Die Sozialdemokratie kann es sich nicht leisten, politisch zu räsonieren, selbst wenn sie dazu imstande wäre. Deshalb haben ihre entscheidenden Kongresse eine therapeutische Funktion. Am Dienstagabend saßen 348 Delegierte und 31 Ersatzdelegierte in Strassen zusammen und hatten wieder das von 2009 und 2013 bekannte ungute Gefühl, dass sie erneut die Wahlen verloren hatten, aber froh waren, noch einmal dabei zu sein.
Also durften anderthalb Dutzend Delegierte im Fünfminutentakt alle Verantwortung auf die Parteiführung schieben, die das geduldig über sich ergehen ließ und zur Belohnung dann mit 95 Prozent der Stimmen wieder in die Regierung gewählt wurde. Um keine Risiken einzugehen, war Jean Asselborn zufällig wieder der letzte eingeschriebene Redner, der vor der Abstimmung noch einmal auf die Gefühlsdrüsen drückte, und Präsident Claude Haagen versprach für nächsten Monat zeitgleich mit dem Erneuerungskongress der CSV einen LSAP-Kongress, um wenigstens die Parteispitze zu erneuern.
Weil sie sich der Unhaltbarkeit ihrer Positionen bewusst waren, störten sich die Delegierten an der Form. Der ehemalige Gewerkschafter Mario Castegnaro kündigte an, sich bei der Abstimmung zu enthalten, weil der Kongress so kurzfristig einberufen worden sei, dass die Zeit gefehlt habe, das Koalitionsabkommen in den Sektionen zu diskutieren.
Andere beanstandeten die Ressortverteilung. Max Lehners von den Jungsozialisten bedauerte, dass die LSAP-Minister für keine der im Wahlkampf dominierenden Schlüsselthemen Wohnen, Bildung und Mobilität zuständig seien. Einige warnten, man dürfe Modethemen wie Nachhaltigkeit und Klimawandel nicht den Grünen überlassen. Der Rümelinger Bürgermeister Henri Haine bedauerte, dass der Wirtschaftsminister das Energieressort abgegeben habe.
Nach der erneuten Wahlniederlage forderte wieder jeder eine Erneuerung. Gemeint war, dass die Jungsozialisten endlich mit Schärpen und Dienstwagen Altsozialisten werden dürfen. Pascal Hansen beschwerte sich über jene, die „seit 35 Jahren in der ersten Reihe“ seien, gemeint waren die Di Bartolomeo, Bodry, Asselborn, und forderte, nach der Wahlniederlage, „personelle Konsequenzen zu ziehen“. Amir Vesali hielt es für nötig, dass „neue, junge Leute“ in die Regierung kämen. Dass Vizepremier Etienne Schneider noch während der Koalitionsverhandlungen abspringen und EU-Kommissar werden wollte, war verziehen.
Auch die wortgewaltigsten Kritiker wussten nicht politisch, sondern bloß taktisch zu argumentieren: Wie gewinnt die Partei nächstes Mal wieder ein Mandat hinzu? Gibt es etwas wie eine „Oppositionskur“, oder ist das eine Erfindung ahnungsloser Leitartikler? Georges Sold, Juso-Vorsitzender nach dem Rücktritt von Jimmy Skenderovic, stellte „Etiennes Glaubwürdigkeit“ in Frage, weil der Spitzenkandidat vor den Wahlen den Jungsozialisten „bei einer Pizza“ erklärt hatte, dass die Partei beim Verlust eines weiteren Mandats in die Opposition gehe. Auch Fraktionssprecher Alex Bodry habe sich ähnlich geäußert.
Aber „die Oppositionsbänke haben keine magische Aura“, die eine Partei erneuere, meinte Patrick Weymerskirch. Der ehemalige Wirtschaftsminister Robert Goebbels wies auf das abschreckende Beispiel der CSV hin, der es in der Opposition nicht gelungen sei, sich zu erneuern. Deshalb gebe es zum Regierungseintritt wieder „keine Alternative“.
Das sahen auch die Delegierten so, in der antiklerikalen Version des kleineren Übels. Danielle Kies aus Contern rechnete es der liberalen Koalition hoch an, dass sie „die CSV auf den Platz gesetzt hat, wo sie hingehört“. Der zum linken Gewerkschaftsflügel zählende Nando Pasqualoni fühlte sich zwar vom Kongresstermin überrumpelt, er wollte aber nicht zusehen, dass ohne LSAP eine CSV/DP-Koalition „den Sozialstaat durchlöchert“. Der Escher Stadtrat Mike Hansen erinnerte daran, dass auch Gründervater Michel Welter seinerzeit in einer antiklerikalen Koalition mit den Liberalen Fortschrittliches bewirkt habe. Deshalb sei es „die verdammte historische Pflicht, die Pfaffen wieder in die Opposition zu schicken“.
Außenminister Jean Asselborn fragte die Jungsozialisten, ob die Partei vielleicht irgendeines ihrer Wahlversprechen besser durchsetzen könne, wenn sie in die Opposition sei. Dann konnte abgestimmt werden.