Anne B. ist Allgemeinmedizinerin in einer Landgemeinde*. 1983 eröffnete sie ihre erste Praxis. „Damals habe ich oft bis 20 Uhr oder länger gearbeitet“, erzählt sie. Oder noch vor Sprechstundenbeginn angefangen: Sieben Jahre lang betrieb sie die Praxis im Haus ihrer Familie. „Da klingelten die Leute einfach, wenn sie mich brauchten. Oder sie kamen schon eine halbe Stunde vor der Öffnungszeit. Sie wussten ja, ich bin da.“ Und „da“ für ihre Patienten sei sie stets gewesen. Allgemeinmedizinerin habe sie immer werden wollen – eine Ärztin für die Leute. „Am Anfang schämte ich mich, dass ich ein Honorar nahm. Du behandelst einen, weil er erkältet ist. Aber mir so eine Kleinigkeit bezahlen zu lassen, damit hatte ich ein Problem.“ An der Universität, erinnert Anne B. sich, „hatte man uns beigebracht, Leistungen unentgeltlich zu erbringen“. Bestimmte Leistungen jedenfalls; Nachtdienste zum Beispiel.
Heute arbeitet Anne B. nicht mehr bis spät in den Abend. Ihre Praxisräume teilt sie sich längst mit einer Kollegin. „Das ist ideal, man kann sich abstimmen.“ Die Kollegin allerdings sei nach wie vor nicht selten bis 20.30 Uhr im Sprechzimmer. „Sie ist etwas jünger als ich.“ Anne B. ist jetzt 59, „und manchmal frage ich mich, wie lange ich noch arbeiten werde. Bis 60 mache ich weiter, habe ich mir vorgenommen. Was danach kommt, muss ich mir noch überlegen“.
Hausärzte, die lange arbeiten, weil es auch spätabends noch Patienten gibt: Das klingt, als hätten all jene Recht, die vor einer Ärzteknappheit warnen, und falls sie jetzt noch nicht bestehe, gegen Ende des Jahrzehnts drohe. Im Juli und August erhielt Gesundheitsministerin Lydia Mutsch (LSAP) dazu drei parlamentarische Anfragen gestellt, aus der Opposition von CSV und ADR, aber auch vom Koalitionspartner DP. Die Antwort der Ministerin war sinngemäß jedes Mal die gleiche: Von Knappheit könne keine Rede sein, denn die Zahl der Allgemeinmediziner sei in den vergangenen zehn Jahren stärker gewachsen als die Bevölkerung, selbst wenn die zuletzt um bis zu 13 000 Einwohner pro Jahr zulegte.
In Medizinerkreisen wird das anders gesehen. Der Differdinger Allgemeinmediziner Germain Wagner hielt Mutsch vor zwei Wochen in einem Artikel im Luxemburger Wort vor, den Überhang der 55- bis 59-Jährigen in der Alterspyramide der Generalisten zu ignorieren. Der besteht in der Tat: Von 441 Allgemeinmedizinern waren im Jahr 2012, so weit reicht die jüngste Statistik zurück, 90 zwischen 55 und 59 Jahre alt. An die 70 Ärzte waren zwischen 60 und 64. „Klar steuern wir auf eine Knappheit zu“, sagt Romain Stein, Präsident des Cercle des médecins-généralistes. Es sei ein Irrtum zu glauben, das Gros der Allgemeinmediziner werde, weil es sich um Freiberufler handelt, noch nach dem 65. Lebensjahr und vielleicht sogar mit 70 noch praktizieren. „Das hat die Generation der in den Zwanzigerjahren Geborenen getan, die Jüngeren wollen das nicht.“ Das Beispiel von Anne B. scheint Steins Argument zu bestätigen.
Und noch etwas dürfe man nicht vergessen, meint der Cercle-Vorsitzende: den zunehmenden Frauenanteil im Beruf. Nahm zwischen 2004 und 2012 die Zahl der männlichen Allgemeinmediziner um 56 zu, wuchs die der weiblichen um 67. Ärztinnen aber brächten es im Schnitt nur auf ungefähr die Hälfte der Arbeitszeit ihrer männlichen Kollegen, „der traditionellen familiären Zwänge“ wegen.
