„So etwas haben wir hier nicht, das hier ist ein armes Dorf“, weist mich der kleine Mann im grauen Kittel in dem kleinen Laden zurecht. Das unerreichbare Objekt der Begierde für das Camping-Mädchen ist ein Kreuzworträtselheft. Ein paar Jahre später, Ende der Sechziger, wird es hier schon Frikadellen geben, Fritten und jede Menge kleine Holländer. Kleine Holländer, so nannten wir kleinen Luxemburgerinnen die langen, blonden, lustigen Jungs im Schwimmbad und abends in der Disco.
Die kleinen Holländer auf dem Campingplatz, immer noch baumlang und flachsblond, albern immer noch herum im Schwimmbad, wie beruhigend, spritzen immer noch verzückt quiekende Mädchen an. Die Bademeister tragen aber jetzt Trikots, auf denen „Lifeguard“ steht, und die Wiese, einst von Transistorradioterrorist_innen belagert, ist zur Steppe geworden, stellenweise zur Wüste, aus Baumwipfeln sind seltsame Wedel geworden. So stelle ich mir Geiernester vor. Auch auf dem Campingplatz scheint die Klimamutation schon zugeschlagen zu haben, in der Sahara-Hitze erinnert das Zeltareal an Flüchtlingslager in der Wüste. Die meisten Camper_innen logieren aber gehoben in Holz-Tipis oder in Wohnmobilen, die Wohnimmobile sind, oder in Mini-Villen. Die tragen Nummern, manche Briefkästen und Warnschilder vor Hunden. Wo stand unser Wohnwagen vor über 40 Jahren? Der improvisierte Pfad hat jetzt einen Straßennamen, dort, wo ich im Gras las, pudelt sich ein roter Löwe auf einer Fahne auf. Buddhas, Masken, Arrangements von Steinen und Muscheln haben Hollywood-Schaukel und Gartenzwerge abgelöst, alle sind individualistisch geworden. Geranien werden immer noch gern getragen.
Im Bistro beim Eislaufplatz ohne Eis höre ich, dass nicht die Klimakatastrophe die Bäume entlaubt hat. Sie wurden lediglich geputzt.
Wasser, wo kriegt die Heimattouristin Wasser her, ohne sich total zu ruinieren? Von einem Supermarkt geht die Legende, leider ist er nie dort, wo ich gerade bin. Und die menschliche Sitte, Wasser zu Kaffee oder Wein auszuschenken, wird hierzulande nicht gepflegt, sogar die Herberge, die mir eine Woche lang ein freundliches Obdach bietet, lehnt so ein Ansinnen selbst zu Mahlzeiten ganz entschieden ab. In der Burg schmeckt das Wasser nach Chlor, im Schwimmbad warnt mich eine holländische Camperin vor Chemieeinsatz. Dann dringt auch noch die Kunde eines gekippten Sees an mein Ohr. Im Camping-Büro schenkt sich der junge Mann aber dann demonstrativ Leitungswasser ein: Das trinken wir hier den ganzen Tag!
Neben dem Campingplatz wächst bei einem blumig bemalten Häuschen ein Sonnenblumenwäldchen in den blauen Himmel, ein Mann mit Strohhut gießt, idyllisch wie in französischen Gärtner-Filmen. Ist es Privateigentum? Es ist Paradies, antwortet der Herr der Blumen.
Ich suche das alte Herz von Beefort. Die imposante Kirche, Neugotik aha, zeigt mir gleich mal die kalte Schulter, Gottesdienste sind nicht angegeben, drei Pfarrer www erreichbar. Die Kirche ist beinahe immer zu, sagt der Chef des Hotels nebenan. Und wenn nicht, dann ist sie sowieso leer. Wen interessiert das noch? Und wen interessiert der Friedhof noch?
Der Chef ist allein im im Braunton der Sechzigerjahre gehaltenen und mit dem entsprechenden Mobiliar ausgestatteten Café. Der Gang zur Toilette gerät zum Trip in die Sixties, aber ohne Flower Power. Der Wirt schaltet sein Hörgerät ein, ich bekomme Filterkaffee wie vor tausend Jahren im Café de Paris. Ein paar Gäste tauchen in der mittagsleeren Hitze auf, der Chef plaudert Holländisch mit ihnen. Das Hotel Binsfeld wird mein Lieblingsort in Beefort.
