„Ich weiß nicht, wieso die Leute immer nur an der Vergangenheit interessiert sind. Ruanda ist mehr als nur der Schauplatz eines Genozids“, beklagt sich Jack Yakubu Nkinzingabo. Auf der Dachterrasse eines Cafés im Herzen von Kigali hat er sich einen Kaffee bestellt und lässt seinen Blick über die vielen Hochhäuser schweifen, die aus der Silhouette der Stadt hervorstechen. Kigali erweckt den Eindruck einer Stadt, die der Zukunft zugewandt ist. Das Café, in dem Jack sitzt, wirkt wie der Inbegriff der neuen Moderne Ruandas. Hier haben Jungunternehmer, Künstler und Expats einen Platz zum Arbeiten gefunden. Junge Leute, die gespannt auf ihre Laptops starren, in ihr Notizbuch kritzeln oder auf ihrem Smartphone tippen, prägen das Bild. Dabei ist das Gebäude mit den von Graffiti, Fotos und Sprüchen überzogenen Wänden ein Kunstwerk an sich.
Jack ist einer von vielen jungen Ruandern, die vor Kreativität und Lebensenergie nur so strotzen und zur positiven Entwicklung des Landes beitragen wollen. Der junge Fotograf mit Dreadlocks und schüchternem Lächeln porträtiert mit Vorliebe den Alltag der Menschen. Die Fotografie erlaube es ihm, den Leuten „sein Ruanda“ zu zeigen und seiner Heimat ein neues Gesicht zu geben, erklärt der Autodidakt, der seine erste Kamera von einem US-Amerikaner geschenkt bekam, den er bei dessen Urlaub in Kigali kennenlernte.
Sein Wunsch sei es, seiner Heimat ein neues Gesicht zu geben, meint Jack. Er habe es satt, dass Google bloß Bilder von Macheten, Massengräbern und dem ruandischen Präsidenten Paul Kagame ausspuckt, wenn man im Internet nach dem Staat in Ostafrika sucht. Dabei richtet sich Jacks Kritik vor allem auch gegen die Art und Weise, wie im Westen über seine Heimat berichtet wird. Noch heute werde Ruanda nur mit den Bildern in Verbindung gebracht werden, die seit 1994 vielfach um die Welt gegangen sind. Bilder von Leid, Gewalt, Chaos und Flucht, die das Land im Osten Afrikas wie einen Schatten verfolgen. „Die Menschen im Westen glauben, Ruanda sei nicht sicher. Dass man hier kein Wifi hat und es keine ordentlichen Straßen gibt. Sie haben keine Ahnung!“
Jacks Bilder zeigen Ruander beim Einkauf im Supermarkt, junge Frauen im schicken Kleid abends auf dem Weg zum Club; aber auch Eindrücke vom Leben in den entlegenen Dörfern: Kinder mit Milchbart, die auf der Straße spielen, Dorfbewohner in bunten, traditionellen Kleidern, die Kanister mit Wasser auf ihren Köpfen jonglieren. Oft könnten Jacks Fotos nicht gegensätzlicher sein, Alt trifft auf Neu, Tradition auf Moderne. „In den ländlichen Gegenden legen die Menschen tagtäglich mehrere Kilometer zurück, um Wasser zu holen, während es in der Hauptstadt mittlerweile normal ist, Menschen mit Dreadlocks oder Tattoos über den Weg zu laufen.“
Jacks Bilder sind Aufnahmen eines Landes, das sich rasant weiterentwickelt – und das erklärt wohl auch Jacks Erfolg. Seine Bilder werden über die Grenzen hinaus Ruandas, sogar in Europa ausgestellt. Wie es scheint, kann man mit einem Beruf, der nicht der traditionellen Norm entspricht, in dem ostafrikanischen Staat heutzutage erfolgreich sein.
