Wie kann es mit einer Partei, die es doch nur gut meint, seit 30 Jahren bergab gehen? Über diese Frage zerbricht sich die LSAP seit 30 Jahren erfolglos den Kopf. Deshalb hieß der ordentliche LSAP-Kongress am Dienstagabend in Niederkerschen wieder einen mit „Place au Renouveau Socialiste“ überschriebenen Entschließungsantrag gut, damit die Partei der Frage fünf weitere Jahre ohne Tabu und in einer breiten Beratschlagung nachgeht.
Denn wenn die Parteiführung ratlos ist und die Verantwortung für die Niederlagen teilen will, dann verspricht sie plötzlich sogar, auf die Mitglieder zu hören, Umfragen zu veranstalten und Diskussionsforen einzurichten, um Dampf abzulassen. Und die nicht minder ratlosen Mitglieder verlangen in Entschließungsanträgen, Kongressinterventionen und offenen Briefen niemals ausreichend breite Diskussionen, um zu vertuschen, dass ihnen auch nichts einfällt.
Selbstverständlich war die Partei in all den Jahren nicht tatenlos. Die Mitglieder machten regelmäßig die Parteiführung für die Wahlniederlagen verantwortlich, so dass statt der Politik die Parteiführung unter dem Schlagwort der Erneuerung in größeren Abständen erneuert wurde. So auch am Dienstag.
Doch bevor es so weit war, rechtfertigte sich der Parteiapparat, dass er nicht oder nicht alleine für die Wahlniederlagen verantwortlich war. Der scheidende Generalsekretär Yves Cruchten wies Vorwürfe zurück, dass die Führung die Partei nicht genug erneuert habe. Schließlich habe sie nach dem Desaster der Europawahlen 2014 ein Programm zur Verbesserung der Kommunikation und Diskussion innerhalb der Partei umgesetzt, eine Satzungsänderung und die Verabschiedung des Sozialistischen Leitfadens organisiert, des langfristigen linken Trostes für alle kurzfristigen rechten Kompromisse.
Auch der scheidende Parteipräsident Claude Haagen schien die Nase voll zu haben von all den Nörglern und Briefeschreibern, die nie zu Versammlungen kommen: „In unserer Partei wird jeder eigebunden, wenn er sich denn einbinden lässt.“ Kritik sei gut, konstruktive Kritik sei besser und Mitarbeiten sei eben das Beste.
Yves Cruchten forderte die Basis auf, „nicht alles nachzuplappern, was andere über uns sagen“. Denn welche Botschaft vermittle die LSAP nach außen, wenn sie ständig über Erneuerung diskutiere, wenn parteikritische Briefe in den Zeitungen veröffentlicht würden? „Wer soll an uns glauben, wenn wir nicht als erste an uns selbst glauben?“, wunderte er sich. Manchmal müsse man sogar glauben, dass es „zwei sozialistische Parteien“ gebe. Ohnehin hätten es „die Sozialisten in Europa und in Luxemburg immer schwerer, ihre Ideen an die Leute zu bringen“, bat Claude Haagen um Nachsicht.
Yves Cruchten bedauerte auch „einzelne Aussagen von Parteimitgliedern vor den Wahlen“. Er musste eingestehen, dass es dem Parteiapparat nicht gelungen sei, die Parteibasis für den Wahlkampf zu mobilisieren, auch unter dem defätistischen Eindruck der Ergebnisse bei den Europa- und Gemeindewahlen sowie der Meinungsumfragen. Bezirksvorsitzende Simone Asselborn-Bintz habe im Südbezirk „den Sektionen nachlaufen müssen, um während der Wahlkampagne eine Versammlung oder irgendeine andere Aktivität zu organisieren“. Aus der Partei „hätte unser Spitzenkandidat auch mehr Unterstützung verdient gehabt“. Parteifunktionär Alex Fohl befürchtete, dass in einer chaotisch begonnenen Wahlkampagne die Wahllosung „Zusammen“ nur den Streit innerhalb der Partei vertuschen sollte.
Der Abgeordnete Franz Fayot musste beipflichten, dass die Mitglieder nicht mehr zu den Bezirksversammlungen kämen, wichtige Arbeitsgruppen wiederbelebt werden müssten. Es sei „nicht gelungen, konsequent neue Leute aufzubauen und an die Partei zu binden“, etwa Frauen, Junge und Ausländer. Ohne die Minister Etienne Schneider und Nicols Schmit zu nennen, kritisierte er, dass die Mandatsträger „zu sehr mit sich selbst beschäftigt“ gewesen seien, damit, „welche neue Funktion, welchen neuen Posten man bekommen kann oder will“.
Seit Jahrzehnten wird der Parteivorsitz der sozialistischen Arbeiterpartei abwechselnd von Rechtsanwälten und Studienräten gestellt. Nach dem Studienrat, dem immer etwas zu großen Claude Haagen, wirkt der Rechtsanwalt Franz Fayot trotz seiner bald 47 Jahre noch immer jungenhaft schüchtern. Er hatte im Januar 2018 einen offenen Brief „D’LSAP nei denken! D’LSAP nei opstellen!“ mitunterzeichnet, in dem Nachwuchspolitiker kaum verblümt beanspruchten, dass es nun endlich an den Vierzigjährigen sei, die Dienstwagen, Parlaments- und Regierungssessel der Asselborn, Di Bartolomeo und Bodry zu übernehmen. Ein Jahr später bewarb er sich nun als einziger in dem neuen Kulturzentrum Käerjenger Treff um den Parteivorsitz und begann seine Ansprache gleich mit diesem Brief.
