Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen, lautete die legendäre Antwort des deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt auf Forderungen seines Parteikollegen Willy Brandt während des Bundeswahlkampfs 1980, bald darauf gern und oft aufgegriffen von Jacques Santer. Das Bonmot scheinen sich die Parteien hierzulande zu Herzen genommen zu haben, zumindest was die schulpolitischen Versprechen in ihren Wahlprogrammen angeht. Die Bedeutung der Bildung beschwören sie alle, für die CSV steht sie an „erster Stelle“ (obwohl bei der dreiteiligen Vorstellung ihrer Plans für Luxemburg das Schulwesen erst im dritten und letzten Teil Erwähnung findet). Aber alle wollen für die kommenden fünf Jahre vor allem eines: Ruhe. Echte Kritik, einen Gegenentwurf zu Meischs Umbau des öffentlichen Schulsystems gar trauen sich nur die kleinen Parteien, die eh keine Aussicht haben, die Regierung zu stellen.
Die großen Parteien behalten zentrale Eckpunkte von Meischs Schulpolitik bei: den Ausbau der Kinderbetreuung und die Aufwertung des Luxemburgischen etwa, das Mehr an Schulautonomie, die neue Orientierungsprozedur und die Grundschulzeugnisse, das erweiterte Sprachenangebot für die, die sich mit dem herkömmlichen Unterricht schwertun. Meischs Ansatz, der wachsenden Schülervielfalt mit mehr Differenzierung des Sprachenangebots zu begegnen, scheint alternativlos: für die Koalitionäre Déi Gréng und LSAP, aber auch für die CSV, die das erweiterte Sprachenangebot nicht als „alleinige Lösung“ sieht, es gleichwohl nicht zurückdrehen will.
DP: Weiter so!
Das dickste Bildungskapitel hat die Demokratesch Partei vorgelegt. Offiziell ist es Ergebnis gemeinsamer Beratungen zwischen Fraktion und Basis, tatsächlich stammt der Bärenanteil aus Meischs Feder. Der Minister und sein engster Berater, Lex Folscheid, haben die Bildungspolitik der vergangenen fünf Jahre bestimmt, das Wahlprogramm soll Kontinuität demonstrieren. Der Tenor: Die dicksten schulpolitischen Bretter sind gebohrt, mit der sprachlichen Gratis-Frühförderung, mit der Lyzeumsreform, der umgebauten Éducation différenciée und der Gründung von Regionaldirektionen. Die DP verspricht daher vor allem, bereits beschlossene Maßnahmen umzusetzen oder fortzuschreiben, wie die geplante Elternvertretung für den außerschulischen Betreuungssektor nach Vorbild der Grundschule, die Reform des Sprachenunterrichts und die Revision diesbezüglicher methodisch-didaktischer Materialien oder den weiteren Ausbau des internationalen öffentlichen Schulangebots.
Sollte seine Partei gewinnen, will Meisch ein Element umsetzen, das er in seinem Buch Staark Kanner beschrieben hat: Ein parteienübergreifender Lëtzebuerger Bildungsdësch mit Akteuren aus Schule und Zivilgesellschaft (dazu zählt der Ex-Banker die Wirtschaft) soll die Debatte „versachlichen“ und die Ausrichtung der Bildungspolitik diskutieren. Grundlage wären Empfehlungen jener Beobachtungsstelle, die Meisch gegen Kritik ins Leben gerufen hat (und deren Mitglieder der Minister benennt). Die Idee stammt, wie viele seiner Maßnahmen, nicht von Meisch selbst, sondern wurde im Ausland entwickelt und erprobt.
LSAP: Gleiche Chancen, nur wie?
