Er sei gekommen, „um das alles für einen Abend zu vergessen“, sagt Michael* kurzangebunden. Der Bankangestellte ist mit zwei Freunden ins White Rose in die Hauptstadt gekommen, um das Achtelfinale England gegen Island zu schauen. Mit „das alles“ meint er den „Brexit“, oder wie es dann doch kurz aus ihm rausbricht: „die Katastrophe“.
Laura Gouvres schafft es nicht, sich mit Fußball abzulenken. Seit jenem „schwarzen Donnerstag“, an dem 52 Prozent ihrer Landsleute für den Austritt aus der EU stimmten, kann sie an nichts anderes mehr denken: „Ich und meine Tochter haben geweint, als wir das Ergebnis hörten.“ Die ganze Nacht verfolgte die pensionierte Lehrerin, deren Mutter Italienerin ist und deren verstorbener Ehemann aus Griechenland stammte, die Nachrichten, bis früh morgens klar war: „Mein Heimatland ist raus aus der EU – ich konnte es nicht glauben, und will es noch immer nicht. Es tut richtig weh.“
Auch Judith Rowlands ist, wie sie sagt, „überzeugte Europäerin“, geboren wurde sie in Wales. In ihrem Heimatdorf haben über 60 Prozent für den Brexit gestimmt. Ihr Vater sei ein Minenarbeiter gewesen, habe seine Kinder aber „immer in Offenheit erzogen. Er wollte, dass wir lesen, studieren, die Welt sehen“, sagt sie nicht ohne Stolz.
„Alle meine Freunde“, betont Rowlands überzeugt, seien für den Verbleib gewesen, schon deshalb, weil viele von ihnen in EU-Institutionen arbeiten. Wie sie erlebten sie das Ergebnis daher als ultimativen Schock. Ihre Kinder sind erwachsen und arbeiten in London. „Sie haben ebenfalls Remain gewählt, weil sie von uns pro-europäisch erzogen wurden.“ Für die Nachbarn in der walisischen Heimat gilt das nicht: In der strukturschwachen Region lag die Zustimmung zum Brexit bei 52,5 Prozent. „Wahrscheinlich wussten viele es nicht besser. Die Politiker haben ja kaum mit Erfolgsgeschichten geworben“, versucht Rowlands den Riss zu erklären, der mitten durch ihr Land geht. Kurz nach dem Brexit sorgte ein Brief der Grafschaft Cornwall im Internet für Hohn und Spott, weil die Region, die wie keine andere in Großbritannien von millionenschweren Subventionen aus Brüssel profitierte, dieselben Zuschüsse für die Zukunft fordert.
„Having the cake and eating it“ sei typisch für die eigennützige Einstellung vieler Landsleute zur EU, ärgert sich Linda*. Sie hat soeben im Little Britain in Capellen eingekauft. Ihre stämmigen Arme sind beladen mit farbfrohen Sonderangeboten und anderen Restposten, die in den verwaisten Regalen noch zu haben waren. In den kommenden Tagen schließt mit dem Supermarkt einer der wichtigen Luxemburger Treffpunkte der britischen Gemeinschaft seine Türen. Für immer. „Seit zwei, drei Jahren hat die Kundschaft rapide abgenommen. Da haben wir beschlossen, zu verkaufen“, sagt die Inhaberin und zuckt bedauernd die Schultern.
„Es geht alles zu Ende“, scherzt Linda, die sich als EU-Befürworterin outet, obwohl sie nicht wählen durfte. Wer mehr als 15 Jahre als Brite im Ausland lebte, verliert sein Stimmrecht. Auch die 16- bis 18-Jährigen waren vom historischen Votum ausgeschlossen. „Dabei betrifft es ihre Zukunft sehr viel stärker als unsere“, so die berufstätige Mutter. Ihre Kinder sind erwachsen, aber sie hat Freunde, „die sich jetzt fragen, was die Wahl für ihre Kinder bedeutet.“ Für sie selbst werde sich nichts verändern, so Linda, sie arbeitet für die Nato. „Immerhin: Die Mitgliedschaft hat David Cameron bisher nicht hinterfragt“, kommentiert Linda trocken angesichts der politischen Erdbeben, die der Brexit in ihrer Heimat verursacht hat.
