Seit Anfang der 1980-er Jahre beschäftigt sich die kognitive Linguistik verstärkt mit der Frage des Verhältnisses zwischen Gehirn und Mehrsprachigkeit. In Luxemburg scheint das dreißig Jahre später noch immer nicht so recht angekommen zu sein1. Wie sonst ist es zu erklären, dass hierzulande sprachpolitische Positionen vertreten werden, die ein halbes Jahrhundert kognitiver Mehrsprachigkeitsforschung schlicht und einfach ignorieren?
Um der reichlich laienhaft geführten Debatte um das Sprachenprimat an Luxemburger Schulen neue Anstöße zu geben, ist es hoffentlich nützlich, einige, wenngleich nicht mehr ganz neue, so doch wesentliche Forschungsergebnisse der kognitiven Linguistik vorstellen.
Eine ganze Reihe von Studien beschäftigt sich seit geraumer Zeit mit der Frage nach der Existenz sprachspezifischer Verständnisstrategien beim Erwachsenen. Cutler et al. (Cutler, Mehler, Norris u. Segui, 1983) etwa konnten nachweisen, dass Sprecher des Englischen und des Französischen den sprachlichen Input vor dessen Weiterverarbeitung in unterschiedlichen Einheiten wahrnehmen. Die Grundeinheit, die französische Muttersprachler wahrnehmen, ist die Silbe, und zwar unabhängig davon, ob der zu verarbeitende Input französisch ist oder englisch. Für englische Muttersprachler dagegen ist die Silbe nicht die Grundeinheit, und dies ebenfalls unabhängig davon, ob es um die Verarbeitung des Englischen oder Französischen geht. Diese Erkenntnis weist darauf hin, dass bereits auf der untersten Verarbeitungsebene von der Muttersprache unabhängig funktionierende Verarbeitungsmechanismen existieren.
Eine weitere Studie (MacWhinney, Bates u. Kliegl, 1984) hat bei zeitungebundenen Verständnisaufgaben sprachspezifische Verarbeitungsstrategien beim englisch-deutsch- und beim italienischsprachigen Erwachsenen gefunden. Während englischsprachige Probanden sich bei der Verarbeitung hauptsächlich auf die Wortfolge im Satzgefüge verlassen, stützen sich die Sprecher des Deutschen, sofern keine eindeutige Kasusmarkierung existiert, sowohl auf die Information aus der Subjekt-Verb-Kongruenz als auch auf das Kriterium der „Belebtheit“2 des Nomens. Italiener wiederum folgen in der Hauptsache dem Faktor Subjekt-Verb-Kongruenz.
Die Ergebnisse bestätigen die These, dass erwachsene Sprecher im Gegensatz zu Kindern strukturellen Hinweisreizen ein größeres Gewicht einräumen als dem Faktor Subjekt-Verb-Kongruenz. Für die deutschsprachigen Erwachsenen ergibt sich dagegen, was das Deutsche betrifft, zumindest in jenen Fällen, in denen die Kasusmarkierung keine eindeutige Feststellung von Subjekt und Objekt zulässt, also beim Femininum etwa, ein völlig anderes Bild: In diesen Fällen ziehen die deutschsprachigen Erwachsenen zur Satzinterpretation den lexikalisch-semantischen Hinweisreiz „Belebtheit“ heran. Was den Schluss zulässt, dass ein Zusammenhang zwischen dem morphologischen Komplexitätsgrad der jeweiligen Sprache und entsprechenden Verarbeitungsstrategien besteht.
Im Klartext: Sprecher einer Sprache mit flektierendem Bau3 bedienen sich mehrheitlich kongruenzbasierter Verständnisstrategien, während Sprachen mit isolierendem Bau4 gewöhnlich nach einer an der Wortfolge orientierten Prozessierung verlangen. Von besonderem Interesse wäre es, Sprecher des Luxemburgischen auf deren Satzinterpretationsstrategien hin empirisch zu untersuchen. Wegen des hier durchgehend verschwundenen Nominativs5 macht im Luxemburgischen der Faktor Kasusmarkierung eine grammatikalische Trennung von Subjekt und Objekt generell unmöglich. Wodurch sich auch im Fall des Luxemburgischen ein Ausweichen auf lexikalisch-semantische Hinweisreize erwarten lässt.
Das Kleinkind erwirbt sein Wissen um die Gewichtung der unterschiedlichen in einer Äußerung enthaltenen Hinweisreize, sobald es sich über das Stadium der Zweiwort-Sätze hinaus entwickelt hat. Unstrittig erscheint, dass die unterschiedlichen Input-Variablen, die das zu erwerbende Sprachsystem kontrollieren, einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den zeitlichen Ablauf dieses Entwicklungsprozesses haben. Bestimmte grammatische Funktionen werden, je nachdem, in welcher Form sie in einer Sprache kodiert sind, zu völlig unterschiedlichen Zeitpunkten in der kindlichen Entwicklung erworben. Unterschiedliche Form-Funktionsbeziehungen in verschiedenen Sprachen können zu Unterschieden im zeitlichen Ablauf der Sprachentwicklung führen.
