„Ich finde es eine Sauerei“, beschimpfte vor drei Wochen Minister François Biltgen mit hochrotem Kopf den verdutzten DP-Präsidenten Claude Meisch. Nach der Erklärung zur Lage der Nation hatte Meisch von der Parlamentstribüne herab den Kollegen gegenüber auf der Regierungsbank vorgerechnet, „40 Millionen Kindergeld durch das Stoppen des Exports ins Ausland einzusparen“. Als er von diesen Absichten erfuhr, habe er „geglaubt, zu träumen“.
Meisch zweifelte nicht an der Wirklichkeit, weil er die Einsparungen für eine unglaubliche Diskriminierung der Grenzpendler hielt, welche die entsprechende Summe vorenthalten bekommen sollen. Sondern weil die Koalitionsparteien im Wahlkampf die Liberalen als Rechtsradikale dargestellt hätten, als sie ihrerseits versprochen hatten, die Kindergeldzahlungen ins Ausland zu senken.
Anders als Biltgen ließ Premier Jean-Claude Juncker Meischs Vorwürfe missmutig über sich ergehen. Er wusste, dass er sie nicht falsch machen konnte. Zudem hätte sich Meisch gewünscht, dass die LSAP-Spitze auf dem außerordentlichen Kongress am 30. April „ihrer Basis besser erklärt hätte“, auf wessen Kosten beim Kindergeld gespart werden soll. Die angesprochenen LSAP-Minister blieben die Antwort schuldig. Denn damals war es nur der ehemalige FNCTTFEL-Präsident Nico Wennmacher, der seiner Partei vorgeworfen hatte, die gleiche Kindergeld-Politik auf Kosten der Grenzpendler zu betreiben, die sie der DP zum Vorwurf gemacht hatte. Die Helden des Abends, Alex Bodry, Jean Asselborn, Lucien Lux und Nico Schmit, hatten das Thema diskret vermieden.
Stein des Anstoßes im Parlament war auf den ersten Blick die Ankündigung des Premiers, im Zuge der Sparmaßnahmen „das Kindergeld nur bis zu einem Alter von 21 Jahren auszubezahlen“. Studierende über 21 Jahre sollen den Ausfall großzügig
durch ein Stipendium von 6 000 Euro, ein Darlehen von 6 000 Euro und die Bezuschussung von Einschreibegebühren bis zu 3700 Euro jährlich kompensiert bekommen. Das Zauberwort heißt „Exportabilität“.
Denn europäisches Recht zwingt den Staat, Kindergeldleistungen zu exportieren, nicht aber Studienbeihilfen. Der Staat kann also Grenzpendlern mit Kindern über 21 Jahren das Kindergeld ersatzlos streichen und nur den Einheimischen den Ausfall, als Studienbeihilfen getarnt, ersetzen. „Durch die Häufung dieser Maßnahmen gibt der Staat jährlich 40 Millionen Euro weniger aus“, rechnete Juncker vor.
Doch im Grunde ging es bei dem Zwischenfall im Parlament wohl weniger um Kindergeld und Studienbeihilfen, als um die Fragen, wer am gerissensten auf Kosten der Grenzpendler zu sparen versteht und dabei am schönsten heucheln kann. Die DP hatte schon ein Jahr zuvor in ihrem Wahlprogramm versprochen, das Kindergeld auf einheitlich 100 Euro pro Kind zu halbieren und den
Einheimischen den Ausfall durch ein „Wohngeld“ zu kompensieren, das den Grenzpendlern vorenthalten bliebe. Im Gegensatz zu CSV und LSAP bekannte sie freimütig: „Die DP will den Export von Kindergeld ins Ausland deutlich absenken.“ Die liberalen Wähler scheinen in sozialen Fragen leichter ohne den schönen Schein auszukommen.
„Dass die Kilometerpauschale ab dem nächsten Jahr um die Hälfte gekürzt wird“, wie Jean-Claude Juncker Anfang des Monats ebenfalls ankündigte, interessiert vor allem umweltbewusste Verkehrspolitiker. Aber durch die Kürzung der Kilometerpauschale drohen den Grenzpendlern erneut die höchsten Einkommensverluste. Die Angestellten aus Lothringen, Wallonien, Rheinland-Pfalz und dem Saarland haben meist die längsten und damit auch teuersten Anfahrtstrecken. Deshalb können sie Wegekosten bis oder
fast bis zum Höchstbetrag von 247,50 Euro monatlich von der Einkommenssteuer absetzen und riskieren bei einer Halbierung der Pauschale die spürbarsten Reallohnverluste.
Doch die Versuchung für die Finanzpolitiker ist verlockend: Vergangenes Jahr kamen täglich über 147 000 Grenzpendler nach Luxemburg zur Arbeit. Jede noch so kleine Diskriminierung gegenüber den Einheimischen bringt dem Staat also gleich
Millionenersparnisse. Und manche Politiker könnten sie unausgesprochen auch als Gegenfinanzierung neuer Ausgaben betrachten, die durch europäische Harmonisierungsbestrebungen entstehen, wie bei der dieser Tage in Kraft getretenen Unterstützung arbeitsloser Grenzpendler.