Die LSAP äußert sich zu diesem Vorstoß nicht, will aber mehr Absprache. Sie erneuert ihr Bekenntnis zu einer „starken öffentlichen Schule, die für Chancengerechtigkeit sorgt“ und verspricht der Privatisierung von Bildungsangeboten „mit Widerstand“ zu begegnen. Zugleich „befürwortet“ die Partei „ein vielseitiges, international ausgerichtetes Schulangebot, das den Bedürfnissen einer heterogenen Schülerpopulation im Rahmen des öffentlichen Unterrichts gerecht wird“. Man könnte meinen, die Sozialisten wollten Wählern Antworten auf Herausforderungen der Zeit bieten, wie der Digitalisierung, Automatisierung und zunehmenden Flexibilisierung. Doch im Bildungskapitel steht hierzu ein Satz: „Schulen müssen diese Entwicklung proaktiv begleiten und ihre Schulprogramme entsprechend anpassen.“
Es fehlt an einer Gesamtvision für die öffentliche Schule. Das mag daran liegen, dass die parteiinternen Beratungen erschwert wurden, weil für einen Mitarbeiter kurzfristig Ersatz gefunden werden und die Nachfolgerin sich erst in die komplexe Materie einfuchsen musste. Doch das Problem liegt tiefer: Ausgerechnet die Partei, die sich Gerechtigkeit und Umverteilung auf die Fahnen schreibt und die den Modernisierungsreigen in der öffentlichen Schule begonnen hat, wirkt in bildungspolitischer Hinsicht kopf- und führungslos. Mit Claude Haagen hat die Partei einen Lehrer zum Präsidenten, aber seine Mehrfachbelastung als Bürgermeister, Abgeordneter und Parteichef führte dazu, dass in Sitzungen, wenn ein neuer Schul-Gesetzentwurf zu diskutieren war, oft erst die Zuständigkeitsfrage geklärt werden musste: Für eine Partei, die lange die Schuldebatte wie kaum eine andere geprägt hat, ein programmatisches Vakuum, das sich rächt: Ganztagsschulen und Gratisbetreuung haben die Liberalen umgesetzt. Eltern wissen, wie wichtig Bildung ist, damit ihre Kinder gute Jobaussichten haben. Doch sogar beim Lieblingskind des LSAP-Spitzenkandidaten Etienne Schneider, der Weltraum-Industrie, fehlt es an Konzepten, wie das in Schule und Ausbildung umzusetzen ist.
Déi Gréng: DP light
Die Grünen haben eine Vision – nur ist sie nicht viel anders als die der DP. Ihr Programm hält an der Forderung fest, Schüler bis zum 15. Lebensjahr in einer Gesamtschule gemeinsam zu unterrichten. Auf der Oberstufe sollen sie, gemäß dem Modell der internationalen Schulen, einem in Haupt- und Nebensprachen gegliederten Lehrplan folgen. So wollen Déi Gréng gewährleisten, dass „Schwächen in einer Sprache nicht automatisch zum schulischen Misserfolg führen“.
Schüler sollen „gecoacht“ werden, Déi Gréng unterstützen mehr Schulautonomie, wollen die Inklusion fördern und Schulen ihre Zeiten flexibler handhaben lassen. Zudem wollen sie den Koeffizienten für das Lehrpersonal erhöhen. Von diesen Vorstößen abgesehen, sucht man große Würfe vergeblich. Déi Gréng versprechen „Ruhe und Vertrauen“, ein Zugeständnis an die erschöpfte Stimmung in vielen Schulen. Sie wollen die Zusammenarbeit zwischen den Schulpartnern verbessern und greifen dafür Meischs Forderung nach einer Bildungsplattform auf, die Personalbedarf, Bildungsinhalte und Rekrutierungsmaßnahmen „im Grundschulwesen analysieren und nachhaltige Lösungsansätze entwickeln“ soll.
Hundertprozentig ist die Zustimmung zu Meischs Reformen aber nicht: Den Précoce wollen Déi Gréng erneut unter die Lupe nehmen und untersuchen, ob die kommunale Vorschule erreicht, was sie verspricht. Die Grünen wären nicht grün, wenn sie nicht die Themen Nachhaltigkeit und den Abbau der Geschlechterungleichheit in ihr Programm aufgenommen hätten. Auch der Vorschlag, doch weisungsberechtigte Grundschuldirektionen einzuführen, steht erneut darin.
CSV: Taktische Unschärfen
Die größte Oppositionspartei kommt ebenfalls auf Schulleitungen zurück und will diese „vor Ort in der Schule anwesend“ haben. Die neu geschaffenen Regionaldirektionen stellt sie nicht in Frage. Gleichwohl überrascht die Lektüre ihrer bildungspolitischen Vorschläge am ehesten: Denn obwohl Martine Hansen und Françoise Hetto-Gaasch das Dossier gut kennen und die parteiinterne Arbeitsgruppe seit Jahren zur Bildung Analysen und Kommentare verfasst, ist das Kapitel schwach auf der Brust: Dass die Vorschläge stichpunktartig aufgeführt sind, lässt das Kapitel zusätzlich unausgegoren wirken, so als seien die Vorschläge nicht zu Ende gedacht.
