Drei Wochen vor den Landeswahlen vergangenes Jahr hatte der Escher Verlag Schortgen die Memoiren der ehemaligen Abgeordneten Astrid Lulling veröffentlicht: Mein Leben als Frau in der Politik. Autobiographie. Darin erzählt sie vom sozialen Aufstieg eines Arbeitermädchens auf Kosten des Aufstiegs der Arbeiterklasse unter Zuhilfenahme von LAV und LSAP, später SdP und CSV (d’Land, 28.9.2018). Nun erschienen als eine Art Fortsetzungsband mit der gleichen Mischung aus Selbstbeweihräucherung, Rechtfertigung und Abrechnung die Memoiren eines ehemaligen LSAP-Politikers der nächsten Generation: René Kollwelter, Voyage au bout des jours. Bribes de la vie de Nicolas.
René Kollwelter nennt seine in Anspielung auf Céline überschriebenen Erinnerungen eine Autofiction (S. 11), da er sich selbst in der dritten Person „Nicolas“ nennt, wie sein Vater; alle anderen Personen kommen nur mit Vornamen und Initialen vor. Aber in Wirklichkeit ist es ein Schelmenroman, der Bericht eines Picaros im Dreißigjährigen Krieg nach dem Ende der Goldenen Dreißiger, der sich mit Bauernschläue durchs Leben schlägt, nicht als Landsknecht, sondern als Berufspolitiker, was das Gleiche ist. Der gattungskonform damit prahlt, dass er 1984 die Femmes socialistes „au top de ses attributs physiques“ beeindruckte (S. 72), der immer wieder den Kopf aus der Schlinge zieht, stets aufs eigene Überleben bedacht, die Welt und vor allem seine Partei für einen Selbstbedienungsladen hält.
René Kollwelter kam vor 70 Jahren als Sohn des CSV-Abgeordneten und Stadtrats Nicolas Kollwelter zur Welt. Die Sozialisation in der Aufbruchstimmung der Sechzigerjahre hätte ihn also zum Linkskatholiken bestimmt wie seinen als Präsident der Asti bekannt gewordenen Bruder Serge. Aber sein radikaler Hedonismus eignete sich nicht zum politischen Pfadfindertum. So landete der Eisenbahnersohn aus dem Arbeiterviertel Weimerskirch bei der LSAP. Der tiefkatholisch Erzogene wurde schließlich antiklerikal (S. 142), fast wie sein Vater, der sich in der CSV gegen die Absichten von Luxemburger-Wort-Direktor André Heiderscheid gesträubt hatte, bei den Parlamentswahlen zu kandidieren (S. 175).
René Kollwelter studierte französische Literatur und war einer der Sprecher der Lehramtskandidaten, die öffentlichkeitswirksam für eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen stritten. Vor allem aber war er ein bekannter Fußballspieler und trug den Namen eines Abgeordneten und Stadtrats. Das versprach einer Partei Stimmen. Deshalb bewog ihn 1977 der Schatzmeister des FC Avenir Beggen und gleichzeitig Präsident der LSAP-Sektion Al Gemeng Eech, in die Partei einzutreten.
Schon zwei Jahre später, am Ende der DP/LSAP-Koalition, durfte René Kollwelter einspringen, als Jean Gremling von der Kandidatenliste gestrichen wurde. Wurde er damit auch zum Brutus? Als Präsident Robert Krieps 1984 den Zweitgewählten René Hengel nicht in der Regierung wollte, sei „Appatatschik“ Robert Goebbels als „Brutus“ in die Regierung gekommen (S. 203). Oder wie 1989, als René Kollwelter zusammen mit Raymond Becker, Lucien Lux und Marc Zanussi dagegen komplottierte, dass Ex-Minister Benny Berg das Parlamentsmandat von Maurice Thoss übernehmen konnte (S. 203)? Mitleid empfindet er für den anderen gescheiterten Gesundheitsminister der LSAP, Johny Lahure, dessen sich die Parteiführung nach den „Dysfunktionen“ in seinem Ministerium entledigt habe wie eines tollwütigen Hunds (S. 276). Die Ironie der Geschichte will, dass René Kollwelter nicht nur den Listenplatz, sondern auch die politische Funktion von Jean Gremling übernehmen sollte. Der antiklerikale Anwalt und Rechtsberater des Zwangsrekrutiertenverbands hatte mit seiner Selbstdarstellungskunst wiederholt die knappe Parlamentsmehrheit der DP/LSAP-Koalition in Gefahr gebracht.