Unklarer sind die Aussichten für Angestellte der europäischen Institutionen. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker versprach via E-Mail, die Tür schließe sich nicht hinter den Briten, die in Luxemburg für die EU-Institutionen arbeiten. Auch die Mitarbeiter der Europaschule auf Kirchberg erhielten schriftliche Unterstützung ihres Generalsekretärs. Es sei „noch zu früh, um darüber zu spekulieren, welche Ergebnisse die Verhandlungen bringen werden.“ Dafür müsse erst der das Ausstiegsverfahren regelnde Artikel 50 im EU-Vertrag aktiviert werden. „Wir sind natürlich traurig. Aber wir werden unsere Prinzipien europäischer Gemeinschaft und Solidarität nicht ändern“, betont Toula Vassilacou. Für den Schulbeginn nach den Sommerferien sei alles organisiert, so die Schulleiterin. An der Europaschule arbeiten viele Briten, ihr Anteil am Personal sinkt allerdings seit Jahren, weil die konservative Regierung in London spart.
Doch was ist mit den Angestellten hier ansässiger britischer Firmen, die – noch – vom Status der Freizügigkeit profitieren?, fragt Lisa Mc Lean, verantwortlich für die englischsprachige Sendung Ara City Radio. Besorgte Unternehmer und Bürger hatten die britische Botschaft um ein informelles Gespräch gebeten, das am 12. Juli stattfinden soll. Am Mittwochmorgen war der britische Botschafter John Marshall zu Gast bei Radio Ara. Ganz Diplomat, suchte er vorsichtig nach Worten: Kurzfristig ändere sich nichts am Status der Briten in Luxemburg, versuchte er zu beruhigen. Die Regierung werde eine Arbeitsgruppe ins Leben rufen, um über die weitere Vorgehensweise zu beraten, hatte Marshall im Land-Gespräch tags zuvor gesagt. Im Radio räumte er ein, es sei schwierig, klare Aussagen über den Status von Unternehmen mit Nicht-EU-Bürgern zu machen. Beschäftigte sollten sich in den nächsten Tagen an ihren Arbeitgeber wenden. Man werde alle Informationen weitergeben, sobald man diese habe.
Das klingt unfreiwillig komisch, denn bisher hat die Tory-Regierung in London keine Marschroute für den Brexit vorgelegt: „Wir erleben einen politischen Melt-down, aber die Regierung hat keinen Plan, wie es weitergehen soll“, schimpft Judith Rowlands. Mit „Lügen und Tricksereien“ habe das Leave-Lager um den ehemaligen Londoner Bürgermeister Boris Johnson das Referendum geführt und gewonnen – und dank einer Presse, die sich parteiisch für oder gegen den Ausstieg aus der EU positionierte. Reißerische Titel wie „gierige Eliten“, „die Diktatoren in Brüssel“ und eine „Flüchtlingswelle aus Europa“, die auf die Insel zurolle, taten das Ihrige. „So viel zum sinkenden Einfluss der Medien“, klagt Judith Rowlands bitter. Auch sechs Tage nach dem Brexit bleibt die EU-skeptische Zeitung von US-Medienmogul Rupert Murdoch, The Sun, im Kampfmodus „Britain got the shot in first“, lautete die martialische Überschrift am Mittwoch über einer Meldung, der zufolge Lieblingsfeind Deutschland das nächste Land in der Reihe der EU-Aussteiger sein könnte. Eine Woche vor der Abstimmung war die Labour-Politikerin, Menschenrechtsaktivistin und Remain-Befürworterin, Jo Cox, in Birstall, West Yorkshire von einem fanatischen Nationalisten erschossen worden.
„Die Austrittsbefürworter haben gezielt Ressentiments geschürt und Gefühle manipuliert“, analysiert Journalistin Lisa Mc Lean. „Wir haben eine lange und unerfreuliche Geschichte von Misstrauen gegenüber der EU, das von den politischen Eliten über Jahre bewusst benutzt wurde.“ Judith Rowlands wird deutlicher: „David Cameron hat sich verzockt.“ Um sich gegen Widersacher in der eigenen Partei durchzusetzen, habe er das Land aufs Spiel gesetzt – und verloren, sagt sie zornig. „Und wie ein Spieler gibt er dafür alle anderen die Schuld, nur nicht sich selbst.“ Wie viele Remain-Befürworter hofft Rowlands auf ein kleines Wunder, den Exit vom Brexit – auch wenn sie weiß, dass die Chancen dafür verschwindend gering sind. Das Labour-Mitglied hat an Abgeordnete ihres Wahlbezirks, einem Stadtteil Londons, geschrieben: „Sie sollen bis zuletzt für Remain kämpfen“, fordert sie. Die 37-Jährige Wahlluxemburgerin hat die doppelte Staatsangehörigkeit.
