Im Jahr 2011 waren Troubles mentaux et du comportement mit 20 Prozent der zweitwichtigste Grund für eine Langzeitkrankschreibung von 21 Tagen oder mehr. Im selben Jahr wurden in Luxemburg 53 Selbstmorde verübt, vor allem durch Erhängen; in weiteren 28 Fällen war die Suizidabsicht nicht völlig zu rekonstruieren. Der Alkoholverbrauch im Lande ist legendär, die Drogenszene auch, und über den Konsum von Psychopharmaka sind schon mehrere wissenschaftliche Studien erschienen. Weil es schon vor 13 Jahren hieß, die Psychiater seien überfordert durch den Patientenandrang (d’Land, 23.11.2000), würde es eigentlich nicht überraschen, wenn der Gesundheitsminister den Entwurf für das Psychotherapeutengesetz öffentlich vorstellen würde. Denn damit soll der Beruf des Psychotherapeuten definiert und der Zugang zu ihm geregelt werden. In den Therapie-Markt würden Ordnung und Qualitätsgarantien Einzug halten.
Doch obwohl die Vorbereitung des 28 Artikel umfassenden Textes fast fünf Jahre in Anspruch nahm und obschon bereits in den Neunzigerjahren unter dem damaligen Gesundheitsminister Johny Lahure (LSAP) sehr lange über ein Psychotherapeutengesetz verhandelt worden war, liegt der Entwurf seit 6. Juni im Parlament, ohne dass das bisher öffentlich weiter aufgefallen wäre. Dabei geht der Gesetzentwurf in einem wichtigen Punkt viel weiter als das Avant-projet, das Mars Di Bartolomeo (LSAP) im vergangenen Jahr in die informelle Konsultation gab: Neu ist, dass in Zukunft auch von einem Psychologen verabreichte Psychotherapien von der Gesundheitskasse bezahlt werden sollen.
Vielleicht liegt es vor allem an diesem Passus, dass Di Bartolomeo den Entwurf noch nicht als eine weitere gute Tat für eine verbesserte Gesundheitsversorgung ins Gespräch gebracht hat. Was dort vorgesehen ist, um Psychotherapie durch die Kasse erstatten zu lassen, folgt dem „Schema F“, wie es auch für Ärzte, Physiotherapeuten, Hebammen und alle anderen Gesundheitsdienstleister gilt: Zunächst müssten die Psychotherapeuten eine „repräsentative Interessenvertretung“ gründen. Die würde anschließend mit der CNS eine Konvention aushandeln, in der festgeschrieben würde, wofür die Kasse aufkommt. Dafür müsste eine Gebührenordnung aufgestellt werden, deren Tarife regelmäßig überprüft und angepasst werden.
So steht es auf dem Papier im Dossier parlementaire n° 6578. Die Frage ist aber trotzdem, ob Kasse und Therapeuten das wirklich so wollen. Die Kasse, weil sie fürchtet, Psychotherapien könnten sie sehr teuer zu stehen kommen – gerade zu einem Moment, da sie überall zu sparen versucht und damit rechnet, ab 2015 müssten entweder die Beiträge angehoben, die Leistungen gekürzt, die Selbstbeteiligungen der Pa-tienten erhöht werden oder von all dem etwas. Daten über den Psychotherapiebedarf in Luxemburg fehlen zwar, in Belgien aber wurde erhoben, dass im Laufe des Jahres 2004 immerhin 10,7 Prozent der Gesamtbevölkerung unter einem „trouble mental“ gelitten hätten. In einer Note hatte die CNS dem Minister schon vor einem Jahr mitgeteilt, man müsse genau abgrenzen, wofür sie aufzukommen hätte.
Im Gesetzentwurf steht dazu nichts Genaues. Nur in einem Kommentar heißt es, die Kasse übernähme allein die Kosten zur Behandlung einer „maladie mentale, causant des troubles psychiatriques“. Ausgeschlossen werden müssten „[des] thérapies liées par exemple à un état de deuil, de dépression relationnelle, d’éducation sexuelle, de comportement nutritionnel, d’orientation scolaire, de réclassement professionnel“. Aber ob das reicht? Und wer würde entscheiden, ob etwa eine dépression relationnelle in eine Depression mündete, die troubles psychiatriques verursacht? Vermutlich nicht ein Facharzt für Psychiatrie. Denn dass dieser nicht am Anfang jeder Psychotherapie-Verschreibung stehen soll und nach einem „Delegationsprinzip“ einen Patienten entweder zu einem Psychotherapeuten überwiese, der auch ein Psychologe sein kann, oder ihn lieber selber behandle, war ein Zugeständnis, das der Verband der Psychologen der Fachgesellschaft der Psychiater erst nach längeren Diskussionen abzuringen vermochte. Müsste dann aber nicht womöglich eine Regelung wie in Deutschland her, wo ein Therapeut eine Rückerstattung durch die Kasse durch einen ausführlichen Bericht über seinen Patienten an eine Prüfstelle begründen muss? Vielleicht, doch das ist eine noch offene Frage.
Inwiefern die Therapeuten die Rückerstattung der Behandlungskosten wirklich wollen, fragt sich deshalb, weil nach „Schema F“, wie es im Gesetzentwurf steht, jeder Psychotherapeut obligatorisch und automatisch mit der CNS konventioniert würde, sobald seine Interessenvertretung einen Vertrag mit ihr eingegangen wäre. Das ist eine Regelung, gegen die sich der Ärzteverband für seine freiberuflichen Mitglieder seit mehr als zehn Jahren wehrt und mehr Freiheit für privatmedizinische Zusatzangebote reklamiert: In den anderen EU-Staaten gebe es die schließlich auch. Interessanterweise könnte für Psychotherapeuten diese Freiheit sogar garantiert sein, wenn die CNS nur für die Behandlung von „maladies mentales“ aufkommt und die Tarife dafür über eine Gebührenordnung geregelt würden. Für Therapien eines état de deuil oder eines falschen comportement nutritionnel könnten die Preise dann weiterhin frei kalkuliert werden.
