„Es ist cool, dass wir am Computer arbeiten“, sagt Aline und blickt kurz auf. Dann konzentriert sich das Mädchen wieder auf den Bildschirm vor ihr: „Dezimalrechnung hatte ich noch nicht“, sagt die Elfjährige, bevor sie probeweise auf eine Zahl klickt. Darüber dass sie mit dem Rechenprogramm nicht zurechtkommt, muss sich die Schülerin aus dem Zyklus 4.1. der Grundschule in Beggen keine Sorgen machen: „Aline gehört zu den Fortgeschrittenen“, lobt Lehrer MarcGoerens und zeigt auf den Schirm, der auf seinem weißen Pult steht. Darauf sind die Namen aller Schüler zu sehen, die in der Klasse gerade online Brüche rechnen, Zahlenreihen addieren und substrahieren oder über Längenmaße grübeln. Hinter jedem Namen sind Felder, die zu vier Modulen gehören: Bei der Bruchrechnung und den natürlichen Zahlen stehen hinter Alines Namen grüne Kreise: „Das heißt, sie hat das Niveau bereits erreicht“, erklärt Goerens.
Der junge Lehrer mit dem freundlichen Lächeln und seine Klasse zählen zu den rund tausend Schülern und hundert Lehrern, die seit September 2015 mit Hilfe von Mathematic.lu Rechnen lernen. Mit der neuartigen interaktiven Rechen-Plattform für Computer, Tablet und Smartphone lernen Schüler des vierten Grundschulzyklus Mathe, indem sie sich, ähnlich wie bei einem Computerspiel, von Level zu Level navigieren, bis sie am Ende eine Art Abschlusstest absolvieren können.
„Wir haben bisher vier von sechs Modulen entwickelt. Am Anfang brauchten wir drei Monate pro Modul, jetzt schaffen wir ein Modul in etwa sechs Wochen“, erzählt Amina Kafaï-Afif. Die Projektkoordinatorin und Leiterin der Schul-Qualitätsentwicklungsagentur des Erziehungsministeriums war auf einer internationalen Konferenz von Bildungsexperten in Tallinn auf die Online-Plattform aufmerksam geworden. Sie stammt von kanadischen IT-Unternehmen Vretta, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, digitale Lernumgebungen für Mathe zu schaffen. Vretta-Mitbegründer Charles Anifowose spricht lieber von „Lernumgebung“, weil das Angebot mehr sei, als eine simple Online-Plattform, auf der Schüler Aufgaben rechnen und (hoffentlich) ihre Angst vor Zahlen verlieren können.
„Our vision is a world where everyone enjoys maths“, heißt es kühn auf der firmeneigenen Webseite. Das Original-Programm, das an kanadischen Schulen weit verbreitet ist und auf dem die Luxemburger Variante basiert, wurde so entwickelt, dass der Spaß am Rechnen im Mittelpunkt steht: mit Taschenrechner, virtuellem Bleistift und Radiergummi, bunten Farben, kleinen Figuren und Rechenbeispielen, die aus dem Leben kommen, ist die Plattform abwechslungsreich gestaltet und trotzdem einfach zu bedienen und schlüssig aufgebaut. Spielerisch, aber keine Spielerei, beschreibt es das Ministerium.
Jeder Schüler erhält, bevor er oder sie per Passwort Zugang zu Rechenaufgaben aus unterschiedlichen Themenbereichen bekommt, eine Einführung per Video. Die kann er beliebig oft schauen. Parallel – und das ist der Clou – liefert das Programm dem Lehrer Daten zum Lernverhalten seiner Klasse in Echtzeit: Während sich der Schüler oder die Schülerin durch die Aufgaben klickt, kann der Lehrer im Backend auf seinem Computer den Lernweg des Schülers analysieren. Dabei hilft ihm ein Test, den jeder Schüler zu Beginn der Nutzung von mathematic.lu durchläuft: Er informiert über das Lernniveau und die Schnelligkeit, in der eine Schülerin die Rechnungen löst: „Grün heißt, dass ein Schüler sämtliche Aufgaben erledigt hat, Gelb bedeutet, dass er oder sie noch Lücken hat.“ Wo diese liegen, kann die Lehrperson am Bildschirm nachvollziehen. „In relativ kurzer Zeit weiß ich, wo ein Schüler in Mathe steht“, sagt Marc Goerens.
