Diese Themen müsse „der neue Gesundheits- und Sozialminister unbedingt in Angriff nehmen“, hat der Ärzteverband AMMD seinem Dreizehn-Punkte-Programm an die Parteien vor den Wahlen vorangestellt. Der letzte Punkt ist auf den ersten Blick unscheinbar und liest sich ziemlich technisch: „Übergang auf eine aktivitätsbezogene Bezahlung der Krankenhäuser“. Doch diese Worte haben es in sich. Je nachdem wie dieser Übergang vollzogen würde, wäre das heimische Gesundheitswesen ein anderes als heute, und ein politischer Kraftakt dafür nötig. Bei der AMMD macht man sich gar keine Illusionen, dass so ein Wandel in einer einzigen Legislaturperiode abzuschließen wäre.
Zumindest eine Grundsatzentscheidung aber hätte die nächste Regierung zu treffen, falls sie der Idee des Ärzteverbands folgt: „mehr Markt“ ins Klinikwesen Einzug halten zu lassen. Schon heute spielt es für die Bezahlung der Spitäler eine Rolle, wie aktiv sie sind. Oder besser: wie aktiv sie waren. Jahr für Jahr handelt jedes Klinik mit der Gesundheitskasse CNS ein Budget für das Jahr danach aus, und wie groß es ausfällt, hängt stark davon ab, was das Spital an Aktivitäten aus den ein bis zwei Jahren zuvor gegenüber der Kasse geltend machen kann. Erhoben werden die Kosten mühsam an über 20 „Kostenstellen“ der Kliniken – vom OP-Trakt bis zur Poliklinik.
Eine „aktivitätsbezogene“ Bezahlung wäre etwas ganz anderes. Dann erhielte ein Krankenhaus eine Pauschale pro Patient, die davon abhängt, was für einen Fall er oder sie darstellt. Es wäre ein Preis pro Fall und seiner Behandlung, der für sämtliche Spitäler im Lande derselbe wäre. Wer mit ihm nicht auskäme, hätte ein Problem. Erfunden worden waren die Fallpauschalen Ende der Sechzigerjahre an der Yale University als Diagnosis Related Groups (DRG), um in der Medicare, der US-amerikanischen öffentlichen Krankenversicherung für über 65-Jährige, den Kostenanstieg zu bremsen. Was nachweislich gelang. Kein Wunder, dass der OGBL schon vor einem Jahr auf einer Gesundheitskonferenz vor Fallpauschalen warnte und die Gefahr von Personalabbau und Qualitätsverschlechterungen in den Kliniken beschwor. Die CNS sollte bloß nicht anfangen, ein derartiges System aufzubauen.
Was schon darauf hindeutet, dass der Ärzteverband seinen Vorschlag nicht ins Blaue hinein gemacht hat und es potenziell hellhörige Adressaten dafür gibt. Zum Beispiel in der Verwaltung der CNS. Für sie sind die Ideen der AMMD nicht neu: Die nach der großen Krankenkassenreform von 1992 eingeführte Klinik-Budgetierung mit ihren Kostenstellen war damals nur als Übergangslösung gedacht und sollte durch Pauschalen ersetzt werden. Die damalige Krankenkassenunion UCM kam aber schnell wieder ab davon: Es hätte bedeutet, für das kleine Luxemburg mit seinen wenigen Spitälern eine Datenbasis zur Klassifizierung von hunderten, vielleicht tausenden möglichen Diagnosen sowie ihren Behandlungen im Spital zu schaffen und darauf jeweils einen für alle Spitäler gültigen Preis zu setzen. Der Aufwand erschien zu hoch. Hinzu kam: Mochte die Krankenversicherung in den Jahren danach zwar immer wieder defizitär geworden sein, war die Beschäftigungsentwicklung im Lande mit den vielen Grenzgänger-Arbeitsplätzen dennoch so gut, dass im Gesundheitswesen genug Geld zur Verfügung stand, um nichts am System ändern zu müssen.
Heute ist die Lage schwieriger. Die Krankenversicherung wird voraussichtlich ab 2015 strukturell defizitär, falls nichts dagegen unternommen wird. Die wirtschaftliche Perspektive Luxemburgs ist unsicher. Und zumindest der aktuelle Finanzminister von der CSV hat mehr als einmal erklärt, der Staatsanteil an der Sozialversicherung sei zu hoch. Noch erhält die Krankenversicherung 40 Prozent ihrer Einnahmen aus der Staatskasse. Doch wenn ab 2015 allein durch die EU-weite Harmonisierung im elektronischen Handel Luxemburg jährlich hunderte Millionen Euro an Mehrwertsteuereinnahmen verloren gehen, könnte nicht nur ein Luc Frieden, sondern könnte die ganze nächste Regierung, den Sozialminister eingeschlossen, der Meinung sein, nun sei aber eine Defiskalisierung der Sozialversicherung angesagt. Da die Krankenhauskosten die Hälfte der Gesundheitsausgaben der CNS ausmachen, könnte es politisch opportun werden, gerade dort einen Hebel anzusetzen. Dieses Jahr erhalten die Spitäler von der Kasse 800 Millionen Euro. Den Kammer-Fraktionen hat der Ärzteverband sein Positionspapier und die Finanzierungsidee schon erläutert.