Obschon ich keine Paschtéit hier bekomme. Mein ehrgeiziger Plan, mir jeden Tag meines Beaufort- Aufenthalts woanders eine Königinpastete einzuverleiben, erweist sich als unrealistisch. Herr Binsfeld empfiehlt mir die vom Hotel Meyer, die sei echt. Die anderen unecht? Wieder eine Illu-
sion weniger, aber ist das nicht das Ziel jeder Reise?
Warum ist es hier so totenstill, was geht hinter diesen farbenfrohen Fassaden vor, warum lebt hier niemand oder nichts? Mitten in dem Ort, durch den einst abends aufgekratzte Teenie-Trupps streunten? Warum ist die Disco, die es immer noch an der immer gleichen Stelle gibt, der legendäre Flying Durchman, mitten in der Saison so eiskalt geschlossen wie die Kirche? Wo sind überhaupt die Menschen? Hier bellen eine nicht mal Hunde an.
Die Portugiesen sind weg, sagt Herr Binsfeld, dann sind alle weg. Auch die Kinder.
Wenn wir die Holländer nicht hätten, wäre es ganz leer.
Ein paar Meter weiter, auf der Terrasse des „Portugiesencafés“, dessen Koch im Urlaub ist, verarscht mich der Kirchturm mit seinen vier aufgestellten Mittelfingern, ein wirklich eigenwilliger Stil. Gegenüber gibt es vor einem schön stattlichen Haus Kunst, ein paar Betonklötze mit betrübter Wasseroberfläche. Ein anamorpher Brunnen, wie es in der hochkomplexen Erläuterung heißt.
In der Groussgaass steht ein Kreuzwegkreuz, die Schrift weg gewischt von der Zeit. Manche Häuser sind verwahrlost wie die Gräber auf dem Friedhof, den ich bald entdecken werde, mit allerhand Verdorrtem vor der Tür. In der verlassenen Post mit den verlassenen Briefkästen wird kein Brief mehr aufgegeben.
Bei Mato aber ist was los, die Terrasse meist voll. Mato ist ein vor Energie strotzender Siebzigjähriger, der einst aus Kroatien kam. Heimweh hat er null, hier hat er alles, was er braucht, sagt er auf Luxemburgisch. Wo die Flüchtlinge sind, die bei ihm untergebracht sind? Die haben einen Hintereingang, strenges Terrassen- und Touristenverbot. Aber schlecht geht es ihnen nicht, sie kriegen alles gratis, Unterkunft, Öffis, Schwimmbad und Verpflegung geliefert. Sie würden „sech schecken“, sagt ein Gast, nur arbeiten würden sie nicht wollen und auch nicht können.
Die tüchtigen Jugoslawen haben sie uns weggenommen und weggeschickt!, beklagt sich ein anderer Einheimischer.
Ich sitze auf einer Bank im Wald, Wohnwagen-Flashbacks suchen mich heim. Ein alter Mann setzt sich zu mir, die Dame an seiner Seite wird mir als Polin vorgestellt, die sich um ihn kümmert. Anschließend geht es um die Beeforter Luft, an der etwas Besonderes sein muss, etwas Außerordentliches, Geheimnisvolles. Sie ist nicht nur einfach gut.
Ich gehe in den unter der Hitze immer noch tiefen, grünen, tiefgrünen Wald, er ist immer noch der Märchenwald, das Müllerthal wird schließlich mit „th“ geschrieben wie in alten Märchen. Und wenn der Wolf? Ich spreche laut ins Handy, um ihm Angst zu machen, endlich eine Straße, ich liebe Autos. Vor dem am Waldweg gelegenen Haus steht vor einem Truck ein junger Mann, nein, es gebe hier keine Wölfe, seine Kinder spielten im Wald. Aber dafür eine Hinrichtungsstätte, ein paar Meter weiter. Ich stehe vor dem bescheidenen Kreuz mit der winzigen Muttergottes und schaue in den letzten Himmel. Er schaut heiter zurück.