Startups und Poetry Slams
In Kigali sprießen nicht nur neue Gebäude, sondern auch Kunstgalerien und Startups aus dem Boden. Die Leute treffen sich zu Poetry Slams und Storytellings. Jack ist einer der erfolgreichen Vertreter einer neuen Generation, die die Vergangenheit nicht wie einen schweren Anker mit sich herumschleppt. Was nicht heißen soll, dass diese Generation nicht durch die Ereignisse der 1990er beeinträchtigt wurde: Viele junge Ruander sind Weisenkinder oder haben einen Teil ihrer Familie nie kennengelernt, sind HIV-positiv und leben bis heute mit den Wunden des Genozids. Jacks Generation jedoch zeichnet sich auch dadurch aus, dass sie nach vorne schaut und ihr Potenzial auszuschöpfen versucht. In dem Sinne ist Jack ein Role-Model: Menschen zu denen junge Leute aufsehen können, gibt es in dem Land, in dem vor nicht so langer Zeit über 800 000 Menschen ums Leben gekommen sind, wenige. Jacks jüngstes Projekt greift genau dieses Problem auf: I am a Survivor porträtiert junge Leute, die während des Genozid zur Welt kamen und ihr Leben zum Guten wenden konnten, die erfolgreich sind und wie Jack ihre Träume verwirklicht haben. Sie füllen eine große Lücke und zeigen gleichzeitig, welches Potenzial in Ruanda steckt.
Dieses Potenzial versucht die Regierung auszuschöpfen und Jack passt gut in das Bild eines Landes, das einen „Masterplan“ hat. Der zielt darauf ab, Ruanda zu einem „Singapur Afrikas“ zu machen. Der Genozid scheint dabei als Stunde Null zu fungieren. 1994 gab kaum mehr Fachpersonal, keine Infrastruktur, eine ganze Generation war verschwunden. Nun, über 20 Jahre später, ist es schwer zu begreifen, wie schnell sich Ruanda erholt hat. Jedenfalls augenscheinlich.
Über 400 Studenten durften in den Jahren nach der Jahrtausendwende auf Staatskosten in Indien und Europa studieren, damit neue Fachkräfte zur Verfügung stehen. Überall ragen halbfertige Gebäude aus der Landschaft, neben denen die traditionellen Häuser, meist einstöckige Steinbauten, fast schäbig aussehen. Alt trifft neu. Was einem bei Jacks Fotos ins Auge sticht, charakterisiert auch das Stadtbild Kigalis. Frauen in bunten afrikanischen Trachten, ihr Kind auf den Rücken gebunden, teilen sich den Bürgersteig mit jungen Anzugträgern, das Handy am Ohr, die Aktentasche in der Hand. Man sieht kaum alte oder kranke Menschen, geschweige denn Obdachlose oder Bettler. Die Straßen in der Innenstadt sind modern, der Verkehr dicht. Die Stadt ist unglaublich sauber. Plastiktaschen sind im ganzen Land verboten. Die Parkanlagen sind gepflegt, den ganzen Tag über trimmen Arbeiter die Grünflächen und fegen den Sand von den Bürgersteigen, den zu sehen es wohl eine Lupe bräuchte. Im Convention Center, einem runden, modernen Hochhaus, das nachts in allen Farben leuchtet, findet gerade die Fintech-Messe Dot Finance Africa statt. Besonders im Bereich ICT will Ruanda ein Vorreiter werden und den Weg in die Zukunft weisen.
„Remember. Unite. Renew“
Dennoch, die Ereignisse von 1994 sind nicht ganz begraben. Überall hängen Banner mit den Worten: „Remember. Unite. Renew“ – ab dem 7. April wird alljährlich 100 Tage lang der Opfer gedacht. Keine hundert Meter kann man durch die Stadt laufen, ohne nicht mindestens einem Banner zu begegnen. So wie in The Great Gatsby der Augenarzt auf dem Werbeplakat jedweden überwacht, sind es in Kigali diese Banner, die fast etwas Bedrohliches an sich haben. Wehe wenn nicht, scheinen sie zu schreien.