Aber ob das stimmt, ist vielleicht nicht so sicher. Die Statistik der Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) über die Ärzteeinkommen scheint Stein Recht zu geben: 2006, aktuellere Daten gibt es nicht, erzielte eine Allgemeinmedizinerin nach Abzug der Praxisbetriebskosten und vor Steuern und Sozialabgaben nur 62 Prozent der Jahreseinkünfte ihrer männlichen Kollegen – ganz ähnlich wie bei den freiberuflichen Spezialisten der Einkommensunterschied zwischen Männern und Frauen bei 64 Prozent lag. Anne B. meint dennoch, der Zeitaufwand hänge „von der Person ab“. Sie selbst habe sich von Anfang an für jeden Patienten mindestens zwanzig Minuten gegeben, auch wenn dadurch die Arbeitstage lang wurden. „Und meine Praxis-Partnerin arbeitet nach wie vor lange.“ Auch Carole S., Generalistin in der Hauptstadt, berichtet: „Ich habe eine 60-Stunden-Woche.“ Ganz ähnlich wie ihr Praxispartner Romain Z.: „Ich habe es ausgerechnet: Bringt der durchschnittliche Berufstätige es auf hundert Prozent Arbeitszeit, dann sind es bei mir 155 Prozent.“ Keiner von beiden „lebt, um zu arbeiten“. Doch: „Wenn es viele Patienten gibt, kann man nicht nein sagen.“
Leider gibt es, abgesehen von subjektiven Einschätzungen und recht alten Einkommensstatistiken, kaum andere Informationen, um eine für die Gesellschaft so wichtige Frage wie die nach der „Hausarztknappheit“ zu beantworten. Auch die Gesundheitsministerin muss gegenüber dem Land einräumen: „Den taux d’occupation der Generalisten kenne ich nicht.“ Man habe ihn schon in der Vergangenheit zu ermitteln versucht und Daten der CNS mit denen aus dem Gesundheitsministerium „regruppieren“ wollen, doch das sei „sehr schwierig“ gewesen. „Es war nicht möglich, sich mit allen Beteiligten zu einigen, was genau man erheben will und wie.“ Für Klarheit zu sorgen, habe sie sich vorgenommen; dass sich daraus eine Ärzteknappheit für die nahe Zukunft ergeben könnte, glaubt Lydia Mutsch trotzdem nicht. Sie verweist auch auf die 2011 angefertigte landesweite Zufriedenheitsstudie zur „Primärversorgung“. Damals gaben 72 Prozent der Befragten an, „generell zufrieden“ mit den Allgemeinmedizinern zu sein, und 80 Prozent erklärten, sie würden ihren Hausarzt weiterempfehlen. 97 Prozent fanden, ihr Hausarzt nehme sich genug Zeit für sie, und 60 Prozent meinten, frage man einen Termin beim Generalisten an, erhalte man ihn noch am selben Tag. „Würde sich ein Mangel ankündigen, wäre die Zufriedenheit nicht so groß“, ist Mutsch überzeugt.
Der Cercle des médecins-généralistes zielt jedoch noch auf etwas anderes ab, wenn er von drohender Ärzteknappheit spricht. Ginge es nach ihm, würde die Rolle des Hausarztes „aufgewertet“, und nicht nur dessen Rolle, sondern die der Primärversorgung insgesamt. Dazu würden auch Kinderärzte und Allgemein-Internisten gehören, sagt Romain Stein, jene Medizinersparten also, die die erste Anlaufstelle für Patienten sein sollten, ehe die sich womöglich an einen Spezialisten wenden. Stein zitiert aus einem Aufsatz der US-amerikanischen Medizinerin und Professorin für öffentliche Gesundheit Barbara Starfield. In dem 2009 in der Zeitschrift Humanity and Society erschienen Artikel heißt es unter anderem, eine gute Primärversorgung setze voraus, dass man die Bevölkerung nicht über in ihr auftretende Krankheiten erfasst, sondern anhand von Befindlichkeiten, die sehr komplex sein können.
Den Eindruck, dass das sinnvoll sein könnte, erhält man, wenn man mit Generalisten spricht. „Die Fälle haben sich geändert“, findet Carole S., „früher kamen mehr Patienten mit eindeutigen Erkrankungen zu mir, heute begegne ich immer öfter gefühlten Notlagen: Die Leute haben vor irgendetwas Angst. Mit ihnen darüber zu reden, kostet viel Zeit.“
Anne B. erlebt das ähnlich. „Die Probleme werden komplexer. Die Ursache eines Leidens herauszufinden, wird schwieriger.“ Deshalb nehme sie sich, wenn es sein muss, eine Stunde Zeit für einen Patien-ten; mag in einem vollen Wartezimmer dann auch hin und wieder schlechte Stimmung aufkommen.
Was daraus für das Luxemburger Gesundheitswesen folgen soll, ist allerdings eine delikate politische Frage. „Die Primärversorgung ist das Stiefkind des Systems. Auf der Krankenkassen-Quadripartite wird über den Spitalplan gesprochen, aber nicht über Primärversorgung“, trumpft Romain Stein auf. Schon wahr: Die Versorgung ist stark Klinik- und Spezia-listen-zentriert. Das zeigt sich auch daran, dass es laut Statistik hierzulande auf tausend Einwohner drei Ärzte gibt, aber darunter nur 0,9 Generalisten sind.
