Verkehrsampeln wurden ausgeschaltet, Fußgänger mussten für zwei Minuten die Straßenseite wechseln, Blaulicht all überall: Es war Parteitag der Europäischen Linken (EL) in Berlin und die deutsche Hauptstadt machte für zwei Minuten in Chaos. Mehr nicht. Man nahm überhaupt wenig Notiz vom Treffen der europäischen Kommunisten und Sozialisten, die am vergangenen Wochenende nur mit einer Personalie auf sich aufmerksam machten, weniger denn mit Inhalten: Gregor Gysi, Elder Statesman der deutschen Linken, ließ sich zum neuen Vorsitzenden der EL wählen. Eben jener Gysi, der vor wenigen Monaten sein Abschied als Fraktionsvorsitzender der deutschen Linken im Bundestag gab. Oder der Gysi, der etwa zur gleichen Zeit auf einem Treffen seiner Fraktion wetterte: „Die Europäische Union ist unsozial, undemokratisch, intransparent, bürokratisch und in einer tiefen Krise!“
Genau dieser Gregor Gysi macht sich nun daran, die EU zu retten. „Mir geht es darum“, gestand er der links-alternativen Tageszeitung Taz, „die Kräfte der Linken in Europa zu bündeln und auf das gemeinsame Ziel zu lenken, die soziale Spaltung und Perspektivlosigkeit in Europa zu überwinden“. Dabei wäre es für Gysi wichtig, zunächst einmal das Verhältnis der Linken zu Europa überhaupt zu bestimmen, solange etwa Sahra Wagenknecht, Gysis Nachfolgerin als Fraktionsvorsitzende im Bundestag, eine Zerschlagung der EU zugunsten eines Erstarkens der Nationalstaaten fordert. Denn geht es um Europa, ist die Linke uneins in ihrer Einigkeit: Zwar mögen alle 25 Mitgliedsparteien der EL sich an den neoliberalen Verhältnissen in der EU abarbeiten, doch an einem gemeinsamen Entwurf für ein zukunftsweisendes, zukunftsfähiges, solidarisches, soziales wie gerechtes Europa mangelt es allenthalben. Vor allem aber in der EL.
Die Europäische Linke ist eine von der EU anerkannte – und finanziell unterstützte – „politische Partei auf europäischer Ebene“, wie es in ihren Statuten heißt. Wobei der Begriff „Partei“ irreführend ist. Es handelt sich vielmehr um eine Vereinigung kommunistischer, linkssozialistischer und rot-grüner Parteien. Solche Zusammenschlüsse gibt es auch bei Christ- wie Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen. Bei der EL bedeutet es Vielfalt. Das Spektrum reicht von der griechischen Regierungspartei Syriza über die traditionsreiche Parti Communiste Français (PCF) bis hin zur luxemburgischen Déi Lénk. Zusammen ist man die „Konföderale Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke“. Doch nicht nur der Name ist sperrig, auch das Konstrukt an sich, denn die EL bildet zwar das Gerüst der Konföderalen Fraktion. Zu dieser gehören aber noch weitere Parteien, die nicht Mitglied der EL sind, wie die irische Sinn Féin, Podemos aus Spanien oder die Socialistische Partij der Niederlande. Es ist eben kompliziert mit den Linken.
Nun soll Gregor Gysi es richten und wenigstens einen politischen Nenner für die EL finden, wenn gemeinsame europapolitische Positionen schon Utopie sind. Seine Aufgabe wird nicht leicht sein, denn er muss vor allem auch zusammenhalten, was im Angesicht der europäischen Krise immer schwerer zusammenzuhalten ist. Da ist zum einen die Austeritätspolitik des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble. Durch sie gewinnen europakritische und EU-feindliche Vertreter vor allem in südeuropäischen Mitgliedsparteien an Stimme und Gewicht. Zudem hat der harte und unnachgiebige Umgang der EU-Institutionen mit Griechenland – der einzigen linksgeführten Regierung in der EU – die proeuropäischen Kräfte innerhalb der EL schwer in die Defensive gebracht. Doch Gysi ficht das nicht, er will „um die Rettung der EU kämpfen“. Sie müsse dazu „deutlich machen, dass und wie Europa eine Chance ist, die Dinge für die Mehrheit der Menschen zum Besseren zu wenden“.
Schließlich ist da noch die Uneinigkeit in den Reihen der eigenen Partei, für die er im kommenden Herbst wieder zur Bundestagswahl antritt. Ein weiteres Amt. Doch auch wenn Wagenknecht pflichtschuldigst gratulierte: „Ich habe großen Respekt davor, dass Gregor Gysi diese schwierige Aufgabe übernehmen möchte.“ Bei der EL gehe es darum, so Wagenknecht weiter, „Prozesse zu moderieren und den Laden zusammenzuhalten, weil die Position der Parteien zu verschiedenen Fragen nicht einheitlich ist, zum Beispiel zum Euro und zur EU selbst.“ Überhaupt war Gysis Kandidatur nicht unumstritten. Nicht nur innerhalb der eigenen politischen Heimat verübelt ihm der Anti-EU-Flügel seine neuerliche proeuropäische Orientierung.
Doch am Ende des Tages verständigten sich die Vorsitzenden der Mitgliedsparteien einvernehmlich darauf, Gysi als Nachfolger des Franzosen Pierre Laurent vorzuschlagen und zu wählen. Denn das Personaltableau bei den Linken ist leer, wenn es um das Thema Europa geht. Gysi ist der Minimalkonsens des Bewahrens, des Verwaltens, nicht des Gestaltens. Und er war der Konsenskandidat von Gnaden der europaskeptischen Linken. Schließlich war Alexis Tsipras am vergangenen Wochenende sein wichtigster Fürsprecher. Sie müssen nun nicht befürchten, dass von Gysi allzu viel Veränderung ausgehen wird.