So hat man beispielsweise nachweisen können (Kean 1979, 1981), dass die Unterscheidung zwischen semantisch-lexikalischen Einheiten (Elemente der offenen Klasse) und syntaktischen Einheiten (Elemente der geschlossenen Klasse)6 nicht beziehungsweise nicht ausschließlich auf den Faktor der Bedeutung zurückzuführen sind. Entscheidend ist vielmehr der phonologische Status.
In der Tat nehmen Kinder die betonten Wörter der offenen Klasse (so genannte nicht-klitische Elemente7) als erste Elemente im kontinuierlichen Sprachstrom erwachsener Bezugspersonen wahr. Sobald sie diese bedeutungstragenden Wörter im Satz innerhalb des Satzgefüges isoliert haben, produzieren sie diese als erste. Dagegen werden die meisten unbetonten Elemente der geschlossenen Klasse (klitische Elemente), die die grammatischen Beziehungen zwischen den bedeutungstragenden Einheiten ausdrücken, erst wesentlich später erworben. Unterschiedliche Form-Funktions-Beziehungen in verschiedenen Sprachen machen es möglich, die verschiedenen für den Spracherwerb wesentlichen Faktoren wie Wortklasse, lexikalischer Status (belebt/unbelebt) und phonologische Form (klitisch/nicht-klitisch) unabhängig voneinander zu betrachten.
In einem Experiment über den Erwerb von Funktionswörtern konnte gezeigt werden, dass der lexikalische Status nicht nur für die Unterscheidung zwischen den beiden Wortklassen „offen“ und „geschlossen“ relevant ist, sondern auch für die Verarbeitung unterschiedlicher Elemente innerhalb der geschlossenen Klasse. Jene Funktionswörter, die eine referenzielle Bedeutung besitzen – im konkreten Falle die Präpositionen –, beherrschten die Kinder früher. Der im Deutschen vorhandene Kontrast zwischen lexikalischen und obligatorischen Präpositionen8 ermöglicht es dem Sprecher, die Faktoren der semantisch-lexikalischen Funk-tion auf der einen Seite sowie die der syntaktischen Funktion auf der anderen Seite unabhängig von der Klassenzugehörigkeit und dem phonologischen Status zu betrachten.
Dagegen kann im Französischen der Faktor des phonologischen Status eines Elements der geschlossenen Klasse variiert werden, und zwar unabhängig vom lexikalisch-semantischen Gehalt sowie der syntaktischen Funktion. Dieser Sonderfall trifft vor allem für das System der Personalpronomen zu. Das französische Pronominalsystem verfügt sowohl über klitische Formen (me, te, se) als auch nicht-klitische (moi, toi, soi). Das Deutsche weist im Gegensatz dazu ausschließlich nicht-klitische Formen auf (mich, dich, sich). Der Gebrauch der beiden unterschiedlichen Pronominalformen ist gesprächs- beziehungsweise kontextabhängig. Zum Beispiel kann, je nach Kontext, zwischen der klitischen Form „le garçon le lui montre“ und der nicht-klitischen, betonten Variante „le garçon le montre à lui“ gewählt werden. Im isolierten Satz betrachtet, bleiben beide Möglichkeiten grammatisch korrekt.
Da der Faktor des phonologischen Status des Pronomens, wie weiter oben hervorgehoben, einen maßgeblichen Einfluss auf den Erwerb des Pronominalsystems hat, ist zu erwarten, dass französischsprachige Kinder nicht-klitische Elemente früher erwerben als klitische. Darüber hinaus dürfte die Verteilung der Repräsentation einer bestimmten Funktion auf zwei unterschiedliche Formen den Erwerb des Pronominalsytems im Französischen bedeutend verlangsamen. Französischsprachige Kinder wären in dieser Hinsicht gegenüber ihren deutschsprachigen Altersgenossen, die lediglich ein einziges und damit einheitliches nicht-klitisches Pronominalsystem beherrschen müssten, deutlich im Nachteil.
Diese Arbeitshypothese hat Angela Friederici (Friederici, 1987) in einem Experiment über den Erwerb des Pronominalsystems im zwischensprachlichen Vergleich auf ihre Gültigkeit hin überprüfen können. Im Wesentlichen hält sie Folgendes fest:
„Vergleichen wir den zeitlichen Ablauf des Erwerbs des Pronominalsystems im Französischen, Deutschen und Englischen, so werden enorme Unterschiede ersichtlich. (...) Zusammenfassend lassen die Ergebnisse den Schluss zu, dass für die Verarbeitung von Elementen der geschlossenen Klasse nicht nur das Ausmaß lexikalisch-semantischer Aspekte eine Rolle spielt, sondern dass auch Inputfaktoren, wie phonologischer Status und Stellung im Satz, für die Verarbeitung von Elementen der geschlossenen Klasse eine bedeutende Rolle spielen – und zwar unabhängig von der syntaktischen Funktion, die diesen pronominalen Elementen zugeschrieben wird.“9
Vor allem der Umstand, dass komplexe Pronominalsysteme wie das französische zu einem späteren Zeitpunkt erworben werden als etwa das weniger komplexe des Deutschen, sollte einen maßgeblichen Einfluss auf die Debatte über die Frage haben, in welcher Sprache die Alphabetisierung an unseren Schulen durchgeführt werden soll. Rein soziologische Argumente verstellen den Blick auf das Wesentliche, die je nach Sprache völlig unterschiedlich verlaufenden Spracherwerbsprozesse nämlich. Eine Bedingung hierfür wäre allerdings, dass nicht länger im Trüben gefischt wird und endlich die so bitter nötige empirische Erforschung der für das Luxemburgische spezifischen Sprachverarbeitungsstrategien in Angriff genommen werden.
