Reform der Gerichtsbarkeit

Oberstes Gericht

d'Lëtzebuerger Land vom 06.07.2012

Vergangene Woche befand das Oberste Gericht der USA, dass es nicht gegen die Verfassung verstößt, 30 Millionen Bürgern den Zugang zu einer Krankenversicherung zu vereinfachen. Präsident Barack Obama feierte dies als seinen größten politischen Triumph seit der Erschießung von Osama Bin Laden. Der für seine republikanischen Überzeugungen ans Oberste Gericht berufene Vorsitzende hatte der demokratischen Reform unter Vorbehalten zugestimmt und ihr so zu einer knappen 5-zu-4-Mehrheit verholfen. In anderen Gegenden der Welt, wo man nicht nur höher entwickelte Ansichten über den Sozialstaat, sondern auch über parlamentarische Demokratie pflegt, sorgt es oft für Kopfschütteln, wenn eine in einem Wahlkampf öffentlich verhandelte, von gewählten Parlamentariern mehrheitlich verabschiedete Reform am Ende vom Gutdünken eines von neun Richtern abhängt.

Zum Glück scheint das nicht jene Form eines Obersten Gerichts, das die Luxemburger Regierung anstrebt. Aber wahr ist, dass im Zuge der Vorbereitungen der geplanten großen Verfassungsrevision Justizminister François Biltgen (CSV) dem zuständigen parlamentarischen Ausschuss Vorschläge der Regierung zustellte, die auf eine weitreichende  Umstrukturierung der Gerichtshierarchie und eben die Schaffung eines Obersten Gerichts abzielen. Außerhalb der Justizkreise weitgehend unbemerkt, schlägt die Regierung vor, sowohl die ordentliche Gerichtsbarkeit wie die Verwaltungsgerichtsbarkeit dem zu einer Cour suprême aufgewerteten Kassa­tions­hof zu unterstellen oder sie gar zu verschmelzen, während der Verfassungshof wieder abgeschafft werden soll.

Dadurch soll es seltener vorkommen, dass in denselben Angelegenheiten verschiedenen Instanzen Gefahr laufen, mit denselben Richtern besetzt zu werden. Auch soll die Rechtsprechung vereinheitlicht, also vermieden werden, dass verschiedene Gerichtsbarkeiten widersprüchliche Urteile fällen. Vielleicht soll die Justiz so sogar schlanker, effizienter und kostengünstiger werden. Gleichzeitig soll auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit eine Kassationsinstanz erhalten, welche das Oberste Gericht übernimmt. Einig ist sich die Regierung noch nicht, ob Entscheidungen von Verwaltungen weiterhin davor geschützt werden sollen, vor Gericht wie privatrecht­liche Streitsachen verhandelt zu werden, oder ob dies gerade wünschenswert ist, da aus liberaler Sicht privatrechtliche und privatwirtschaftliche Verhältnisse die Regel sind und der Staat bloß eine Abweichung davon darstellt.

Die Abschaffung des erst 1996 gegründeten, verschiedentlich wegen seiner schwerfälligen Prozedur und integristischen Textauslegung kritisierten Verfassungshofs soll auch den aktuellen Widerspruch lösen, laut dem ein ordentliches Gericht zwar nicht selbst über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes urteilen darf, sondern das Verfassungsgericht befassen muss, dass es aber eigenmächtig darüber urteilen darf, ob ein Gesetz internationalen Verträgen gehorcht. Dabei stehen internationale Verträge hierzulande in der Rechtsnorm sogar über der Verfassung.
Also soll, wie der Justizminister am 2. Februar dem parlamentarischen Ausschuss der Institutionen und Verfassungsrevision erklärte, „jeder Richter einer Tatsacheninstanz befugt werden, selbst die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes zu untersuchen“. Ob dadurch das Ziel einer einheitlichen Rechtssprechung verfolgt wird, darf bezweifelt werden. Vor allem stellt sich aber die bis zur Vorlage eines Gesetzentwurfs nicht zu klärende Frage, welchen Einfluss die Justiz dadurch direkt oder indirekt auf die Gesetzgebung und damit auf demokratisch legitimierte politische Entscheidungen nehmen kann. Womit man wieder bei der Reform der US-Krankenversicherung wäre – oder dem bei der CSV verhassten Euthanasiegesetz.

Romain Hilgert
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