Wobei diese Einsparungen gezielt auf Kosten einer Personengruppe gehen, die zwar steuerpflichtig, aber nicht wahlberechtigt ist. Dadurch haben die Grenzpendler keine politischen Mittel, ihren Unmut auszudrücken. Allerdings haben sie gewerkschaftliche
Mittel und spielen eine wachsende Rolle bei OGB-L, LCGB und Aleba. Deshalb kündigte der OGBL vor 14 Tagen als Reaktion auf die angekündigten ersatzlosen Kindergeldkürzungen an, er habe sich „an das Europaparlament und an die Europäische Kommission gewandt, um die vorgesehenen Maßnahmen prüfen zu lassen, da diese offensichtlich das europäische Prinzip der Freizügigkeit der europäischen Arbeitnehmer nicht respektieren.
Außerdem hat sich der OGBL an die gewerkschaftliche Plattform der Großregion gewandt, um zusammen mit den dort vertretenen Gewerkschaften geeignete gewerkschaftliche Aktionen und Maßnahmen zu planen.“
Dass die „Exportabilität“ in den Mittelpunkt sozialpolitischer Überlegungen gerückt wird, ist relativ neu. Ausländer zur Kasse zu bitten, wurde bis dahin vor allem durch Sonderabgaben und Akzisenerhöhungen auf dem Treibstoff vorgenommen, so dass vor
allem Tanktouristen in Krisenzeiten den Luxemburger Sozialstaat stützen sollten. Die Zahl der Grenzpendler ist erst in den Neunzigerjahren sprunghaft angestiegen – von 35 300 im Jahr 1990 auf 90 300 im Jahr 2000. Doch schon bei ihrer großen Steuerreform Anfang der Neunzigerjahre hatte die Regierung einen weiten Teil der verheirateten Grenzpendler in die höher besteuerte Klasse der Junggesellen eingestuft.
Der Kampf gegen die „Exportabilität“ sozialstaatlicher Leistungen steht meist im Widerspruch zu den erbaulichen Bekenntnissen, wie sie beispielsweise Premier Jean-Claude Juncker Ende April auf der Geburtstagsfeier der Asti abgab. Und noch einen Monat später beteuerte Finanzminister Luc Frieden gegenüber der belgischen Wirtschafszeitung L’Écho über die Grenzpendler: „Nous sommes par ailleurs très reconnaissants que ces gens viennent travailler chez nous. Nous leur apportons beaucoup mais ils nous apportent aussi énormément, nous avons besoin de ces milliers de travailleurs venus de Belgique, de France et d’Allemagne
pour faire fonctionner notre économie.“
Doch bei der Vorstellung des jüngsten OECD-Gutachtens rechnete Arbeitsminister Nicolas Schmit vor, dass das mittlere Einkommen in Frankreich dem gesetzlichen Mindestlohn in Luxemburg entspreche. So dass der Luxemburger Arbeitsmarkt auch nach weiteren einseitigen Kürzungen sozialstaatlicher Leistungen finanziell attraktiv bleiben könnte.
Denn der Fantasie scheinen keine Grenzen gesetzt, wenn es heißt, in Krisenzeiten darauf zu achten, dass die „nationale Solidarität“ auch wirklich national bleibt, also der „Exportabilität“ unterliegende Leistungen zu kürzen und sie durch solche zu ersetzen, die nicht exportiert werden müssen. Dies war eines der Ziele bei der Einführung der Chèques-services „anstatt das Kindergeld pauschal für jedes Kind zu erhöhen“, wie der Premier in seiner Erklärung zur Lage der Nation 2008 betonte. Eine Kindergelderhöhung wäre auch den Grenzpendlern zugute gekommen, die Chèques-services muss jeder in seiner Luxemburger Wohngemeinde beantragen – Pech, wer in einer lothringischen wohnt.
Dabei steht in der Kinderbetreuung, im öffentlichen Transport und vielleicht in noch ganz anderen Sozialbereichen die „Kostenlosigkeit“ genannte Politik erst am Anfang, Geldleistungen durch Naturalleistungen zu ersetzen – die nicht exportiert werden müssen. Auch wenn die Bereitstellung zusätzlicher Infrastrukturen derzeit durch die Finanznöte des Staats verzögert werden dürfte.
Aber am Ende könnte es für den Staat ein Nullsummenspiel werden, wenn er die zusätzlichen Naturalleistungen für die Einheimischen mit den Geldleistungen finanziert, die er den Grenzpendlern ersatzlos streicht. Zu diesem Zweck scheint die Regierung sogar bereit, wieder auf das erst vor wenigen Jahren zum universellen Credo erhobene Kostendeckungsprinzip zu verzichten.
Inzwischen droht der Kampf gegen die „Exportabilität“ sozialstaatlicher Leistungen sogar einen ungewollten Nebeneffekt zu produzieren. Denn auf der Flucht vor den hohen Immobilienpreisen sind nach Angaben des Observatoire de l’habitat zwischen 2001 und 2007 7715 hierzulande Beschäftigte samt ihren Familien in die ausländischen Grenzregionen umgezogen. Wodurch sie selbst zu Grenzpendlern geworden und nun von den einseitigen Leistungskürzungen betroffen sind. Was bei der Fortsetzung dieser Auswanderung für die Regierung insofern zu einem politischen Problem werden könnte, als es sich mehrheitlich um wahlberechtigte Luxemburger Staatsangehörige handelt.
Romain Hilgert
Kategorien: Energie, Öffentliche Finanzen, Soziale Beziehungen, Sozialpolitik, Wirtschaftspolitik
Ausgabe: 20.05.2010