„Unity“ ist indes ein Schlagwort, das einen wie ein hartnäckiger Ohrwurm nicht mehr loslässt: Christen in einer moslemischen Schule? In Kigali kein Problem. Expat-Kinder, die mit Waisenkindern Fußball spielen? Auch das geht. Diskriminierung? Ein Fremdwort, die Menschen unterstützen sich gegenseitig. Einmal im Monat steht für alle Ruander umuganda, Gemeinschaftsarbeit, auf dem Programm. Jeder muss etwas tun, das der Gemeinschaft zugute kommt: für die Älteren kochen, den Bürgersteig fegen oder Gebäude reparieren. Solche Sachen. So sind auch die vielen Wandmalereien entstanden, die auf öffentlichen Plätzen den Wegrand zieren.
Doch das positive Bild hat einen leichten Beigeschmack. Immer wieder scheint es zu perfekt, zu gewollt und vermittelt das Gefühl, man sähe nur einen Bruchteil der Wirklichkeit. Dann wirkt alles wie eine Fassade und man kann sich in Jewgeni Samjatins dystopischen Roman We verschlagen vorkommen. „Remember. Unite. Renew“ scheint wie eine Indoktrination, etwas, das die Bewohner von One State bei ihrem Spaziergang rezitieren würden. Wo sind die Ecken und Kanten?
Ja, die Parks sind gepflegt, doch niemand betritt sie und erfreut sich an den grünen Wiesen. Ja, die Schule ist kostenlos, aber wieso laufen morgens Kinder durch die Straßen, die nicht in der Schule sind? Ja, Frauen haben Erfolg, aber was ist mit denen, die nicht wie Jack perfektes Englisch sprechen und eine gute Schulbildung genießen konnten? Und ja, überall sprießen moderne Gebäude aus den Boden, doch was ist mit den Häusern passiert, die früher dort standen?
Märkte weichen Supermärkten
Es gibt sie, die Verlierer, auch wenn ihr Schicksal von der rezenten Erfolgsgeschichte des Landes überblendet wird. Zum Beispiel diejenigen, die sich das incentive, den finanziellen Anreiz für die Lehrer, oder das Geld für die Schulbücher nicht leisten können. Oder die, die nicht in das Bild der modernen jungen Hauptstadt auf Erfolgskurs passen. Man findet sie zum Beispiel am Kimironko, einem der traditionellen Märkte Kigalis. Auf engem Raum tummeln sich dort Frauen, verkaufen Gemüse, sitzen auf dem Boden, schälen Bohnen und erzählen sich den neuesten Klatsch. Die Luft ist schwer, es riecht nach einer Mischung aus frischen Obst, getrocknetem Fisch, Leder und Hühnerdung. Auf der einen Seite werden Lebensmittel verkauft, auf der anderen Secondhand-Schuhe und Klamotten, genauso wie Alltagsprodukte, Klopapier und Spülmittel.
Schnell wird klar, dies ist mehr als nur ein Markt. Es ist ein sozialer Treffpunkt: Jeder scheint jeden zu kennen, man gibt sich die Hand und tauscht sich aus. „Das wird es bald nicht mehr geben“, erzählt Francis, ein ruandischer Übersetzer, der nebenher als Touristenführer arbeitet. Die Regierung wolle statt der traditionellen Märkte neue Supermärkte errichten. Ein Markt wurde bereits zerstört, dort steht nun ein neues, modernes Kaufhaus. Ein weiterer Markt soll bald geräumt werden und Platz für einen Supermarkt schaffen. Secondhand-Schuhe dürften eigentlich nicht mehr verkauft werden. „Die Regierung will, dass alles neu ist.“
Neu ist entweder teuer oder unter fragwürdigen Bedingungen hergestellte Billigware. Doch wie wollen sich die Ruander „neu“ leisten? Im Supermarkt herrschen mit Sicherheit andere Preise als in Kimironko. Und den vielen Menschen, die hier ihre Produkte verkaufen, viele davon im eigenen Garten angebaut oder zuhause selbst hergestellt, wird der Lebensunterhalt genommen. Und nicht nur das. Genommen wird ihnen auch ein Ort des Zusammentreffens, an dem gelacht, getratscht und sich ausgetauscht wird.
