Das Seufzen der Europäer, seien sie einfache Bürger oder Spitzenpolitiker, war am Sonntagabend gleich zweimal in der ganzen EU zu hören. Beim ersten Mal, kurz nach 17 Uhr MEZ, fegte ein Wind der Erleichterung durch alle europhilen Herzen, als schon unmittelbar nach der Schließung der Wahllokale in Österreich klar war, dass nicht Norbert Hofer von der rechtspopulistischen FPÖ, sondern der grüne Alexander Van der Bellen die Schlacht um das österreichische Präsidentenamt gewonnen hatte. Fast möchte man sagen, nomen est omen, aber der Alpen-Alexander sah kurz vor dem Wahltag beinahe wie ein Kandidat der Opposition und nicht wie ein Kandidat der bürgerlichen Mehrheit aus. Am Ende waren alle froh, dass der Kelch des Norbert Hofer noch einmal vorübergegangen war. Wie schwer bekömmlich er gewesen wäre, belegt ein kleiner Satz des Unterlegenen. „Ich hätte gerne auf unser Österreich aufgepasst“, schrieb der Mann auf Facebook. Dass er damit seine Mitbürger zu Kinder degradierte, denen er gerne die Grenzen aufgezeigt hätte, zeigt mehr als manche andere Äußerung, wes Geistes Kind er und seine FPÖ wirklich sind. Österreich und seine Bürger als Bundespräsident zu repräsentieren, wie es die Verfassung des Landes vorsieht, das lag ihm offensichtlich fern.
Auch in Italien beim Referendum über eine große Verfassungsänderung ließ das Ergebnis nichts an Klarheit vermissen. Die Wahllokale schlossen um 23 Uhr MEZ und der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi kündigte schon kurz nach Mitternacht seinen Rücktritt an. Aus dem glücklichen Seufzer wegen Van der Bellen wurde ein kurzes Stöhnen bei dem Gedanken, was denn nun aus Italien werden würde. Europas „Elite“ unterstützte Renzis Reformvorschlag, aber 59 Prozent der Italiener, bei fast 75 Prozent Wahlbeteiligung, wollte keine Verfassungsänderung, die der Siegerpartei einer Wahl noch genug Prozent drauflegte, um ungestört regieren zu können. Bevor sich die beiden traditionellen Blöcke Italien dauerhaft unter sich aufteilen, wollen wir doch lieber die alte Misere, die wir kennen, so dachten sich wohl viele Italiener. Ohne die italienische Bankenkrise und die enorme Verschuldung des Landes bei gleichzeitiger nun schon jahrzehntelanger wirtschaftlicher Stagnation hätte sich sowieso niemand auf der europäischen Ebene für das italienische Votum interessiert. Nur weil ein Zusammenbruch der italienischen Banken und Wirtschaft die gesamte EU in den Abgrund reißen würde, war das Referendum so spannend. Die EU beschloss deshalb am Montag in Gestalt der Eurogruppe auch konsequent, dass das italienische Votum kein Votum gegen Europa gewesen sei und dass natürlich von einer Krise auf europäischer Ebene keine Rede sein könne.
Wir kennen das aus der Geschichte. Das kommunistische Deutschland war erst dann dem Untergang geweiht, als der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker 1988 feststellte, dass die Mauer noch 100 Jahre stehen würde. Die Lage der Europäischen Union ist mittlerweile so kritisch, so fragil geworden, dass das Wegreden der Krisen alle, die für Europa eintreten, nur umso hellhöriger machen sollte. Es ist wahr, die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten geben sich alle Mühe mit kleinen Schritten der großen Anzahl der Probleme Herr zu werden. Aber sie gleichen damit immer mehr Michail Gorbatschow, der einmal sagte, er sei der Herr über eine Teekanne mit elf Löchern, er habe aber nur zehn Finger, um diese zu stopfen. Das Ergebnis seines Rettungsversuches der Sowjetunion ist bekannt. Das Schicksal der EU steht mehr denn je in den Sternen. Das Jahr 2016 scheint jetzt, kurz vor Jahresende, erst einmal geschafft. Donald Trump wird erst im Januar Präsident, Wladimir Putin ist damit beschäftigt, Aleppo dem Erdboden gleichzumachen und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bellt mehr, als dass er beißt. So scheint zumindest der Weihnachtsfrieden für die Europäer gesichert.
2017 wird ein weiteres Jahr des Bangen und Hoffens werden, denn es wird Wahlen in den Niederlanden, Deutschland und Frankreich und wahrscheinlich auch in Italien geben. Guy Verhofstadt, Fraktionsvorsitzender der Liberalen im Europäischen Parlament, sieht Hoffnung nur in radikalen Reformen der EU. Dass diese in der Wirtschaft-, Außen-, Sicherheits-, Sozial- und Verteidigungspolitik kommen werden, dafür kann man nur noch beten. Für eine rational begründete Hoffnung gibt es nur noch wenige Argumente. Eines davon ist der Brexit. Angesichts dieser Bedrohung kann es der EU gelingen, die Reihen zu schließen und nach vorne zu blicken. 2017 wird zum Schicksalsjahr der EU. Möge uns der Heilige Brexit gnädig sein!