Ginge man tatsächlich an ihre Umsetzung, müsste Luxemburg, anders als vor 20 Jahren, nicht an den Aufbau eines eigenen Systems mit Riesen-Datenbasis denken. Längst werden nicht nur in den USA Diagnosis Related Groups betrieben. Heute ist Luxemburg der einzige EU-Staat, der nicht irgendwie Fallpauschalen nutzt. Ein ausländisches System zu übernehmen und anzupassen, wäre möglich.
Und mittlerweile sind diese Systeme so ausgefeilt, dass sie nicht nur eine Riesenmenge von Diagnosen enthalten – in Deutschland sind es 1 300, in Frankreich über 2 000, in den Niederlanden sogar 30 000. In ihnen stecken auch Vorkehrungen, die verhindern sollen, dass unter den Pauschalen die Behandlungsqualität im Spital leidet. Aus der Luft gegriffen sind die Befürchtungen des OGBL in dieser Hinsicht keineswegs, wenn im Gesundheitswesen Preiswahrheit an die Stelle von bürokratischer Kostenverwaltung rückt. Die OECD hat wiederholt festgestellt, dass die Pauschalen dazu führen können, dass Patienten zu früh aus dem Spital entlassen werden, wenn sich an ihnen keine Behandlungen mehr vornehmen lassen können, die das Spital im Pauschalensystem unterzubringen vermag. Und so werden zum Beispiel in Großbritannien und den Niederlanden die Pauschalen pro Patient grundsätzlich nur zu 98 Prozent an die Spitäler gezahlt. Den Rest gibt es erst, wenn ein Patient nach seiner Entlassung nachweislich keine Komplikationen aufwies, sich im Spital keine Infek-tion zuzog und so weiter.
Dass Luxemburg der einzige EU-Staat ohne Fallpauschalen ist, lässt auch Handlungsdruck vom ein Stück weit liberalisierten europäischen Gesundheitsmarkt her aufkommen. In zwei Monaten wird die EU-Richtlinie über die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung wirksam. Dann muss Preis- und Qualitätstransparenz über die in Europa angebotenen Leistungen herrschen. Alle anderen Staaten können dann angeben, was bei ihnen eine Blinddarmoperation, der Einsatz eines künstlichen Hüftgelenks und so weiter in welcher Klinik kostet. Die Luxemburger CNS dagegen kann nur Preise pro Spital angeben, die Durchschnitte sind und mühsam aus den Kostenstellen berechnet wurden. Wenigstens stehen die Arztleistungen in der Gebührenordnung der Mediziner in Euro verzeichnet. Gut möglich ist es daher, dass die CNS der Krankenversicherung eines ausländischen Patienten, der sich hier behandeln ließ, am Ende zu wenig in Rechnung stellen könnte, weil sie die Kosten hierzulande unterschätzt hat. Oder dass sie zu viel nimmt und Luxemburg als „teurer“ Behandlungsort verschrien würde. Das Albtraumszenario bei der Kasse lautet, dass ein ausländischer Patient von einem Luxemburger Arzt in einem Krankenhaus eine ganz teure Behandlung erhalten könnte, für die hierzulande nicht mal der Ansatz eines rea-litätsnahen Preises existiert. Und dass sich das im Ausland herumspricht.
Für Transparenz bei den Krankenhauskosten zu sorgen oder das wirtschaftliche Tun und Lassen der Spitäler der kalten Systemrationalität von Fallpauschalen unterwerfen zu wollen, sind jedoch zwei verschiedene Dinge. Die politische Entscheidung für Transparenz fiel schon in der Gesundheitsreform. Ab kommendem Jahr sollen in allen Spitälern sämtliche Diagnosen einheitlich nach einem international gültigen Klassifizierungsschema der Weltgesundheitsorganisation erhoben und dokumentiert werden. Heute noch ist es, man glaubt es kaum, dem Arzt freigestellt, seine Diagnose zu dokumentieren. Ab 2015 sollen auch die Prozeduren am Patienten in den Kliniken dokumentiert werden; nach dem Willen der Regierung gemäß dem in Frankreich geltenden Schema. Dann wüsste jedes Spital, was es macht. Die CNS könnte Budgetverhandlungen mit exakten Daten führen und den Spitälern nicht in erster Linie glauben müssen, was sie erklären, gemacht zu haben. Dann ließen sich auch Preise für Auslandspatienten definieren.