Im Jahre 1984 konzipierten Friederici et al. (Friederici, Weissenborn u. Kail, 1991) eine in dieser Hinsicht vorbildliche sprachvergleichende Studie. Sie sollte die These überprüfen, nach welcher der phonologische Status für die Verarbeitungsschwierigkeiten von Elementen der geschlossenen Klasse bei Broca-Aphasikern10 ausschlaggebend ist.
Verglichen wurde die Verarbeitung pronominaler Formen mit unterschiedlichem phonologischem Status dreier verschiedener Sprachen: des Französischen, des Niederländischen sowie des Deutschen. Der Vergleich ließ deutlich werden, welche Faktoren für die Verarbeitung der Pronomina bei Aphasikern eine Rolle spielen. Was das Deutsche betrifft, so fiel auf, dass die im Vergleich zum Niederländischen zusätzlich vorhandene Markierung des indirekten Objekts durch eine Präposition im Allgemeinen nicht zu einer Verarbeitungserleichterung führt. Dagegen deutet für das Niederländische alles darauf hin, dass Wernicke-Aphasiker sich die Präposition als zusätzliche Markierung durchaus zunutze machen. Der zwischensprachliche Vergleich Deutsch/Niederländisch machte zudem deutlich, dass die Position des betreffenden Elementes im Satzgefüge eine entscheidende Rolle dafür spielt, wie Wernicke-Aphasiker Pronomina verarbeiten.
Allein aufgrund der Tatsache, dass im Luxemburgischen, ähnlich wie im Niederländischen und im Gegensatz zum Deutschen, das indirekte Objektpronomen stets vor dem direkten Objektpronomen steht, wäre es unumgänglich, diese Studie auch am Beispiel des Luxemburgischen durchzuführen. Nur so könnten die unentbehrlichen kognitivistischen Erkenntnisse über Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer Alphabetisierung auf Luxemburgisch gewonnen werden.
Werden nämlich die für das Deutsche und für das Niederländische vorliegenden Ergebnisse mit jenen für das Französische vergleichen, so lässt die These von der Wichtigkeit des Faktors Position für die Sprachverarbeitung bei Wernicke-Patienten einige Zweifel zu.
Im Französischen, wo das durch eine Präposition markierte indirekte Pronomen, genau wie im Niederländischen, stets dem direkten Objekt nachgestellt ist („le garçon le lui montre“, aber: „le garçon le montre à lui“), zeigen sich keinerlei Unterschiede in der Verarbeitung zwischen dem nicht-klitischen, sowohl durch eine Präposition wie auch durch die Stellung im Satz markierten indirekten Objektpronomen und der klitischen Form ohne Markierung durch eine Präposition („le garçon le lui montre“). Es wäre in hohem Maße notwendig, zweisprachige (Luxemburgisch-Französisch) Wernicke-Aphasiker kontrastiv-vergleichend auf dieses Phänomen hin zu untersuchen. Denn sollten dabei tatsächlich Unterschiede in der kognitiven Verarbeitung klitischer und nicht-klitischer Personalpronomina festgestellt werden, so wäre dies ohne Zweifel ein Umstand, der in der Diskussion um eine hypothetische Alphabetisierung auf Luxemburgisch Berücksichtigung finden müsste.
Der Sprachenvergleich ist für das Verständnis kognitiver Sprachverarbeitungsprozesse unbedingt wichtig. Allzu leicht nämlich führt die Beobachtung lediglich einer einzelnen Sprache in dieser Hinsicht in die Irre. Erst der direkte Sprachvergleich kann uns die Augen für die in kognitiver Hinsicht ausgeprägte Spezifizität jeder einzelnen Sprache öffnen. Luxemburg stellt mit seiner einzigartigen Sprachensituation eine für Wissenschaftler traumhafte Terra incognita dar, auf der sich die kognitive Linguistik einmal mehr bewähren könnte. Damit auf die Bildungs- und die Verkehrskatastrophe nicht auch die Sprachenkatastrophe folgt, muss endlich wissenschaftliche Klarheit über die kognitiven Sprachverarbeitungsstrategien gewonnen werden, die für die Luxemburger Dreisprachigkeit spezifischen sind. Erst dann kann über eine Alphabetisierung auf Luxemburgisch verantwortungsbewusst entschieden werden. Mit soziologischen Überlegungen und dem vermeintlich gesunden Menschenverstand allein ist es, leider Gottes, nicht getan.