Die LSAP, deren Stimmenanteil von Wahl zu Wahl zurückzugehen begann, während der Stahlkrise aber immer wieder in der Regierung gebraucht wurde, um die sozialen Kämpfe ins Parlament zu verlagern, ist, wie andere Parteien auch, eine feudale Lehnsherrin: Sie schickt Stimmenfänger in den Wahlkampf, belohnt sie nach der gewonnenen Schlacht mit Lehen in der Regierung, im Staatsrat oder in öffentlichen Einrichtungen. In einer linksliberal gewordenen Partei spielt die politische Überzeugung weniger denn je eine Rolle. Sie nimmt alle Kapriolen und Purzelbäume hin, solange die Zahl der persönlichen Stimmen stimmt. Das „personenbezogene Wahlsystem“ trägt das Seine dazu bei, über das Astrid Lulling schrieb: „Ich verdanke diesem System meine Wiederwahl in der LSAP 1968, in der SdP 1974 und 1979 sowie in der CSV von 1984 bis 2009“ (S. 107). René Kollwelter zitiert Mao, laut dem man stets auf seine eigene Kraft zählen soll (S. 19).
René Kollwelter war von 1984 bis 1999 Zentrumsabgeordneter, von 1989 bis 1991 Mitglied des Europarats, aber auch ab 1981 Stadtrat und ist bis heute Staatsrat. Obwohl er sich immer wieder vorwerfen lassen musste, eher aus der Provence zu Besuch zu kommen, als regelmäßig an Sitzungen teilzunehmen. In seinen Memoiren beschreibt er Berufspolitik nicht als Dienst an der Allgemeinheit oder seiner Wählerschaft, sondern als eine Beschäftigung wie andere auch, deren Ziel es ist, über Wahlgänge hinaus Ämter, Einkommen und Ansehen zu sichern und zu vergrößern. Aus dem Parlament erzählt er vor allem Anekdoten, Stilblüten und verspätete Studentenstreiche. Die LSAP-Wähler aus oft einfachen Verhältnissen kommen so gut wie gar nicht vor. Kein Wunder, dass sie ADR zu wählen begannen.
René Kollwelter machte stets seinen eigenen Wahlkampf und wusste, sich im Geist der Zeit zu bewegen, die Parteiführung mit linken Kapriolen zu ärgern. Als die Stahlkrise ihren zweiten Höhepunkt erlebte, veröffentlichte er zusammen mit dem Mathematiklehrer Dulli Frühauf und unter Mitarbeit von François Bausch, Claude Hemmer, Raymond Wagener, Claude Wehenkel, Nico Wennmacher und anderen 1983 Le nouveau modèle luxembourgeois. Manifeste pour une sidérurgie nationalisée, moteur d’une nouvelle politique industrielle. Der Eigenverlag hieß Éditions le Maisnil nach dem Namen seines Landhauses bei Aix-en-Provence: Er schien schon bereit, am Kampf der Stahlarbeiter teilzunehmen, aber lieber im Schatten der Platanen. Im gleichen Jahr wurde die grüne Partei gegründet und nahm 1984 erstmals an Wahlen teil. Da veröffentlichte er zusammen mit Dulli Frühauf bei RTL einen aufwändig gestalteten Umweltatlas für Luxemburg und wurde ins Parlament gewählt.