Ähnlich sieht die Situation in einem der ärmeren Viertel Kigalis aus. Anders als im Expat-Viertel Kimihurura, wo Luxushäuser mit Garten hinter riesigen Zäunen versteckt sind, erstrecken sich hier kleine Steinbauten entlang der staubigen Sandstraßen. Hühner teilen sich mit den Einwohnern den Gehweg; hier und da grast neben kleinen Plantagen mit Kochbananen, Sorgum und Bohnen für den Eigenbedarf eine Ziege an der Leine. Die meisten Familien, die hier leben, haben nur ein oder zwei Zimmer zum Wohnen. Viele haben einen Raum in einen kleinen Laden verwandelt, in dem sie Alltagsgegenstände verkaufen oder für kleines Geld etwas zu essen oder zu trinken anbieten.
Auf alle Häuser wurde ein großes rotes Kreuz gemalt. Regierungsangestellte haben die Häuser markiert; bald müssen die Bewohner ausziehen, ihre Wohnungen werden zerstört, um Platz für neue Apartments und Hochhäuser zu schaffen. Die Menschen sollen „relokalisiert“ werden, heißt es, erklärt Francis. Ihnen würde außerhalb der Stadt ein Platz zum Wohnen gestellt. Auch etwas Geld bekämen die Familien und sie hätten Zugang zu medizinischer Versorgung. Eine Schule gebe es dort ebenfalls, versichert Francis. Wie die Realität aussieht, ob das Geld zum Leben reicht, lässt sich nicht sagen. Wie ist die Qualität der Schule? Wo finden die Leute Arbeit? Müssen die Eltern dann jeden Tag den weiten Weg zur Innenstadt zurücklegen, um Arbeit zu finden? Diese Fragen bleiben unbeantwortet.
Will man in Kigali bauen, muss man den Plan dafür erst einer Verwaltung der Regierung zeigen. Passt das Haus nicht in den Masterplan über das Kigali der Zukunft, wird man gebeten, woanders zu bauen, abseits des Zentrums. Wer dort baut, für den stellen sich dieselben Fragen und Hürden, wie für jene, die „relokalisiert“ werden.
Eine kleine Siedlung etwas abseits der Stadtmitte gibt einen Eindruck, wie die neuen Viertel für diejenigen aussehen, die nicht in das Bild des afrikanischen Singapurs passen. Hier hat die Regierung Häuser für Twa, umgangssprachlich Pygmäen, errichtet. Auch hier zieren kleine Felder den Wegrand. Kinder in zu großen, teils zerfetzten Kleidern spielen auf dem Sandweg. Die Großen gehen zur Schule, doch für die kleineren Kinder – viele davon sind Waisen oder ihre Eltern alkoholkrank – gibt es keinen Rückzugsort. Für sie hat eine regionale NGO eine Vorschule errichtet. In zwei winzigen Räumen tummeln sich morgens jeweils 40 bis 50 Kinder und werden von jungen Freiwilligen, meist Ruandern, die gerade die Schule abgeschlossen haben, unterrichtet. An den kargen Wänden prangen ein paar Bilder, und an einer Tafel stehen ein paar Begriffe auf Englisch. Den Kindern soll es einmal besser gehen als ihren Eltern, die zwar aufgrund der Umsiedlung eine bessere Gesundheitsversorgung haben, jedoch keine Arbeit finden. Bildung ist der Schlüssel, doch eine gute Schulbildung bieten vor allem die Privatschulen, und die kann sich in Kigali kaum jemand leisten, bis auf die Kinder von höheren Beamten oder von Expats. Finanzielle Unterstützung vom Staat bekommt die Vorschule keine, sie ist auf das Gutdünken von Spendern angewiesen.