Wie man die Luxemburger Spitäler hin zu mehr Kosteneffizienz und guten Resultaten steuert, ist dagegen eine zweite Frage – und die ist hochpolitisch. Die Spitäler wirtschafteten nicht „verantwortlich“ genug, meinen die AMMD wie die CNS. Einsparpotenziale gibt es offenbar. Zum Beispiel kommt die in der Gesundheitsreform abgemachte „Mutua-lisierung“ von Zusatzaktivitäten, wie die Bildung einer Einkaufszentrale aller Kliniken, nur äußerst schleppend voran. Dabei machen die Einkäufe, von Medikamenten bis zu Implantaten, mit 180 Millionen Euro fast ein Viertel der Kosten der Häuser aus. Obwohl seit der Reform ein vom Regierungsrat alle zwei Jahre festgelegtes Globalbudget für sämtliche Kliniken gilt, scheint der Leidensdruck unter diesem Deckel noch nicht groß genug zu sein.
Aber wenngleich ein noch immer bestehendes Konkurrenzdenken unter den Spitälern solchen Kooperationen im Wege stehen mag und die Allgemeinheit unnötig Geld kostet – es gilt auch: An der Quelle einer Krankenhausaktivität steht der verschreibende Arzt. Es kann schon überraschen, dass vor den Wahlen ausgerechnet die AMMD für die aktivitätsbezogene Bezahlung der Spitäler plädiert. In der Vergangenheit meinte sie stets, Fallpauschalen kämen für sie nicht in Frage. Zumindest keine, in denen auch die Arzthonorare enthalten wären.
Das aber sieht die AMMD noch immer so. Ginge es nach ihr, würden nur Preise für die Leistungen des Spitals am Patienten eingeführt, die Arzthonorare blieben unabhängig davon. So wie in französischen Privatkliniken, wo für die Klinikleistungen die frankreichweit gültige Tarification à l’activité (T2A) ebenso gilt wie in den öffentlichen Häusern, der Arzttarif aber eine Sache für sich ist.
Allerdings gibt es in Luxemburg – abgesehen von dem merkwürdigen 66-Prozent-Zuschlag auf die Medizinerleistung für Patienten in Einzelzimmern – keine Privat-Krankenhausmedizin, sind die Spitäler alle öffentlich finanziert und, wie die Ärzte, allesamt mit der öffentlichen CNS konventioniert. Die Frage, wie ein Krankenhausarzt veranlasst werden kann, daran mitzuarbeiten, dass sein Spital mit den knapper werdenden öffentlichen Mitteln auskommt und trotzdem die Patienten gut versorgt, stellt sich ganz akut. Die übergroße Mehrheit der Luxemburger Klinikärzte sind Freiberufler mit Agrément am Spital. Nach der geltenden Rechtslage hat das Spital einem solchen Belegarzt alle Möglichkeiten zu schaffen, seinen Beruf gut ausüben zu können. Dass jeder Mediziner Liberté thérapeutique genießt, steht gleich in mehreren Gesetzes- und Verordnungstexten. Und während der Auseinandersetzung um die Behandlung von Brustkrebs vor einem Jahr drohte die AMMD jedem Spital, das Ärzten Mindestfallzahlen vorschreiben wollte, um an Brustkrebsbehandlungen teilzunehmen, mit einer Gerichtsklage.
So dass letzten Endes eine Diskussion um Fallpauschalen oder eine aktivitätsbezogene Bezahlung der Krankenhäuser auch eine Grundsatzdebatte um die Krankenhausmedizin und die Rolle des Klinikarztes sein müsste. Fragt man die AMMD-Spitze danach, dann würde der Krankenhausarzt nur über eine Art Peer pressure eingebunden in die Umsetzung von Effizienz- und Qualitätsstrategien im Haus: Noch zu schaffende Médecins-coordinateurs pro Fachgebiet sollten enger am Entscheidungsprozess der Klinikdirektionen beteiligt sein, hätten jedoch keine Weisungsbefugnis gegenüber ihren Kollegen und wären lediglich jeweils ein Primus inter pares.
Das aber hieße, dass eine Krankenhausleitung, die unter Einspardruck steht, sich nie sicher sein könnte, ob ihre Vorgaben wirklich dort ankommen, wo die Ausgaben ausgelöst werden, und dass sie an ihren Entscheidungen Koordinationsmediziner beteiligen müsste, die den anderen Ärzten, wenn es hart auf hart kommt, nichts zu sagen haben. Dass sich damit ein Krankenhausbetrieb steuern ließe, scheint alles andere als sicher. So dass die „aktivitätsbezogene Bezahlung“ der Spitäler zu guter Letzt politisch an der AMMD vielleicht sogar noch eher scheitern könnte als am OGBL und die ak-tuelle Kampagne der Ärzte in diesem Punkt vor allem Vorsorge dafür trifft, dass die liberale Medizin bleiben kann, wie sie ist.