Daran etwas grundlegend ändern zu wollen, würde jedoch nicht nur verlangen, die Gesundheitsversorgung insgesamt neu zu denken. Was das DP/LSAP/Grünen-Koalitionsprogramm sogar zu versprechen scheint, denn darin wird der Patient „mehr denn je“ ins „Zentrum aller gesundheitspolitischen Bemühungen“ gerückt, und Lydia Mutsch erklärte auf eine der parlamentarischen Anfragen hin, die Rollen sämtlicher Akteure im Gesundheitswesen neu auf-einander abstimmen zu wollen.
Das allein wird schon nicht leicht. Schlichtweg unmöglich ist es dagegen, ins Ärzteangebot planend einzugreifen. Zumindest zurzeit: Jede Approbation eines Mediziners in Luxemburg führt automatisch und obligatorisch zu seiner Bindung an die CNS und macht ihn zum Kassenarzt; die Fachrichtung spielt dabei keine Rolle. Das conventionnement automatique et obligatoire aber ist eines der heikelsten Themen der Gesundheitspolitik. Selbst der Ärzteverband AMMD, der immer mal wieder droht, die Zwangsbindung der Ärzte an die CNS vor Gericht als Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit anzufechten, ist in Wirklichkeit nicht so unzufrieden damit, weil sie jedem Mediziner eine Verdienstmöglichkeit garantiert. Die wichtigsten Verteidiger des Status quo sind indes die Gewerkschaften: Für sie käme jedes Aufweichen des conventionnement einem Schritt hin zu Privatbehandlungen und einer Zwei-Klassen-Medizin gleich.
Deshalb ist es wohl auch kein Ausdruck mangelnder Vorstellungskraft und kein sozialdemokratischer Polit-Allgemeinplatz, wenn Lydia Mutsch gegenüber dem Land erklärt, Primärversorgung sei für sie in erster Linie „der gleichberechtigte Zugang für alle zu einer hochwertigen Versorgung“. Weiter ausführen möchte sie das Thema „derzeit“ nicht. Was man so verstehen kann, dass mit ihr an der Konventionierung nicht gerüttelt werde.
„Rütteln“ will auch der Cercle des médecins-généralistes nicht daran, sondern lieber einen Deal mit Mutsch abschließen. Sieht das Koalitionsprogramm doch vor, Ärzten ihre Approbation in Zukunft nur noch befristet zu erteilen. In regelmäßigen Abständen müsste jeder Mediziner sie sich neu bestätigen lassen und dabei vor allem eine Weiterbildung nachweisen.
„Damit sind wir alle einverstanden“, sagt Cercle-Präsident Stein; das werde „eine Qualitätsgarantie für den Patienten“. Zwar ist bereits heute jeder Arzt „gehalten“ sich weiterzubilden, aber es werde nicht kontrolliert. Wie man das ändern könnte, werde der Cercle der Ministerin vorschlagen, erwarte aber auch eine Gegenleistung. Zum Beispiel eine Besserstellung der Generalisten, was die Honorare betrifft.
Laut IGSS-Statistik sind die Generalisten die Verlierer der liberalen Medizin: 2006 rangierten sie an letzter Stelle der Einkommenstabelle über alle Arztdisziplinen, und mit im Schnitt 135 300 Euro beziehungsweise 84 501 Euro brutto verdiente ein Generalist respektive eine Generalistin jeweils nur knapp halb so viel wie ein Spezialist beziehungsweise eine Spezialistin in jenem Jahr. Keiner der Hausärzte, mit denen das Land gesprochen hat, aber gab an, der Einkünfte wegen viel zu arbeiten. „Wir verdienen genug, wenn ich uns mit den belgischen Kollegen vergleiche, geht es uns gut“, sagt Anne B. Eher fehle es an der ideellen Anerkennung: „Für viele Patienten ist der Hausarzt ein Techniker, der eine Reparatur zu erledigen hat.“ Romain Z. stimmt zu: „Die Ansprüche steigen und die Verbrauchermentalität gegenüber dem Hausarzt wächst.“
Und dann sagen alle drei, dass ein Schritt politisch angebracht wäre: den Hausarzt zum „Gatekeeper“ zu machen, ehe ein Patient sich an einen Spezialisten wendet. So, wie das zum Beispiel in den Niederlanden vor zehn Jahren eine große Gesundheitsreform durchsetzte. „Es wäre für den Patienten besser, der mitunter von einem Spezialisten zum nächsten läuft und überall weggeschickt wird, weil sich keine Diagnose stellen lässt“, meint Carole B. „Natürlich würde dabei die CNS sparen“, ergänzt Romain Z. „Es würde dem Hausarzt erlauben, einen umfassenden Überblick über seine Patienten bekommen, und seine Rolle aufwerten“, meint Anne B. Doch wie die Dinge liegen, stünde einem solchen Schritt schon ein Hindernis im Wege: Um als Gatekeeper zu fungieren, gibt es in Luxemburg mit großer Wahrscheinlichkeit schon heute nicht genug Generalisten.