Statt eigener neuer Schwerpunkte setzt die Partei auf die Auswertung bestehender Maßnahmen. Das entspricht der „Ruhe“, die die Partei in der Schulpolitik verspricht. Trotzdem fragt sich, wie das Bildungssystem, ginge es nach der CSV, in zehn, zwanzig Jahren aussehen soll. Womöglich nicht viel anders als heute, außer mit mehr Tablet-Klassen, aufgefrischtem Methodenunterricht und mehr Praktika auf der Oberstufe im Classique. Pädagogische Vorschläge fehlen, respektive sind den Schulen überlassen, dessen erweiterten Entscheidungsspielraum die CSV gutheißt. Dabei bleibt unklar, worin die Anreize liegen, sich pädagogisch zu verbessern: Die Christlich-Sozialen verlassen sich auf das von Mady Delvaux gesetzte und von Meisch weiterentwickelte Instrumentarium, wie Schulentwicklungsplan und verstärkte Vernetzung. Beim Sprachenunterricht will die CSV Gewichtung, Lehrpläne und Methoden überdenken, dies im Dialog mit den Schulpartnern. Beim Werteunterricht will sie „Inhalte überarbeiten“, wie, das verrät sie nicht. Die zögerliche Haltung lässt sich als Zugeständnis lesen, dass niemand genau weiß, in welche Richtung sich die Schulqualität nach Meischs Reformen entwickeln wird.
Wahrscheinlich aber bleibt die CSV aus taktischen Gründen inhaltlich vage: Im Falle eines Wahlsiegs kann sie sich den Koalitionspartner aussuchen und verhandeln, ohne später den WählerInnen gegenüber eingestehen zu müssen, Kernanliegen aufgeweicht oder aufgegeben zu haben.
Links der Mitte: Pro Tronc commun
Diese Sorge haben die kleinen Parteien nicht und deshalb finden sich in ihren Programmen fundamentalere Überlegungen zum Bildungssystem: Ausgenommen ist nur die ADR, die ihr Programm diesen Freitag veröffentlicht und angekündigt hat, zum wissensbasierten Unterricht zurückkehren zu wollen. Den Wunsch, in alte Zeiten zurückzukehren, teilt die ADR übrigens mit déi konservativ: Letztere gehen auf zentrale Fragen wie die große Heterogenität und die fortschreitende Spezialisierung nicht einmal im Ansatz ein.
Für déi Lénk steht fest, dass Meischs Schulreformen „die Schäden der frühzeitigen Orientierung in verschiedene Schultypen nicht wettmachen“ können. Die Schule habe „ihre Rolle als Garant für die Chancengleichheit und als Vorreiter[in] für eine gerechte Gesellschaft aufgegeben“. Die Antwort der Linken (die sich teils bei Forderungen des SEW inspiriert haben): Mittel- bis langfristig müsse eine „Schule für alle“ her, in der Schüler vom ersten Zyklus bis zum Ende der Schulpflicht (16 Jahre) zusammen unterrichtet würden. Den tronc commun fordert auch die Kommunistische Partei, gekoppelt an eine Budgeterhöhung um 30 Prozent. Das gehe nur mit mehr Personal, einer Erhöhung der Effektive, angepasste Unterrichtsmethoden. Die Linken sind, wie die KPL, gegen die Privatisierung und gegen die Schulautonomie, wie Meisch sie vorsieht. Während die Kommunisten eine polytechnische Sekundarschule wollen, schweben déi Lénk „demokratische und kooperative Schulen“ vor, die pädagogisch autonom sein sollen: in der Schüler und Lehrkräfte über Inhalte und Ausrichtung entscheiden. Insbesondere die Schüler will déi Lénk stärker einbinden, ein Zugeständnis an potenzielle junge Wählende.
Piraten: Modular und individuell
Ebenso radikal, wenngleich in eine ganz andere Richtung argumentiert die Piratepartei. Sie will ein modulares System, „das optimal auf die persönlichen Schwächen und Stärken der Schüler“ eingeht. Dafür solle es Pflicht- und Wahlmodule geben, die der Schüler bis zur zehnten Klasse besucht. Ab der 10e kämen Spezialisierungsmodule hinzu, die eine Schülerin nach ihren Interessen belegt. Die Piraten wollen Schulen wie die auf dem Campus Geesseknäppchen und dem Campus Limpertsberg zusammenlegen, um die jeweiligen Module anbieten zu können. Dann sei auch das Zusammenlegen von Classique und Technique kein Hindernis mehr, so die Partei, die die Lehrergehälter von der Unterrichtsqualität abhängig machen will.