Keine Partei hatte sich so lange mit der Veröffentlichung ihres Wahlprogramms Zeit gelassen wie die CSV. Erst vier Wochen vor den Wahlen, am vergangenen Samstag, legte sie als letzte ihr Programm vor. So als hätte sie dessen Verbreitung nicht bloß hinausschieben, sondern sich am liebsten daran vorbeidrücken wollen.
Das ist verständlich: Denn seit den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung von 1918 ist die ehemalige Rechtspartei und heutige CSV ununterbrochen und mit Abstand die stärkste Partei im Parlament, und niemand erwartet ernsthaft, dass dies am 14. Oktober anders kommen wird. Deshalb geht die CSV davon aus, dass es bei der Regierungsbildung – anders als nach der Regierungskrise von 2013 – politisch sehr schwer werden dürfte, an ihr vorbeizukommen. Programmatische Aussagen drohen unter diesen Umständen nur, die Wähler mit Missverständnissen und Polemiken zu verwirren.
Die CSV versichert mit ihrer Wahlkampflosung: „Mir hunn e Plang fir Lëtzebuerg“. Eine solche Beteuerung reichte während Jahrzehnten aus, damit ein Drittel der Wähler die Einzelheiten dieses Plans gar nicht kennen wollte und den christlich-sozialen Landesvätern treuhänderisch die Verwaltung des CSV-Staats überließ, damit alles blieb, wie es war. Doch nach all ihren Skandalen, mit denen sie sich als unfähig erwiesen hatte, die politische Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten, die den ganzen Geschäftsfundus einer konservativen Partei ausmacht, ist die CSV in der Opposition eine Partei wie all die anderen geworden. Deshalb will sie nicht den Eindruck einer lärmenden Reconquista erwecken, sondern muss sich eine neue Respektabilität zulegen.
Die Konkurrenz wirft der CSV vor, sich in ihrem Wahlprogramm auf unpräzise Allgemeinplätze zu beschränken. Tatsächlich drückt sie sich über 70 Mal an klaren Aussagen vorbei, indem sie erst einmal zu „analysieren“, zu „evaluieren“, zu „überprüfen“, zu „bewerten“ und „Bestandsaufnahmen vorzunehmen“ verspricht. Mit diesen Zauberformeln erweckt sie den Anschein, sich zu kümmern, ohne sich in irgendeiner Art festlegen zu müssen. Das stellen die anderen Parteien als die große Schwäche des Wahlprogramms dar, wo es doch seine ganze Stärke ist. Denn eine Volkspartei, die die widersprüchlichsten Interessen von Mindestlohnempfängern und Unternehmern, Bankdirektoren und Arbeitern, Bauern und Chirurgen, Wohnungssuchenden und Ertragshausbesitzern zu bedienen versucht, muss stets ungenau und wolkig bleiben, um nicht bald die einen, bald die anderen zu enttäuschen.
Anders als ihr Wahlprogramm von 2013 beginnt das neue Wahlprogramm der CSV mit den Staatsfinanzen. Nachdem die Staatsfinanzen unter ihrem Finanzminister Luc Frieden trotz wiederholter Sparpakete von dem versprochenen „sicheren Weg“ abgekommen waren, verspricht die CSV nun „ein[en] ausgeglichene[n] Haushalt, kein Defizit, de[n] progressiven Abbau der Staatsschuld“ (S. 6). Aber ganz so ernst nimmt sie das auch heute nicht, seit DP, LSAP und Grüne gezeigt hatten, wie man sich als Bußprediger und Sparapostel unbeliebt machen kann. Nicht einmal mehr das vor zwei Jahren angekündigte mittelfristige Haushaltsziel von +0,25 Prozent steht im Programm.
Statt aufzuzählen, auf wessen Kosten sie sparsamer haushalten würde als die derzeitige Koalition, verspricht die CSV lieber eine Steuersenkung für alle über den Weg einer „Erhöhung des Grundfreibetrags der Steuertabelle von 11 265 auf 12 000 Euro“. Außerdem will sie „den Mittelstandsbuckel durch die Anpassung des Steuerkredits weiter abflachen“ (S. 7) und sogar „die regelmäßige Anpassung der Steuertabelle an die Inflation“ wieder einführen, die sie 1996 zwecks kalter Steuerprogression abgeschafft hatte. Die ebenfalls von ihr eingeführte Steuerklasse 1a für Rentner, Verwitwete und Alleinerziehende soll, wie bei den meisten anderen Parteien, wieder abgeschwächt werden durch eine „Ausweitung des Übergangsregimes von bisher drei auf fünf Jahre“ und eine „Tarifangleichung der Klasse 1A in Richtung Steuerklasse 2“ (S. 7).
