichkeiten.“ Diese Tiefe und Vielschichtigkeit findet man in seinen Figuren wieder. Vor allem die belgisch-marokkanische Lina El Arabi, die in Noces quasi ihr Leinwanddebüt gibt, brilliert als Zahira. Aber auch Sébastien Houbani in der Rolle ihres Bruders beeindruckt durch seine Ambivalenz, hin-und hergerissen zwischen der Liebe zu seiner Schwester und den Erwartungen seiner Familie. Beide räumten auf dem French Film Festival in Angoulême jeweils die Auszeichnungen als beste Schauspieler ab. Babak Karimi, der bereits in zahlreichen Produktionen Asghar Farhadis den an Traditionen hängenden Alten gibt, überzeugt nicht zuletzt in seiner Starrköpfigkeit als Zahiras Vater.
Strekers Perspektive erlaubt es, dass man sich als Zuschauer(in) in die Gefühle Zahiras hineinversetzen kann. Denn nahezu jede Szene beginnt mit der Sicht(weise) der jungen Heldin. So erlaubt es Noces trotz eines ernüchternden blutigen Endes, dass man glaubt, die Freiheit, die Zahira nur ein Stück auslebt, selbst erlebt zu haben.