Seine Spezialität war es aber, einige Monate vor jedem Wahlgang eine Bürgerinitiative zu gründen, die ihm weit mehr Aufmerksamkeit in der Presse einbrachte als seinen entsprechend wütenden Parteikollegen. 1983 war es Gratis parken um Glacis, die er im Wahlkampf für äußerst nützlich hielt (S. 202), auch wenn er zur Sicherheit 1984 noch Esou keen neit Loyersgesetz nachlegte. Es folgten die Biergerinitiativ Bambësch und die Motorradinitiativ. Im Jahr der Gemeindewahlen 2005 gründete er dann Kockelarena für ein Fußball- und Leichtathletikstadion samt Velodrom. Vor den Kammerwahlen 1994 gründete er Génération 21, die er vor den Europawahlen 2009 als Générations Europe.lu 2008 wiederbelebte. Er beschloss, „de se dédouaner de l’emprise du parti et de faire sa propre campagne en parallèle, sans préempter celle du LSAP, à l’instar de la tête de liste qui faisait également sa propre campagne, mais sur les budgets du parti“ (S. 248). Trotzdem landete er hinter Robert Goebbels als Ersatzabgeordneter. Im April 2009 habe Goebbels während einer Versammlung in Kleinbettingen versprochen, nach zwei Jahren einem Jüngeren Platz zu machen. Aber Goebbels habe es sich anders überlegt und wollte schon gar nicht Kollwelter seinen Platz überlassen.
1995 eröffnete der LSAP-Abgeordnete dann mit seiner Ehefrau und seiner Mutter eine von Bekannten aus Luxemburg besuchte Herberge in Éguilles bei Aix. Nachdem er 1999 nicht mehr kandidiert hatte, richtete ihm die Regierung einen maßgeschneiderten Posten an der von der Europäischen Union geförderten École de la deuxième chance in Marseille ein. So wollte er seine politische Karriere beenden, weil ihn der „coup de poignard dans le dos“ (S. 53) seiner Freunde angewidert habe
(S. 18), als er sich nach den Wahlen 1994 in der LSAP-Fraktion übergangen fühlte.
Er brach sogar die Beziehungen zu seinem Freund, Fraktionspräsident Jeannot Krecké, ab, bis die neue DP-Erziehungsministerin Anne Brasseur (DP) sich nicht an das LSAP-Lehen gebunden fühlte und die Entsendung beendete. Da suchte er Krecké wieder auf, der die Ministerin umstimmen sollte. Aber der Fraktionschef wollte keinen Finger krumm machen, obwohl er in Kollwelters Armen geweint habe, als ein Unfall seine Sportlerlaufbahn beendete, und Kollwelter ihm geraten hatte, sich umzuorientieren und Politik zu machen (S. 22). Nebenbei wirft er Krecké vor, dem Baulöwen Flavio Becca zu nahe gestanden zu haben (S. 207).
Als die Regierung seine Entsendung zur École de la deuxième chance in Marseille beendete, kehrte René Kollwelter nach Luxemburg zurück und „cherchait un point de chute lui permettant d’avoir une occupation à Luxembourg et de continuer à avoir un maximum de présence en Provence“ (S. 225). Also bearbeitete er, der 1999 seine politische Laufbahn beendet hatte, die Mitglieder des Generalrats der LSAP einzeln, um sich gegen sieben andere Bewerber durchzusetzen und den „point de chute“ von Claude Bicheler im Staatsrat zu übernehmen, dem er bis heute angehört.
Allerdings vergaß er, einen Teil seiner Staatsratsdiäten vorschriftsmäßig an die Partei abzuführen. Aber das sei auch anderen Mandatsträgern vorgekommen. Außerdem habe er erfahren, dass die LSAP-Fraktion 100 000 Euro während der Finanzkrise verspekuliert habe und der Präsident und der Generalsekretär heimlich eine monatliche Entschädigung bezögen (S. 246).
Als Gemeinderat René Kollwelter dann bei den Gemeindewahlen von 2011 für die Hinterlegung der Kandidatenliste von déi Lénk bürgte, beschloss das Direktionskomitee der LSAP endlich seinen Parteiausschluss. Offenbar hatte er nicht nur 30 Jahre lange von der Partei profitiert, sondern sie auch von ihm. „Peu après, n’étant plus membre du LSAP, il a complètement arrêté les versements des contributions” (S. 257).