Bei der Unternehmensbesteuerung verspricht die CSV eine schrittweise „Verringerung der gesamten Steuerbelastung der Betriebe in Richtung 20 Prozent bei gleichzeitiger Verbreiterung der Berechnungsgrundlage“ gegenüber derzeit 26 Prozent (d’Land, 14.9.2018). Im Wahlprogramm von 2013 wollte sie den Betrieben dagegen die Wahl lassen, ob sie über einen niedrigeren Steuersatz oder über den Weg von Abschreibungen weniger Steuern zu zahlen bereit seien.
Zur Förderung des ohnehin hohen Wirtschaftswachstums will die CSV auch „wieder ‚First Mover‘“ bei der Erschließung neuer Marktnischen für die Finanzbranche werden und bei „der Umsetzung europäischer Richtlinien werden wir das so genannte ‚Goldplating‘ weitestgehend verhindern“ (S. 8), die Übererfüllung europäischer Vorschriften. „Das steuerliche Umfeld und die Lohnnebenkosten müssen wettbewerbsfähig bleiben“ (S. 9). Notwendig seien eine „Vereinfachung der administrativen Prozeduren in Umweltfragen“ und „keine Ausweisung zusätzlicher Biotope auf Bauland“. Firmenneugründungen und Firmenübergaben sollen steuerlich gefördert und in den Genehmigungsprozeduren entlastet werden. Die CSV erhofft sich weiteres Wachstum von der Weltraumtechnologie, einem „internationalen Health-Hub“ (S. 10), der Kreislaufwirtschaft und der Elektromobilität.
Denn das „Land braucht eine Wirtschaftspolitik, die neue Aktivitäten fördert“ (S. 9). Nur „qualitatives Wachstum durch Produktivitätssteigerung und mehr Beschäftigung schaffen es, zusätzliche Belastungen zu schultern, und diese Belastungen sind auf Grund des demografischen Wandels unausweichlich“ (S. 23). Angesichts des „bisher einzigartigen Wachstums- und Wandlungsprozess[es]“ sei keine Drosselung des Wachstums, sondern „die Gewährleistung einer effizienten Kreislaufwirtschaft, eines verantwortungsvollen Umgangs bei Klimaschutz und Wasserversorgung“ nötig (S. 47).
Statt des einst von Jean-Claude Juncker und nun von DP und LSAP versprochenen kostenlosen Personentransports verspricht die CSV zur Begleitung des Wachstums kriegerisch eine „Mobilitätsoffensive“, das heißt, ähnlich wie die anderen Parteien, eine schnelle Straßenbahn, „bedingungslos ausgeschöpft[e]“ Möglichkeiten der Eisenbahn, „Bus à haut niveau de service“, „Fahrradautobahnen“ und den dreispurigen Ausbau aller Autobahnen (S. 38).
Nach der sozialpolitischen Offensive der LSAP verspricht auch die CSV vage eine „Erhöhung des Mindestlohns, vor allem im Nettobereich“, das heißt über den Steuerweg, der die Unternehmen nichts kostet. Außerdem setzt sie sich „für die regelmäßige Anpassung des Mindestlohns an die allgemeine Lohnentwicklung ein“, wie sie ohnehin im Artikel 222-2 des Code du travail vorgeschrieben ist. Nachdem sie im Programm von 2013 „höchstens eine Index-Tranche pro Jahr“ gewähren wollte (S. 26), bekennt sie sich nun ohne diese Einschränkung zum Index als „feste[m] Bestandteil unserer Politik“ (S. 18), allerdings nicht für Familienzulagen. Angesichts der von der LSAP vorgeschlagenen Verkürzung der Wochenarbeitszeit beschränkt sich die CSV, ähnlich wie die DP, auf „flexible Arbeitszeitmodelle“ und „Arbeitszeitkonten im Privatsektor“ (S. 16), nicht zur Verteilung von Produktivitätsgewinnen, sondern zum Schutz des Familienlebens. Das „reformierte Gesetz über die Personaldelegationen“, bei dem die LSAP die OGBL-Kollegen auf Kosten des LCGB bedient hatte, soll geändert werden (S. 17).