Denn das machte den Briefeschreiber zum idealen Kandidaten, von dem die CSV nur träumen kann: Er vermittelte als junger Erneuerer Aufbruchstimmung und gleichzeitig doch Sicherheit, weil er zum alten Parteiadel gehört und 2013 das Parlamentsmandat seines Vaters, selbst einmal Parteipräsident, geerbt hatte. Aber die zwölf Prozent Delegierten, die gegen ihn stimmten, lehnten den Geschäftsanwalt vielleicht nicht nur als Zentrumsnotabeln ab – „ich komme aus der Hauptstadt, nobody is perfect“ –, sondern vielleicht auch wegen dieses Briefs als einen der Nestbeschmutzer. Mit 96 Prozent der Stimmen schnitt der OGBL-Funktionär und Roeser Bürgermeister Tom Jungen als neuer Generalsekretär besser ab, aber das kam schon öfter vor.
So wie die Partei von LS@P bis Jeremy Rifkin der Mode des digitalen Neoliberalismus nachgelaufen war, scheint Franz Fayot in Zeiten von France insoumise, Jeremy Corbin und Podemos Kapitalismuskritik für angebracht zu halten. Weil der „Kapitalismus gegen die Natur und der Kapitalismus gegen den Menschen“ gerichtet sei, sei die LSAP „gegen den Kapitalismus als Gesellschaftssystem, aber für Marktwirtschaft“. Denn „wir wollen keine Marktgesellschaft, sondern bloß eine Marktwirtschaft, dort wo es möglich und sinnvoll ist“.
Am gleichen Tag hatten die Grünen im Europaparlament eine Studie veröffentlicht, laut der dank 30 Jahren Regierungsbeteiligung der LSAP die tatsächliche Unternehmensbesteuerung nirgendwo in der Europäischen Union so niedrig sei wie in Luxemburg. Franz Fayot wollte sich „nicht mit einer Welt abfinden, wo 26 Reiche so viel besitzen wie die Hälfte der Menschheit“. Auch wenn sie vielleicht mit den Krümeln ihrer Family Office den kostenlosen öffentlichen Transport hierzulande finanzieren.
Yves Cruchten hatte den Parteitagsdelegierten den bald kostenlosen öffentlichen Transport, die hohen Löhne, den automatischen Index und die vorbildhafte Gesundheitsversorgung aufgezählt, so als sei dank der LSAP der sozialdemokratische Traum vom rheinischen oder skandinavischen Kapitalismus in Luxemburg Wirklichkeit geworden. Doch „statt diese Politik zu verteidigen, lamentieren viele und finden immer noch ein Haar in der Suppe“.
Damit das aufhört, versprach Franz Fayot als wichtigste Aufgaben „das Besetzen und Vertiefen eines Themenkatalogs, politischer Themenfelder“, den „konsequenten Aufbau politischer Talente“ und eine „effiziente Verwaltung der Strukturen“ in der Partei, wozu auch „neue Formen zum Diskutieren“ gehörten. Die Partei müsse trotz der Regierungsbeteiligung eine eigene Identität bewahren, die Diversität fördern, offen, transparent und inklusive werden. „Wir Sozialisten müssen unserem historischen Auftrag wieder gerecht werden, dass jeder in der Gesellschaft zumindest eine faire und gerechte Chance erhält“, verlangte Franz Fayot statt fairer und gerechter Mittel.
Womit noch immer niemand wusste, wieso es mit der LSAP, die es doch nur gut meint, seit 30 Jahren bergab geht, obwohl sogar „sozialistische Themen“ im Koalitionsprogramm zu erkennen seien. Und „Themen wie soziale Gerechtigkeit, Toleranz, Verteidigung von Minderheiten, Einsatz für den Anderen, den Schwächeren, sind die nicht moderner denn je?“, fragte Yves Cruchten. Solidarität bleibe immer modern. „Unsere Ideen waren nie so aktuell wie heute!“, meinte der abtretende Sekretär einer Partei, die nichts mehr fürchtet, als altmodisch auszusehen.
Während die fast 350 Delegierten durch die großen Fenster des Käerjenger Treff zusahen, wie sich eine Schneedecke auf den Parkplatz und ihre vielen Audis und BMW legte, versuchte Franz Fayot sie wachzurütteln: Die nächsten fünf Jahre stellten „vielleicht die letzte Chance dar, um die Partei wieder in Schwung zu bringen, um weiterhin eine bestimmende politische Kraft zu sein und Wahlen zu gewinnen“. Manche wollten ihm glauben, wie die 44 Kandidaten für die zehn Posten im Parteivorstand. Aber ein Ruf, auch die Mandatsträger zu ersetzen, war nicht mehr zu hören, der linke Flügel, der einst wieder mehr Gewerkschaftsnähe geforderte hatte, hatte sich ausgeklinkt, die Jungsozialisten hatten sich beruhigt, und der einstige Retter der Partei und Star der antiklerikalen Koalition, Etienne Schneider, saß stumm herum, als wollte die Partei, die ihm nie richtig traute, nun ohne ihn klarkommen.
Aber vielleicht löst sich das Paradox von der guten Politik und den schlechten Wahlresultaten ganz einfach mit einer anderen Frage: Weshalb kann eine Partei, mit der es ständig bergab geht, ständig der Regierung angehören? Möglicherweise kennen sogar einige Apparatschiks die Antwort und verraten sie bloß nicht den Mitgliedern.