Firmengründung in einem Tag
Die Regierung investiert vor allem in Projekte, die der raschen wirtschaftlichen Entwicklung des Landes dienen. Wie etwa das Label der jungen Modedesignerin Linda Mukangonga, die erzählt, wie einfach es sei, in Ruanda ein Unternehmen zu gründen. Administrative Hürden gebe es kaum, innerhalb eines Tages habe man die nötigen Papiere zusammen. Startups und Jungunternehmer werden staatlich gefördert, alles was die ökonomische Entwicklung vorantreibt, wird begrüßt. Insbesondere Frauen würden nicht nur akzeptiert und ernst genommen werden, sondern unterstützt, berichtet Linda. Genderdiskriminierung scheint in Ruanda ein Fremdwort zu sein. Mehr als die Hälfte der Abgeordneten im Parlament sind Frauen.
Ruanda gilt inzwischen als Paradebeispiel für Chancengleichheit, und Lindas Erfolgsgeschichte scheint dies zu bestätigen. Wie Jack gehört sie einer jungen Generation an, die ihre Träume verwirklichen kann, doch im Gegensatz zu dem jungen Fotografen hat Linda ihre Jugend in den USA verbracht. „Ich bin zurückgekommen, um meinem Land etwas zurückzugeben“, sagt die junge Modedesignerin, die hinter dem Schreibtisch in ihrem Laden am Rande des belebten Viertels Remera sitzt. Umgeben von Skizzen, halbfertigen Deko-Artikeln und Kleidern erzählt die Modeschöpferin die Entstehungsgeschichte ihres Labels Haute Baso. Das Erfolgsrezept der Marke: Made in Rwanda. Man setzt auf traditionelles Handwerk, optimiert die Produkte und passt sie den aktuellen Trends an. Ob moderne Hemden mit bunten Applikationen, geflochtene Schuhe oder Blazer aus traditionellen Stoffen – in Lindas Laden ist alles bunt, modern, stylish und könnte wohl für teures Geld in westlichen Szeneläden verkauft werden.
Das sei aber nicht ihr Ziel, erklärt Linda. Ihr gehe es um den lokalen Markt, darum die nationale Wirtschaft anzukurbeln, und am wichtigsten: um die Förderung lokaler Handwerker und Künstler. Denn Haute Baso ist ein „Social Business“ und arbeitet mit Kunsthandwerkern aus ganz Ruanda zusammen. „Wir sehen uns an, was sie herstellen können und wo ihre Stärken liegen. Dann entscheiden wir gemeinsam, wie wir das in unsere Kollektion integrieren können. Diese Menschen leben oft an der Armutsgrenze, haben keine Schulbildung, sprechen kaum Englisch und haben kaum eine Möglichkeit, ihre Produkte zu vermarkten.“
Auf die Frage, wie abhängig diese Künstler denn dann von Haute Basos Wohlwollen sind, lacht Linda. Es gehe nicht darum, die Handwerker exklusiv für Haute Baso arbeiten zu lassen. Die meisten hätten sich ohnehin zu Kooperativen zusammengeschlossen. „Wenn sie es schaffen, ihr eigenes Ding zu machen und selbst erfolgreich werden, umso besser. Ruanda braucht nicht ein erfolgreiches Label, sondern eine ganze Brigade“, betont Linda. Ihre Überzeugungen sind nicht ausschließlich philanthropischer Natur: Ein Label wie Haute Baso hätte auf dem internationalen Markt kaum Überlebenschancen. Produktion, Logistik und Marketing würden die Kapazitäten übersteigen und den Kostenrahmen sprengen. Mit der internationalen Konkurrenz lässt es sich nur aufnehmen, wenn sich viele kleine Unternehmen zusammentun. Nur so könnte Ruanda weiterkommen und sich in der Mode- und Designwelt durchsetzen. „Wenn die internationalen Käufer das Potenzial Ruandas sehen, dann haben wir etwas erreicht.“ Linda scheint es, genau wie Jack, nicht nur um die eigene Karriere oder das eigene Ego zu gehen, sondern um das Image ihres Heimatlandes. „Es ist auch meine Pflicht, zum Wachstum und zur Entwicklung meines Landes beizutragen“, fügt die Jungunternehmerin hinzu.