Der Lehrer gehört zu den Pionieren von mathematic.lu und hat die erste Generation von Items, die Rechenaufgaben, mitentwickelt. Als Projektkoordinatorin Amina Kafaï-Afif das Programm im Ministerium und vor Lehrern vorstellte, wo es auf reges Interesse stieß, war eine Vorbedingung für einen Einkauf der Online-Plattform: Sie sollte unbedingt auf den Luxemburger Plan d’études für Mathematik abgestimmt sein – und die Aufgaben in den Sprachen: Deutsch, Englisch, Französisch und Portugiesisch zur Verfügung stehen. „So haben Schüler die Möglichkeit, sich auf ihre Mathe-Fertigkeiten zu konzentrieren, ohne durch Sprachdefizite aufgehalten zu werden“, beschreibt Kafaï-Afif den Riesenvorteil. In der Regel sind Mathe-Schulbücher in der Grundschule in Deutsch, bevor in der Sekundarschule auf Französisch gewechselt wird. Sprachbarrieren, das zeigen Bildungsstudien, sind ein Hauptgrund, warum sich viele Schüler im Luxemburger Bildungssystem so schwer tun.
Ein Lehrer habe mit Hilfe von mathematic.lu plötzlich festgestellt, dass eine Schülerin besser rechnen konnte, als es anfänglich schien, erzählt Kafaï-Afif: Weil sie des Deutschen nicht mächtig war und ihr wichtige Vokabeln fehlten, um die Aufgabe zu verstehen. Inzwischen hat auch der Service de la scolarisation des élèves étrangers Interesse an dem Pilotprojekt angemeldet.
Die integrierte Mehrsprachigkeit – der Nutzer kann zu jedem Moment entscheiden, welche Sprache er wünscht – war ein wesentlicher Grund, warum Entwickler Anifowose und Vretta-Gründerkollege Anand Karat zugesagt haben, mit Luxemburg zusammenzuarbeiten: „Wir glauben, die Flexibilität bei Sprachauswahl ist ein Schlüsselelement für ein Produkt ist, das internationale Anerkennung erhält“, schreibt Anifowose via E-Mail.
Anders als in Kanada oder Frankreich, wo die Plattform eher zur Leistungsmessung eingesetzt wird, soll beim Luxemburger Pendant der Fokus auf dem Lernen liegen; doch zunächst mussten unzählige Rechenbeispiele gefunden und übersetzt werden. „Die Aufgaben wurden in Lehrerteams entwickelt, andere haben uns Aufgaben zugeschickt. So hat sich die Plattform weiterentwickelt“, erklärt Amina Kafaï-Afif. Stück für Stück wurden die Module mit Hilfe der Kanadier zusammengesetzt: zu den natürlichen Zahlen, zur Bruchrechnung, zur Berechnung von Flächeninhalten, zu Dezimalzahlen, zwei komplexere Module zu Algebra und Geometrie sollen folgen. Es handele sich um „eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit“, betont die Koordinatorin: Inzwischen seien weitere Länder auf das Projekt aufmerksam geworden, das französische Bildungsministerium unterstützt die Entwicklung der Items, das Lehrertraining und die Evaluation. Mathematic.lu soll im Herbst auf internationalen Bildungskonferenzen vorgestellt werden. Kürzlich hat auch das portugiesische Bildungsministerium Interesse angemeldet.
Derweil wird in den Arbeitsgruppen mit so viel Hochdruck gearbeitet, dass Vretta ein eigenes kleines Team nach Luxemburg entsandt hat. Ansonsten läuft die Kommunikation über Skype und E-Mail. 3,6 Millionen Euro soll die Entwicklung insgesamt kosten. Am Ende, der Vertrag läuft über sechs Jahre, soll eine Mathe-Angebot stehen, das neben dem vierten auch den dritten sowie den unteren Zyklus im Sekundarunterricht abdeckt – und das bei Bedarf flexibel ergänzt und erneuert werden kann.