Landsmann Duncan Roberts will sie nach 15 Jahren „als Europäer in Luxemburg“ beantragen: „Ich möchte wählen. Der Brexit gibt den letzten Anstoß“, so der Chefredakteur des englischsprachigen Lifestyle-Magazins Delano. Darin kommentierte Roberts, viele Briten in Luxemburg würden sich über den Brexit schämen. Andere seien wütend, dass sie nicht wählen konnten, obwohl sie von dem Ergebnis direkt betroffen sind. Etwa zwei Millionen britische Expats leben im EU-Ausland. Für viele ist der Brexit der Auslöser, jetzt doch einen luxemburgischen oder anderen EU-Pass zu beantragen. In der Botschaft gehen täglich Anrufe besorgter Briten ein, die wissen möchten, was sie tun können, um in der EU dauerhaft zu bleiben. Die irischen Passbehörden melden seit dem Brexit einen kaum mehr zu bewältigenden Ansturm. Wer nachweisen kann, irische Vorfahren zu haben, darf die Staatszugehörigkeit auf der grünen Insel beantragen.
Andere fühlen sich zunehmend fremd im eigenen Land: Laura Gouvres wollte ihren Lebensabend nahe der Familie in London verbringen. „Jetzt bin ich mir nicht sicher, ob ich dort überhaupt leben möchte“, seufzt sie mit Blick auf den Auftrieb der Nationalisten. Seit dem Brexit häufen sich Schlagzeilen rassistischer Übergriffe. „Ich habe eine Kollegin, deren Eltern aus Indien stammen. Für sie muss es furchtbar sein.“ Judith Rowlands macht sich wirklich Sorgen um ihr Land: „Unsere Eltern haben den Krieg erlebt und gegen den Nationalismus gekämpft. Aber mittlerweile scheint Großbritannien in eine Krise zu schlittern, die an die 1930-er Jahre in Deutschland erinnert“, fürchtet sie. Dabei hat die Lehrerin, wie viele Remain-Befürworter, großes Verständnis für wachsenden Frust und Unmut mit der politischen Führung in London: „London ist multikulturell und lebendig. Doch je weiter man in den Norden fährt und in die ländlichen Gegenden, umso mehr sieht man Armut und Niedergang.“
Auch in London, sagt Carine Ries, klaffen tiefe soziale Gräben. Die Luxemburger Musiktherapeutin kam 2004 zum Studium auf die Insel und lebt seitdem dort. Obwohl sie in einem quirligen, multikulturellen Viertel in East London wohnt, begegnete sie Kollegen in der Schule, die gegen Einwanderer schimpften und auf den Brexit anstießen. „Als ich ihnen sagte, dass ich auch betroffen bin, hieß es: Dich meinen wir nicht, du bist integriert.“ Ob sie die britische Staatsangehörigkeit beantragen wird, hat die 32-Jährige, die inzwischen selbständig ist und britische Mitarbeiter beschäftigt, noch nicht entschieden. Sie warnt davor, die Brexiteers zu verteufeln: „Viele haben andere Lebenserfahrungen gemacht, sind nicht so behütet aufgewachsen.“ Soziale Abstiegsängste spielten eine große Rolle bei der Abstimmung. „Die Nachbarn meiner Schwester klagten, die Einwanderer nähmen ihnen die Jobs weg, dabei gibt es in Wales keine Jobs – und auch kaum Einwanderer“, beschreibt Judith Rowlands ein Phänomen, das es überall in Europa gibt. In Wales liegt die Arbeitslosenquote bei 4,8 Prozent, allerdings ist in der region auch der Anteil der „inaktiven Arbeitsfähigen“ mit 24 Prozent sehr hoch. Unverständnis hat Rowlands für jene, die es besser wissen könnten – und dennoch für den Brexit stimmten. Ein befreundeter Forscher sagte ihr, er sei für mehr Souveränität und habe deshalb für Leave gestimmt. „Dabei ist die Forschung in Großbritannien ohne die EU-Subventionen völlig undenkbar“, ärgert sie sich über „die Ignoranz“.
Wie kniffelig es mit der nationalen Souveränität sein kann, mussten auch die englischen Fans erleben: Am Montag schlugen die Isländer die Engländer im Achtelfinale der Fußball-Europameisterschaft mit 2:1. Lange Gesichter im White Rose und im Irish Pub. „Der zweite Brexit innerhalb weniger Tage“, sagt ein Besucher im roten Drei-Löwen-T-Shirt geknickt.