Lindas Philosopie liegt ganz auf einer Wellenlänge mit dem, was sich die Regierung wünscht. Doch Linda, die in den USA zur Schule ging und einen Universitätsabschluss hat, hat auch die richtigen Voraussetzungen um Erfolg zu haben, spricht fließend Englisch und weiß, wie man Förderanträge und Anmeldungen ausfüllt.
Vielen Frauen in Ruanda geht es nicht so, und sie passen nicht in das Bild des „Landes der Frauen“ und der gelebten Emanzipation. So zum Beispiel Marie Bahizi, die die Frauenkooperative Ineza leitet. In der Genossenschaft haben sich Frauen zusammengeschlossen, die während des Genozids vergewaltigt wurden und HIV-positiv sind. Gegründet wurde das Projekt von Frank Mugisha, einem jungen Ruander, der bereits als Jugendlicher begriffen hat, dass es nicht reicht, den Frauen bloß Medikamente zur Verfügung zu stellen, solange sie nicht genug zu essen und kein Einkommen haben.
„Ich habe damals alles verloren ...“
Die inzwischen 25 Frauen von Ineza treffen sich jeden Tag und nähen: Kleider, Taschen, Rucksäcke, Ofenhandschuhe und Puppen, die sie für kleines Geld verlaufen und sich so ein Einkommen sichern. Sie haben in Ineza einen Ort gefunden, an dem sie über ihre Erfahrungen reden können, an dem sie psychologische und medizinische Betreuung erhalten und das Tabuthema Aids und Vergewaltigung brechen können. Und sie haben mit Ineza einen Grund, morgens aufzustehen, nach vorne zu blicken, eine Aufgabe zu bewältigen. Viele der Frauen haben, wie Marie Bahizi, 1994 ihre gesamte Familie verloren, inklusive ihrer Kinder. Sie haben Furchtbares überlebt und doch geben sie nicht auf, strahlen Lebensfreude aus und heißen ihre Besucher willkommen, als wären sie Teil ihrer Familie. Marie strahlt und erzählt, wie Ineza ihr das Leben gerettet hat. „Ich habe damals alles verloren. Aber jetzt, jetzt blicke ich nach vorne. Wir sind wie eine Familie“, erklärt sie auf Französisch. Maries Lachen ist ansteckend, dabei werden die unsichtbaren Wunden ihres seelischen Traumas werden wohl nie ganz heilen.
Bei Ineza geht es ums Überleben, ums Weiterleben. „Stell dir vor du wachst jeden Tag auf, siehst die Kinder deiner Nachbarn – Nachbarn, die deine Familie vielleicht auf dem Gewissen haben – zur Uni gehen, während du selbst deine Kinder und deinen Mann verloren hast, und trotzdem machst du weiter“, sagt Ineza-Gründer Frank Mugisha. Diese Frauen machen weiter. Es sind starke Frauen, doch im Gegensatz zu Lisa läuft ihr Business schlecht. Marie und ihre Kolleginnen haben Schwierigkeiten, ihre Produkte zu vermarkten und finden kaum Abnehmer. Sie sprechen kein Englisch, haben keine Schulbildung genossen, sind teils krank und traumatisiert. Marketing durch Social Media, professionelle Fotos und Pop-Up Läden ist für sie ein Fremdwort. Praktikanten aufnehmen und unterrichten, mit teuren Hotels zusammenarbeiten und ihre Sachen dort ausstellen, wie Linda es tut, können sie nicht.