Aber: Das Psychotherapeutengesetz will nicht zuletzt dadurch innovieren, dass der Zugang zu dem künftig geschützten Beruf „Psychotherapeut“ für Psychologen wie für Mediziner einheitlich über eine akademische Zusatzausbildung in Psychotherapie zu führen hat. Sogar Psychiater und Neuropsychiater sollen nicht automatisch als Psychotherapeuten anerkannt werden – Einzelheiten für eine Übergangsphase soll eine großherzogliche Verordnung regeln.
Allerdings bestehen, wie sich leicht denken lässt, für Psychiater schon heute Kassentarife für Psychotherapie. Für eine Stunde Psychoanalyse zum Beispiel darf ein Psychiater in den ersten fünf Sitzungen jeweils 138,80 Euro in Rechnung stellen, ab der sechsten Sitzung 106,40 Euro – bei stets zwölf Prozent Patientenbeteiligung. Sollen diese Tarife auch für Psychologen als Therapeuten gelten? Laut Psychologenverband sind in Luxemburg bei Psychologen-Therapeuten zwischen 70 und 150 Euro pro Sitzung „Standard“. Hinzu kommt: Tritt die einheitliche Berufsbezeichnung Psychotherapeut für Ärzte wie für Psychologen im Grundberuf in Kraft und gäbe es eine Konvention zwischen der CNS und einer Psychotherapeutenvereinigung, nach der die Kasse die psychotherapeutische Behandlung von „Krankheiten“ trüge, wären als Psychotherapeut anerkannte Mediziner zweierlei Dienstleister gleichzeitig: einerseits Arzt, andererseits Psychotherapeut. Ihnen müsste dann erlaubt werden, das Honorar für die Psychotherapie von allem, was nicht unter Krankheit fällt, frei festzulegen. Doch damit genössen sie eine Freiheit, die anderen Ärzten verwehrt ist. Denkbar wäre vielleicht, dass der Ärzteverband das akzeptiert – vermutlich aber nur um den Preis, dass in absehbarer Zeit auch anderen Medizinersparten erlaubt würde, „Zusatzbehandlungen“ privat abzurechnen. So dass man sich fragen muss, ob die Regierung und vor allem der sozialistische Gesundheits- und Sozialminister die politische Tragweite einer Kassen-Psychotherapie in vollem Umfang überblicken.
Klärungsbedarf gibt es aber noch an anderer Stelle. Es stimmt nicht ganz, dass Psychotherapien in Luxemburg völlig ungeregelt verabreicht werden. Konventioniert mit dem Familienministerium, bieten Vereine wie das Planning familial oder die Liewens-, Partner- a Familljeberodung Psychotherapie durch Mitarbeiter an, die den Anforderungen, wie das neue Gesetz sie stellen soll, sehr wohl entsprechen. Honorare aber werden dort dank der staatlichen Subventionierung nicht genommen, sondern nur eine freiwillige Spende. Werden solche Angebote einfach weiterexistieren können oder womöglich als unlauterer Wettbewerb angesehen?
Darüber hinaus gibt es seit dem Gesetz vom 16. Dezember 2008 über die Jugendhilfe und das Office national de l’enfance eine „consultation psychothérapeutique“ nicht nur für Kinder und Jugendliche und deren Familien, sondern auch für junge Erwachsene. Anbieten dürfen sie nicht nur Mediziner und Psychologen, sondern auch Pädagogen mit einer nicht näher beschriebenen Zusatzausbildung von wenigstens 300 Stunden Dauer in Psychotherapie oder „consultation psycho-affective“. So steht es in einer großherzoglichen Verordnung, die vom 17. August 2011 datiert, als der Gesundheitsminister längst dabei war, festzulegen, dass auf keinen Fall ein anderer Grundberuf als der des Arztes oder des Psychologen als Voraussetzung für die psychotherapeutische Weiterqualifizierung akzeptiert werden solle. Nichtsdestotrotz legte die damalige Familienministerin Marie-Josée Jacobs (CSV) für die „consultation psychologique, psycho-affective, psychothérapeutique ou psychotraumatologique“ auch Tarife fest: 45,60 Euro für 30 Minuten, 91,20 Euro für 60 Minuten und 136,80 Euro für 90 Minuten Konsultation.
Wie sich das verträgt mit dem geplanten Psychotherapeutengesetz, vor allem mit dem Adjektiv „psychothérapeutique“ zur Beschreibung der Konsultation? Schlecht, ließ der Vorstand der CNS Mars Di Bartolomeo wissen: So lange „des prestations similaires voire même identiques sont dispensées au Luxembourg par des structures œuvrant dans le domaine social“, sei es unmöglich zu sagen, was in den Geltungsbereich der Krankenversicherung fallen soll und was nicht. Zur Behandlung psychischer und psychosomatischer Krankheiten müssten ein Konzept her und ein „cadre structuré et coordonné incluant tous les acteurs“. Es sei zu wünschen, dass der Gesetzentwurf dazu beitrage, dieses Konzept zu entwickeln. Für die Präsentation einer weiteren guten Tat für die Gesundheitsversorgung ist es also einfach noch zu früh. Ein umfassendes Psychotherapiekonzept zu finden, dürfte aber Jahre dauern.