Herr Binsfeld schüttelt den Kopf, der Gast hinter dem Bierglas auch. Hinrichtungsstätte in Beefort?, niemals! Dafür ist er für die Folterkammer. Dass die Folterkammer in der Burg ein Fake sei, hält er für Blödsinn. Gott sei Dank, damit hat mir ein bestimmt auch Eingeweihter viele Illusionen geraubt, all der Kindheitsgrusel für nix.
Alle Illusionen will die Reisende nicht verlieren.
Rätsel über Rätsel, Beefort ist rätselhaft. Geheimnis um die Portugies_innen, wenn es so viele gibt, warum gehen sie nicht in die Kirche? Sind sie derart integriert? Und warum sehe ich quasi nie jemand, dem ich das Etikett Flüchtling aufkleben könnte? Weil ich sowieso niemand sehe?
Warum ist die Burg so groß? Viel größer als in der Kindheit, meist ist es umgekehrt, alles wird kleiner. Ist das meiste angeklebt, Burgen wachsen doch nicht?
Und gibt es wirklich einen Supermarkt hier? Und nicht nur Eisenwarenhandlungen, gleich zwei in der Groussgaass, so viele auf engem Raum habe ich nur in Mauritius gesehen.
In der Rue du Château stehen auf beinahe allen Briefkästen portugiesische Namen. Ich finde die sand- und lavendel- und siena- und ockerfarbenen Häuser geheim belebt, auch wenn sie offensichtlich verlassen sind. Von einem Haus grüßt mich die Madonna dos Emigrantes solidarisch.
Unterwegs zu meiner Herberge nahe der Burg komme ich an zwei stattlichen Herrschaften vorbei, die in sich gesunken, aber doch mächtig vor einer Haustür Stellung bezogen haben. Sie scheinen Geduld zu haben. Sie sind aus Stein und ihre Schädel aus Bein.
In meiner Herberge schlafen die weißblonden und weißhaarigen Tourist_innen früh, und sie stehen früh auf. Die freundlichen Damen aus Montenegro sprechen Holländisch mit den Touristen. Königinpastete gibt es nicht, ich steige auf Strammer Max um.
Richtung Reisdorf gibt es Reihenhäuser, deren Vorgärten Flächen aus schwarzem oder hellem Schotter sind. Sehr praktisch, wie auf Friedhöfen.
Auf dem Beeforter Friedhof auch. Er ist aber auch ziemlich romantisch. Geborstene Grabplatten, offene Gräber, übermoost, verwildert, eine Katze döst in der Sonne. Aber auch rosiger Marmor, das eine oder andere bürgerliche Grab mit Zeichen, das nur eine echte Bildungsbürgerin entschlüsseln könnte. Die Frauenheiligenquote ist mangelhaft, aber dann, okay, genügend, lächeln doch ein paar Madonnen. Und Danke, liebe Portugies_innen, dass ihr in dieses grabsteinerne Land euer Gold, eure Süße, euer heiliges Herzblut bringt. Herzen, Heilige, Vögel, Ornamente.
Es gibt doch einen Supermarkt. Ich entdecke ihn am letzten Tag. Mit dem Altersheim, er ist gleich daneben. Delhaize steht äußerst diskret am Wegrand, Delhaize heißen sie also jetzt. Ich kaufe Wasser und eine Revue, die, wie sich später herausstellt, von der letzten Woche ist. Dafür ist Thierry auf dem Cover, der Thierry.
Ins Altersheim kann jede rein, ein paar Alte sagen Moien. Ich Alte sage Moien. Es gibt Blick auf den Wald und die Wiese, den Delhaize und den Friedhof gleich nebenan.
Ich versorge mich schon mal mit Prospekten, ganz schön teuer.
Bevor ich fortgehe, gehe ich noch einmal durch das alte Herz von Beefort. Ich sehe einen alten Mann zu Fuß gehen, ich höre Geschirrgeklapper aus einem farbigen Haus. Wie Urlaub im Süden.
Vielleicht ist der Süden wieder da.