Frauen wie Marie gehören nicht zum neuen Image Ruandas, passen nicht in das Bild eines Landes, das danach strebt, ein afrikanisches Singapur zu werden und auf ICT und Startups setzt. Diese Frauen können damit nicht mithalten. Auch passen sie nicht ins Bild der starken weiblichen Jungunternehmer, die ihre Ideen in die Tat umsetzen. Zwar sorgen sie für sich selbst, doch nicht aus einer romantisch geprägten Vorstellung von Feminismus heraus, sondern weil ihnen keine andere Wahl bleibt. Es gibt keinen Grund für die Regierung, ein Projekt wie Ineza zu unterstützen. Nicht einmal der Name der Kooperative steht auf dem Zaun des Gebäudes, in dem sich die Frauen treffen, denn sonst müssten sie Steuern zahlen. „Wir haben doch nichts, wie sollen wir denn Steuern zahlen?“, fragt Marie.
Paul Kagame, der Kompromisslose
Diese Frauen prägen die Kehrseite der Medaille, die andere Seite eines Landes, in dem Moderne und Tradition aufeinandertreffen. Und während Jack glaubt, dass nur Bilder von Genozid und Leid auftauchen, wenn man nach Ruanda googelt, häufen sich in letzter Zeit Artikel mit den Schlagwörtern „Feminismus“, „Development“ und „Model Country“. Ruanda zielt darauf ab, „eine vereinte, demokratische und inklusive Nation zu sein: ein Land mittleren Einkommens, dessen Einwohner gesünder, gebildeter und wohlhabender sind“, heißt es in der von der Regierung aufgestellten Entwicklungsstrategie Vision 2020. Erfolgsgeschichten wie die von Jack und Linda sind Aushängeschilder einer rasanten Entwicklung, die insbesondere dem Geschick von Paul Kagame zugeschrieben wird, der seit 2002 an der Spitze des Staates steht.
Im August wird in Ruanda wieder gewählt. Dank eines rezenten Referendums kann und wird Kagame für eine dritte Amtszeit antreten. Fragt man die Ruander auf der Straße, hört man wie aus einem Munde: „Es wird Paul Kagame.“ Der Politiker der Rwandan Patriotic Front – 1994 die Streitkraft, die den Genozid beendete, selbst aber aufgrund zahlreicher Übergriffe auf Hutu in der Kritik steht – ist bekannt für seinen zentralisierten, kompromisslosen Führungsstil.
Ein Parlament, in dem die Frauen in der Mehrzahl sind, Schulpflicht und ein Gesundheitswesen, das als Vorreiter in Afrika gilt, künden von Kagames Erfolg. Doch genau wie in Kigali zwei Realitäten aufeinandertreffen, so ist auch Paul Kagames Führung von Widersprüchen geprägt. Während viele Ruander sagen, dass der Staat nach dem Genozid eine „harte Hand“ brauchte, um voranzukommen, sorgen sich Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International um das Recht der freien Meinungsäußerung. Zwar wird das Land demokratisch geleitet, doch Kagame duldet kaum Opposition. Und so wie die Menschen, die nicht ins moderne Kigali passen, relokalisiert werden, wird alles, was nicht zum positiven Image von Kagames Regierungsstil passt, stillgeschwiegen und Kritiker werden kontrolliert oder unterdrückt. Vor den anstehenden Wahlen unterliegen die sozialen Medien einer Art Zensur und eine Wahlkommission prüft alle digitalen Nachrichten zu den politischen Parteien vor der Veröffentlichung. Die Medaille hat bekanntlich zwei Seiten.
In diesem Sinne ist „Remember. Unite. Renew“ ein schöner Gedanke, der jedoch noch nicht der gelebten Realität entspricht. Und während Menschen wie Jack und Linda vom Aufschwung profitieren und zu den neuen Rollenmodellen Ruandas werden, riskieren Menschen wie Marie, zu den Verlierern von Ruandas Entwicklungsfortschritts zu werden.