Die CSV will die liberale Familienpolitik nicht demontieren, sondern verbessern, mit einem „Alternativmodell zur abgeschafften Erziehungszulage für sozial-schwache Familien“, einem zusätzlichen Babyjahr (S. 24) und einer sozial gestaffelten „Allocation complémentaire pour familles nombreuses“ für Familien ab drei Kinder (S. 26). Sie kündigt eine Verlängerung des Elternurlaubs auf acht Monate an; das wäre weniger lang als die DP verspricht, aber dafür offenbar mit verlängerter Entschädigung. Zudem verspricht sie noch immer die schon von Jean-Claude Juncker angekündigte schrittweise „kostenlose Kinderbetreuung in der Grundschule“ (S. 25).
Wie die DP will die CSV aus Rücksicht auf die einflussreiche Ärzteschaft auch keine von den Linksparteien angekündigte Verallgemeinerung des Tiers payant in der Krankenversicherung, sondern bloß eine „Ausdehnung“ bei teuren und langwierigen Behandlungen (S. 24). Hatte Claude Wiseler am Heiligabend 2016 in einem Rundfunkinterview angekündigt, die Rentenleistungen zu kürzen, die Beiträge und das Renteneintrittsalter zu erhöhen, so kündigt das Wahlprogramm nun vorsichtiger eine Rentenreform im Sozialdialog an: „Zielsetzung ist es, die Rentenversprechen von heute einzuhalten; [n]eue Versprechen sollen nur dann gemacht werden, wenn sie mittel- und langfristig eingehalten werden können“ (S. 23).
Zur Schaffung bezahlbaren Wohnraums will die CSV mit einen „Pacte Logement 2.0“ und einer „neue[n] privatrechtliche[n] Gesellschaft“ vor allem die Gemeinden für den Bau von Sozialwohnungen verantwortlich machen. Eine „national staatlich festgelegte Steuer“ soll die Spekulation mit Brachland im Bauperimeter und leerstehenden Wohnungen belasten. Der Bau von Sozialwohnungen durch Privatunternehmer und der Mietkauf sollen gefördert werden (S. 39).
Bei seiner Wahl zum Spitzenkandidaten im Oktober 2016 hatte Claude Wiseler angekündigt, bis 2029 die Gemeinden nach einem nationalen Referendum zu einem Maximum von 60 Gemeinden zwangszufusionieren. Nun verspricht das Wahlprogramm unverbindlicher „eine Partnerschaftsplattform zwischen Staat und Gemeinden“, eine neue „Gemeindelandkarte“ und „verstärkte Kooperationen“, die „bis zu 2029 zu Fusionen führen“ sollen. „Über die gesamte Territorialreform soll am Ende des Prozesses per Referendum abgestimmt werden“ (S. 42), das heißt vielleicht in einer späteren Legislaturperiode.
Die CSV will der liberalen Koalition keine Gelegenheit bieten, um Ängste zu schüren, dass mit der Rückkehr der „Pafen“ das Rad der Geschichte zurückgedreht wird. Deshalb gibt sie sich nicht nur in wirtschafts-, sondern auch in vielen gesellschaftspolitischen Fragen liberal. Weder die vom Bischof hingenommene Privatisierung des Klerus, noch die Entmachtung des Kirchenfabriken soll rückgängig gemacht weren. Das Schulfach Vie et société soll nicht abgeschafft und der Religionsunterricht nicht wieder eingeführt werden; wie schon Walter Benjamin erkannte, sollen stattdessen als neue Religion der „Unternehmergeist sowie die betriebswirtschaftlichen Kompetenzen der Schüler gefördert werden“ (S. 53).
Auch als Zugeständnis an die von der ADR versuchten konservativen Wähler will die CSV aber die Scheidungsreform wieder ändern, „das Familienbuch wieder einführen“ (S. 44), das Vermummungsverbot ausweiten, den Platzverweis einführen und „einen Militärdienst ‚à la carte‘“ über eine Dauer von drei bis zehn Jahren“ einführen (S. 63). Sie „lehnt unter den heutigen Umständen die Legalisierung der rekreationellen Anwendung von Cannabis ab“, verschließt sich aber nicht weiteren Diskussionen (S. 29).