Neukölln. Der Berliner Stadtbezirk zeigt in vielen Straßenzügen das Bild eines Molochs, das vielen ängstlichen Vorstellungen und überzogenen Klischees entsprechen mag: Migranten, die mit ihrer Kultur den Alltag bestimmen, eher bunt, laut und vielschichtig. Häuserzeilen, die mit ihrem Grau die Leinwand für Graffitis geben. Brutalität, die sich in Blutrot ertränkt. Es erfordert Mut, dieses Sujet in Schwarzweiß abzufilmen. Der luxemburgische Kameramann Nikos Welter tat es und tat gut daran: Sein Spielfilmdebüt Dr. Ketel – Der Schatten von Neukölln hatte vergangene Woche Premiere.
Der Film zeigt Neukölln in einer nahen Zukunft. Das Gesundheitssystem ist zum absoluten Zweiklassensystem geworden, das sich nur noch Wenige leisten können. Dr. Ketel – gespielt von Ketel Weber – praktiziert für die Armen und Ausgestoßenen in den Hinterhöfen der Stadt. Er ist kein Arzt, eher ein Robin Hood, der auf nächtlichen Streifzügen Apotheken überfällt, um Arzneimittel zu erbeuten, die er dann an diejenigen verteilt, die sie benötigen. Er verstrickt sich immer mehr in die Schicksale, die seinen Weg kreuzen, und bemerkt nicht, dass die amerikanische Agentin Louise Llewllyn sich an seine Fersen geheftet hat. Aber auch sie verstrickt sich im Leben des Anderen. Der Film ist eine Parabel darauf, dass wie kühl, kontrolliert und entmenschlicht die Welt auch sein mag, es einen Menschen geben wird, in dessen Schicksal sich ein anderer verstrickt, verrennt, verbeißt.
Realisiert und in Szene gesetzt wurde der Film von Linus de Paoli und seiner Frau Anna als Abschluss- und Diplomarbeit der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB). Das Budget war mit 20 000 Euro knapp bemessen, reichte aber dennoch aus, um die US-amerikanische Schauspielerin Amanda Plummer zu engagieren, die vor allem durch ihre Rollen in Pulp Fiction (1994), The World According to Garp (1982) und The Fisher King (1991) bekannt wurde. Sie gibt der Schau Spiel. Denn die übrigen Akteure staken hölzern durch die Handlung, als hätte sie die Langweile eines dahingerafften Dienstagnachmittags an den Set gespült. Vor allem der Hauptdarsteller Ketel Weber und Franziska Rummel als Karo wissen oft nicht, was sie tun – was insbesondere dann schwerfällt, wenn sie auf Plummer treffen, die weiß was sie tut. Weber hingegen lässt vollends die Leidenschaft vermissen, die sein Alter ego Dr. Ketel braucht, der sein Leben riskiert, um anderen Menschen zu helfen. Zu diesem Zwiespalt mag auch das Drehbuch von Anna und Linus de Paoli beitragen, das seine Längen hat.
Deshalb bleibt viel Zeit, sich auf die Bildwelt und Bildsprache des luxemburgischen Kameramanns Nikos Welter zu konzentrieren, der die formalen Schwächen des Films und die Unzulänglichkeiten mancher Darsteller einfach wegfilmt. Ganz einfach. Welters Kamera beobachtet die Situation präzise, pointiert und schwelgt. Der Film ist in Schwarzweiß manchmal zu rauschig, da die Farbe wohl erst in der Postproduktion rausgedreht wurde. Das mindert aber nicht, die eigene Bildsprache und Ästhetik Welters zu erkennen, der sich viele Anleihen beim Film Noir nimmt – was durch Schwarzweiß beinahe per dictum gegeben ist –, ohne allerdings den Film Noir zu kopieren oder kopieren zu wollen. Das Spiel von Schärfe und Unschärfe, von Distanz und Nähe, von gewöhnlichen und ungewöhnlichen Blickwinkeln gibt dem Film das Korsett, das er braucht, um die Geschichte voranzubringen, zu verankern, wirken zu lassen, erzählt zu werden. Welter reduziert und befreit Neukölln von allen Klischees, die man als Ortsfremder von diesem Stadtbezirk hat, haben muss, und zeigt damit eine düstere Vision einer nahen Zukunft, in der Dr. Ketel Verbrechen begeht, um Menschen zu helfen. Einer Zukunft, die zeitlos erscheint. Der Kameramann widerspricht der gängigen Bildsprache, dass Brutalität und Gewalt nur in schnell geschnittenen Szenen gefilmt werden müssten, um unbedingte Wirkung beim Betrachter zu erzielen.
Dr. Ketel ist ein Berlin-Film. Paris und London würden sich als Kulisse für einen solchen Film niemals hergeben. Also: noch ein Berlin-Film. Und da muss er sich messen lassen mit einem anderem Debütfilm dieser Saison: Oh Boy von Jan-Ole Gerster, der nahezu zeitgleich entstand. Auch dieser Film ist eine schwarzweiße Hommage an die deutsche Hauptstadt und zeigt ebenfalls den Weg eines Einzelkämpfers durch die Großstadt. Dr. Ketel wird immer im Schatten von Gersters Film bleiben und ein Film für Berlin-Junkies sein. An den Bildern von Nikos Welter liegt das aber keinesfalls.