Das ist viel Geld. Das Ministerium verfolgt mit dem Projekt mehrere Ziele: So ist die Plattform Teil der 2014 ausgerufenen „Digital 4 Education-Strategy“ von Erziehungsminister Claude Meisch (DP), die die Digitalisierung in den Schulen fördern soll. Deshalb ist beispielsweise Technolink von der Stadt Luxemburg mit an Bord. Außerdem verspricht sich das Ministerium positive Auswirkungen auf das, was Bildungsforscherinnen wie Kafaï-Afif und Catalina Lomos vom Luxembourg Institute of Socio-Economic Research „Classroom management“ und „Teacher learning“ nennen: „Das Programm kann dazu beitragen, dass Lehrer ihren Unterricht stärker reflektieren“, so Lomos. Liser wird mathematic.lu in den nächsten Jahren analysierend und evaluierend begleiten.
Dabei geht es nicht um Noten und auch weniger um die digitale Kompetenz der Lehrer. „Das Programm ist einfach zu bedienen“, beruhigt Marc Goerens jene Kollegen, die vielleicht vor einer Teilnahme zurückscheuen, weil sie sich die Computerkenntnisse nicht zutrauen. Vielmehr soll sich mit dem Programm der Matheunterricht an sich verändern: Weil der Lehrer individuelle Informationen zu jedem Schüler bekommt, kann – bei richtiger Diagnose – der Matheunterricht besser an die Bedürfnisse und das Lerntempo des Einzelnen angepasst werden. Die Schüler profitieren im doppelten Sinne: Sie haben Spaß am Rechnen, manche sogar zum ersten Mal – und sie erhalten auf sie zugeschnittene Hilfestellungen. „Die Aufgaben am Computer sind oft cooler als im Buch“, findet jedenfalls Aline, bevor sie sich etwas auf einem Block notiert. Auch das ist möglich: unterschiedliche Medien parallel zu nutzen. „Der Lehrer gewinnt durch das Programm Zeit: Er kann Schwächen und Stärken schneller detektieren und seine Unterstützung zielgenauer ausrichten. Außerdem kann er sich mit Kollegen vernetzen und Vorschläge zur Verbesserung machen“, betont Kafaï-Afif den vernetzenden, evolutiven Charakter.
So jedenfalls die Theorie. Damit das klappt, müssen mehr Lehrer in der pädagogischen Anwendung der Plattform geschult werden, über den technologischen Aspekt hinaus. Im ersten Jahr liegt die Aufmerksamkeit der 15 Mitarbeiter vor allem auf der inhaltlichen Gestaltung und der technologischen Umsetzung der Plattform. „In einem zweiten Schritt wollen wir uns stärker mit der pädagogischen Unterrichtsgestaltung und der Lehrerschulung befassen“, sagt Kafaï-Afif. Ziel ist es, dass Luxemburger Lehrer Kollegen an die Software heranführen – und so ein interaktives Netzwerk von Multiplikatoren entsteht.
Dass Lehrer eines Tages überflüssig werden könnten, wenn Schüler autonom auf dem Handy, Computer oder Tablet ihre Aufgaben machen, ist eine Sorge, die manch einen umtreibt. Sie sei unbegründet, findet Marc Goerens: „Das Programm hilft mir, besser zu verstehen, wo ich einem Schüler helfen muss.“ Oder, wie es Koordinatorin Kafaï-Afif ausdrückt: „Der Lehrer bleibt unentbehrlich: Er ist es, der anhand der Diagnose geeignete Fördermaßnahmen plant.“ Die Befürchtung von Eltern, ihre Kinder könnten zu viel vorm Computer sitzen, teilt die Koordinatorin, die durch ihre Arbeit selbst viel online ist, nicht: „Online-Fertigkeiten gehören zur Grundausbildung. Außerdem ist das Angebot komplementär gedacht.“ Für den dritten Zyklus soll eine schlankere Version entwickelt werden. Offenbar entdecken immer mehr Lehrer das Potenzial: Ob es nicht möglich sei, eine ähnliche Plattform für den Sprachenunterricht zu entwickeln, soll eine Französischlehrerin bei einer Vorstellung des Projekts gefragt haben.